Im verschwommenen Schein der Gaslaterne an der Ecke der Rue de la FemmesansTete sah er, daß die Frau troff, daß ihr Kleid am Leibe klebte in der Sintflut, die gegen die Tür brandete. Mitleid überkam ihn: hatte er doch an einem Gewitterabend schon mal einen Hund auf einem Bürgersteig aufgelesen! Aber es ärgerte ihn, daß er weich wurde. Niemals nahm er eine Dirne zu sich mit nach Hause, er behandelte alle, als seien sie für ihn nicht vorhanden, war ihnen gegenüber von einer leidenden Schüchternheit, die er hinter der Grobheit, mit der er prahlte, zu verbergen suchte; und diese hier hielt ihn wirklich für zu dumm, daß sie ihn so ankobern wollte mit ihrer Schmierengeschichte. Doch schließlich sagte er:
»Nun langt’s, gehen wir nach oben … Sie können bei mir schlafen.«
Sie war noch verstörter, sie sträubte sich:
»Bei Ihnen, o mein Gott! Nein, nein, das geht doch nicht … Ich bitte Sie, mein Herr, bringen Sie mich nach Passy, ich flehe Sie an.«
Da brauste er auf. Warum dieses Getue, wo er sie doch mitnahm? Schon zweimal hatte er an der Klingelschnur gezogen.
Endlich gab die Tür nach, und er schob die Unbekannte ins Haus.
»Nein, nein, mein Herr, ich sage doch, nein …« Aber ein Blitz blendete sie wiederum, und als der Donner krachte, ging sie plötzlich fassungslos hinein. Die schwere Tür hatte sich wieder geschlossen, sie stand in völliger Dunkelheit in einer geräumigen Toreinfahrt.
»Madame Joseph, ich bin’s!« rief Claude der Concierge4 zu. Und mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Geben Sie mir die Hand, wir müssen über den Hof gehen.«
Sie gab ihm die Hand, sie leistete keinen Widerstand mehr, war benommen, völlig willenlos.
Abermals mußten sie unter dem sintflutartigen Regen hindurch, und sie rannten ungestüm nebeneinanderher. Es war ein riesiger hochherrschaftlicher Hof mit im Dunkel verschwimmenden steinernen Bogengängen. Dann kamen sie in einen überaus engen Hausflur ohne Tür, und er ließ ihre Hand los; sie hörte, wie er fluchend Streichhölzer anrieb. Alle waren feucht geworden, man mußte im Finstern tappend nach oben gehen. »Halten Sie sich am Geländer fest, und passen Sie auf, die Stufen sind hoch.«
Die sehr schmale Treppe, eine frühere Dienstbotentreppe, führte über drei übermäßig hohe Stockwerke, die die junge Frau stolpernd mit ungeschickten und wie zerschlagenen Beinen erklomm. Dann machte er sie darauf aufmerksam, daß sie einen langen Korridor entlanggehen müßten; und sie bog hinter ihm in den Korridor ein, streifte mit beiden Händen tastend die Wände, während sie endlos in diesem Gang dahinging, der zur zum Quai gelegenen Fassade zurückführte. Dann kam wiederum eine Treppe, aber danach ganz oben ein Treppenstück aus knarrenden Holzstufen, die kein Geländer hatten, wackelig waren und steil wie die grob behauenen Sprossen einer Müllerleiter. Oben war der Treppenabsatz so klein, daß sie gegen den jungen Mann stieß, der gerade seine Schlüssel suchte. Endlich schloß er auf.
»Kommen Sie noch nicht rein, warten Sie, sonst stoßen Sie sich noch mal.«
Sie rührte sich nicht. Sie keuchte, ihr Herz klopfte, ihre Ohren summten, sie war ganz erledigt von diesem Treppensteigen im Stockdunkeln. Ihr war, als steige sie schon seit Stunden Treppen hoch, inmitten eines solchen Wirrwarrs, einer solchen Verschachtelung der Treppen und Biegungen, aus der sie niemals wieder hinunterfinden würde. Im Atelier gingen schwere Schritte, streiften Hände die Möbel, irgend etwas polterte herunter, es wurde dumpf dazu geschimpft. Die Tür wurde hell.
»Kommen Sie rein, es ist soweit.«
Sie trat ein, schaute sich um, ohne etwas zu sehen. Die einzige Kerze schimmerte blaß auf diesem fünf Meter hohen Dachboden, der mit einem Durcheinander von Gegenständen angefüllt war, deren große Schatten sich bizarr von den grau getünchten Wänden abhoben. Sie konnte nichts erkennen, sie blickte hoch zum Oberlicht, gegen das der Regen mit dumpfem Trommelwirbel prasselte. Aber gerade in diesem Augenblick umglutete ein Blitz den Himmel, und der Donnerschlag folgte so dicht darauf, daß das Dach aufzureißen schien. Stumm, kreidebleich, ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.
»Verflixt!« murmelte Claude, der ebenfalls ein wenig blaß geworden war.
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