Er begann in dieser Wärme vereinigter Hoffnungen wieder zu glauben. Von seinen Qualen vom Vormittag blieb ihm nur eine unbestimmte Benommenheit; er stellte mit Mahoudeau und Sandoz von neuem Erörterungen über sein Gemälde an und schwor dabei allen Ernstes, er werde es morgen einhauen. Jory, der sehr kurzsichtig war, sah den alten Damen ins Gesicht und erging sich dabei in Theorien über das künstlerische Schaffen: man müsse sich geben, so wie man war, der ersten Eingebung folgen; er streiche niemals etwas aus, was er geschrieben habe. Und so diskutierend, gingen die vier weiter den Boulevard hinunter, der fast menschenleer war und mit seinen sich bis ins unendliche hinziehenden Reihen schöner Bäume für ihre Auseinandersetzungen geradezu geschaffen zu sein schien. Aber als sie auf die Esplanade des Invalides herauskamen, wurde der Streit so heftig, daß sie inmitten der weiten Fläche stehenblieben. Claude, der außer sich war, schalt Jory einen Blödian: war es denn nicht besser, ein Werk zu zerstören als ein mittelmäßiges zu liefern? Ja, ekelhaft war dieses niedrige Geschäftsinteresse! Sandoz und Mahoudeau sprachen nun gleichzeitig und sehr laut. Besorgt drehten sich Leute nach ihnen um, liefen schließlich zusammen und umstanden diese wütenden jungen Leute, die sich anscheinend zerfleischen wollten. Dann gingen die Vorübergehenden verärgert davon und glaubten, es handle sich um einen Ulk, als sie sahen, daß die Burschen jäh in guter Freundschaft allesamt ganz hingerissen waren von einer hell gekleideten Amme mit langen kirschfarbenen Bändern. Ah, verdammt, was für ein Ton! Das würde die richtige Note hineinbringen! Entzückt zwinkerten sie mit den Augen, sie sahen der Amme nach, die unter den sich schachbrettartig kreuzenden Baumreihen davonging; bei diesem Anblick fuhren sie aus dem Schlaf hoch und wunderten sich, bereits da zu sein. Diese Esplanade, die nach allen Seiten offen unter dem Himmel dalag und nur im Süden durch die ferne Perspektive des Hôtel des Invalides39 begrenzt war, bezauberte sie mit ihrer Größe, ihrer Ruhe; denn hier hatten sie genügend Platz zum Gestikulieren; und sie schöpften wieder etwas Atem, sie, die erklärten, Paris sei zu eng, es fehle dem Ehrgeiz, den sie in der Brust trügen, die Luft.
»Geht ihr irgendwohin?« fragte Sandoz Jory und Mahoudeau.
»Nein«, antwortete der letztere, »wir gehen mit euch mit … Wo geht ihr hin?«
Mit verlorenem Blick murmelte Claude:
»Ich weiß nicht … Immer der Nase lang.«
Sie bogen in den Quai d’Orsay ein, sie gingen bis zur Pont de la Concorde hinauf. Und vor dem Corps législatif40 fing der Maler entrüstet wieder an: »Was für ein widerwärtiges Gebäude!«
»Neulich«, sagte Jory, »hat Jules Favre41 eine tolle Rede gehalten … Das hat Rouher42 hübsch geärgert!« Aber die drei anderen ließen ihn nicht weiterreden, der Streit begann von neuem. Wer war das schon, Jules Favre? Wer war das schon, Rouher? Gab es so was denn überhaupt! Idioten, von denen zehn Jahre nach ihrem Tode niemand mehr reden würde! Sie waren auf die Brücke eingebogen, sie zuckten mitleidig die Schultern. Als sie dann in der Mitte des Place de la Condorde standen, schwiegen sie.
»Das«, erklärte Claude schließlich, »das ist ganz und gar nicht dumm.«
Es war vier Uhr, der schöne Tag ging in einem glorreichen Sonnenstieben zu Ende. Rechts und links zogen sich zur MadeleineKirche und zum Corps législatif Reihen von Gebäuden in fernen Perspektiven dahin und hoben sich klar vom Himmel ab, während der Jardin des Tuileries43 die runden Wipfel seiner großen Kastanienbäume übereinanderstufte. Und zwischen den beiden grünen Rändern der Seitenalleen stieg die Avenue des ChampsElysées ganz hoch an, so weit das Auge reichte, bis hin zum riesigen Tor des Arc de Triomphe44, das sich weit zum Unendlichen auftat. Dort wälzte sich eine doppelte Strömung der Menschenmenge dahin, ein doppelter Strom mit den lebendigen Strudeln der Gespanne, den fliehenden Wogen der Wagen, die das Blinken eines Wagenschlags, das Funkeln einer Laternenscheibe mit weißem Gischt zu tönen schien. Der Platz mit den ungeheuren Bürgersteigen, mit den wie Seen so breiten Fahrdämmen füllte sich unten mit dieser ständigen Woge, die in allen Richtungen von strahlenwerfenden Wagenrädern durchschnitten, von schwarzen Punkten, den Menschen, bevölkert wurde; und die beiden Brunnen rieselten, verströmten kühle Frische in dieses glutheiße Leben.
Erbebend rief Claude:
»Ach, dieses Paris … Uns gehört es, man braucht es nur zu nehmen.«
Alle vier gerieten in Begeisterung, rissen die vor Begierde leuchtenden Augen auf. War das nicht der Ruhm, der von der Höhe dieser Avenue über die ganze Stadt wehte? Paris lag dort, und sie wollten Paris.
»Na schön! Wir werden es uns nehmen«, bestätigte Sandoz mit seiner eigensinnigen Miene.
»Weiß Gott!« sagten Mahoudeau und Jory schlicht.
Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, sie strolchten noch herum, waren plötzlich hinter der MadeleineKirche, streiften durch die Rue Tronchet. Schließlich gelangten sie auf den Place du Havre, da rief Sandoz aus:
»Aber wir gehen doch zu Baudequin?«
Die anderen wunderten sich. Tatsächlich! Zu Baudequin gingen sie also.
»Was haben wir heute für einen Tag?« fragte Claude. »Na, Donnerstag … Fagerolles und Gagnière müssen schon da sein … Gehen wir zu Baudequin!«
Und sie gingen die steile Rue d’Amsterdam hoch. Sie waren soeben quer durch Paris gewandert, das war eine ihrer großen Lieblingstouren; aber sie hatten noch andere Routen, mitunter von einem Ende der Quais zum anderen, oder ein Stück der Befestigungsanlagen entlang, von der Porte SaintJacques bis Les Moulineaux, oder auch ein Abstecher zum PèreLachaise45, auf den noch ein Umweg über die äußeren Boulevards folgte.
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