Claude traf Sandoz in seinem Zimmer an, er saß über seinen Tisch gebeugt und in Gedanken versunken vor einem beschriebenen Blatt Papier.
»Störe ich?«
»Nein, ich arbeite seit heute früh, mir langt’s … Stell dir vor, seit nun schon einer Stunde rackere ich mich damit ab, einen schlecht gebauten Satz zurechtzubügeln, über den ich mich schon beim Mittagessen geärgert habe.«
Der Maler machte eine Gebärde der Verzweiflung; und als Sandoz ihn in so düsterer Stimmung sah, begriff er.
»Na, bei dir geht’s wohl nicht … Gehen wir raus. Ein tüchtiger Spaziergang, um uns ein bißchen die Beine zu vertreten, nicht wahr?«
Aber als er an der Küche vorbeikam, hielt ihn eine alte Dame auf. Das war seine Aufwartefrau, die gewöhnlich zwei Stunden abends und zwei Stunden vormittags kam; nur am Donnerstag blieb sie den ganzen Nachmittag, wegen des Abendessens.
»Also«, fragte sie, »es bleibt doch dabei, Herr Sandoz, Rochen und eine Hammelkeule mit Kartoffeln?«
»Ja, wenn es Ihnen recht ist.«
»Und wie viele Gedecke soll ich auflegen?«
»Ach ja, das weiß man nie … Legen Sie immerhin fünf Gedecke auf, dann werden wir ja sehen. Um sieben Uhr, nicht wahr? Wir werden uns Mühe geben, zur Zeit zurück zu sein.«
Dann schlüpfte er, während Claude auf dem Treppenflur wartete, für einen Augenblick zu seiner Mutter hinein; und als er mit der gleichen behutsamen, zärtlichen Bewegung wieder herauskam, gingen sie beide schweigend nach unten. Nachdem er draußen nach links und nach rechts geschnuppert hatte, wie um Witterung zu nehmen, schritten sie schließlich die Straße hinunter, gerieten auf den Place de l’Observatoire und bogen in den Boulevard du Montparnasse ein. Das war ihr üblicher Spaziergang; sie kamen immer hier heraus, weil sie dieses breite SichEntrollen der äußeren Boulevards liebten, auf denen sie nach Herzenslust bummelnd umherschweiften. Sie sprachen immer noch nicht, hatten noch einen schweren Kopf, nach und nach heiterte ihr Zusammensein sie auf. Vor dem Gare de l’Ouest34 aber kam Sandoz ein Einfall.
»Wie wär’s, wenn wir zu Mahoudeau gingen, um mal nachzusehen, wie weit der mit seinem großen Dings ist? Ich weiß, daß der für heute seine Heiligenbilder an den Nagel gehängt hat.«
»Einverstanden«, antwortete Claude. »Gehen wir zu Mahoudeau.«
Sie gingen sofort in die Rue du ChercheMidi. Der Bildhauer Mahoudeau hatte ein paar Schritte vom Boulevard du Montparnasse den Laden eines bankrott gegangenen Obsthändlers gemietet; da hatte er sich eingerichtet und sich damit begnügt, die Fensterscheiben mit einer Schicht Kreide zu beschmieren. An dieser breiten und menschenleeren Stelle wirkte die Straße bieder wie in einer Provinzstadt, und dieser Eindruck wurde durch einen leichten Kirchengeruch noch verstärkt: Toreinfahrten standen gähnend offen und ließen sehr tiefe Fluchten von Höfen sehen; einem Kuhstall entströmte der warme Dunst der Streu, eine Klostermauer zog sich schier endlos dahin. Und hier zwischen dem Kloster auf der einen Seite und einem Kräuterladen auf der anderen befand sich der Laden, der zu einem Atelier geworden war und auf dessen Ladenschild immer noch in großen gelben Buchstaben »Obst und Gemüse« geschrieben stand.
Claude und Sandoz hätten von den seilspringenden Mädchen beinahe eins abbekommen. Auf den Bürgersteigen saßen ganze Familien, deren Stuhlbarrikaden die beiden zwangen, auf den Fahrdamm auszuweichen. Dennoch gelangten sie schließlich ans Ziel, da ließ sie der Anblick des Kräuterladens einen Augenblick verweilen. Zwischen den beiden Schaufenstern, die mit Irrigatoren, Bandagen, allen möglichen intimen und heiklen Dingen dekoriert waren, stand unter den getrockneten Kräutern in der Tür, der ein ständiger aromatischer Odem entströmte, eine hagere braune Frau, die sie beide angaffte, während hinter ihr die im Dunkel ertrunkenen Umrisse eines kleinen, bläßlichen Mannes sichtbar wurden, der sich die Lunge aus dem Leib hustete. Sie stießen sich mit dem Ellbogen an, und ihre Augen blitzten heiter, während sie schalkhaft lachten; dann drehten sie den Türgriff von Mahoudeaus Laden. Der ziemlich große Laden war fast ausgefüllt von einem Haufen Ton, einer riesenhaften Bacchantin35, die halb auf einen Felsblock hingesunken war. Die Balken, die sie stützten, bogen sich unter der Last dieser noch unförmigen Masse, in der man nur Riesenbrüste und turmhafte Schenkel unterscheiden konnte. Wasser war heruntergeflossen, schmutzige Kübel standen herum, Gipsmatsch verdreckte eine ganze Ecke, während auf den Regalen des ehemaligen Obstladens, die man an ihrem Platz gelassen hatte, in wirrem Durcheinander irgendwelche antiken Abgüsse standen, die der Staub langsam mit feiner Asche zu besäumen schien. Eine Waschküchenfeuchtigkeit, eine schaler Geruch nach nassem Ton stieg vom Fußboden auf. Und dieses Elend des Bildhauerateliers, dieser Schmutz des Gewerbes trat in der fahlen Helligkeit der beschmierten Schaufensterscheiben noch deutlicher zutage.
»Nanu! Ihr seid’s«, rief Mahoudeau, der vor seinem Prachtweib saß und eine Pfeife rauchte.
Er war klein, hager, hatte ein knochiges Gesicht, das mit siebenundzwanzig Jahren bereits von Runzeln durchfurcht war; die Haare seiner schwarzen Mähne hingen struppig auf eine sehr niedrige Stirn herab; und in dieser gelben Maske von wilder Häßlichkeit taten sich helle, leere Kinderaugen auf, die mit einer bezaubernden Kindlichkeit lächelten. Er war der Sohn eines Steinmetz in Plassans und hatte dort unten große Erfolge bei den vom Museum veranstalteten Wettbewerben errungen; dann war er als Preisträger seiner Heimatstadt mit einer jährlichen Beihilfe von achthundert Francs, die man ihm vier Jahre lang zahlte, nach Paris gekommen. Aber in Paris hatte er sich nicht heimisch gefühlt, hatte haltlos gelebt, war nicht zur Ecole des BeauxArts gegangen und hatte sein Jahresgeld mit Nichtstun durchgebracht, so daß er sich, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, am Ende der vier Jahre gezwungen gesehen hatte, bei einem Heiligenfigurenhändler in Stellung zu gehen, bei dem er zehn Stunden am Tag heilige Josephe, heilige Rochusse, Magdalenen, den ganzen Heiligenkalender schnitzte.
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