Sie liefen die Straßen, die Plätze, die Kreuzungen ab, sie trödelten ganze Tage umher, solange ihre Beine sie tragen konnten, als hätten sie die Viertel eines nach dem anderen erobern wollen, indem sie ihre dröhnenden Theorien gegen die Fassaden der Häuser schleuderten; und das Straßenpflaster schien ihnen zu gehören, das ganze von ihren Schuhsohlen festgetretene Straßenpflaster, und von diesem Boden, auf dem seit alters so mancher Kampf ausgetragen worden war, stieg ein Rausch auf, der ihre Müdigkeit trunken machte.
Das Café Baudequin lag am Boulevard des Batignolles an der Ecke der Rue Darcet. Ohne daß man wüßte warum, hatte die Schar dieses Café zum Versammlungsort erkoren. Sie kam dort regelmäßig am Sonntagabend zusammen; außerdem hatten diejenigen, die am Donnerstag gegen fünf Uhr frei waren, die Gewohnheit angenommen, dort um diese Zeit für einen Augenblick aufzukreuzen. An diesem Tage waren bei dem schönen Sonnenschein alle Tischchen draußen unter der Markise von einer doppelten Reihe von Gästen besetzt, die den Bürgersteig versperrte. Aber den jungen Leuten graute vor diesem engen Beieinandersitzen, vor dem Zurschaustellen in der Öffentlichkeit; und sie drängten sich durch die anderen hindurch, um in das menschenleere, kühle Gastzimmer hineinzukommen.
»Nanu! Fagerolles ist ja ganz allein!« rief Claude.
Er war an ihren angestammten Tisch hinten links gegangen und drückte einem schmächtigen, blassen Burschen die Hand, dessen Mädchengesicht von spöttischschmeichlerischen grauen Augen, in denen Stahlfunken aufblitzten, erhellt wurde.
Alle setzten sich, man bestellte Bockbier, und der Maler fuhr fort:
»Weißt du, ich wollte dich bei deinem Vater abholen … Der hat mich aber hübsch empfangen!«
Fagerolles, der das Benehmen eines Schlägers und Ganoven zur Schau trug, schlug sich auf die Schenkel. »Ach, der geht mir auf die Nerven, der Alte! – Ich habe mich heute früh aus dem Staube gemacht, weil es wieder Zank gab. Verlangt er doch von mir, daß ich was für seine Zinksudeleien zeichne! Also ob nicht schon genug Zink von der Ecole des BeauxArts kommt.«
Dieser leichte Scherz über seine Professoren entzückte die Kumpels. Sie fanden ihn spaßig, sie schwärmten für diesen Bengel, weil er in seiner Niederträchtigkeit ständig Schmeicheleien und gehässigen Tratsch verbreitete. Sein beunruhigendes Lächeln ging von einem zum andern, während seine langen geschmeidigen Finger mit einer angeborenen Geschicklichkeit aus vergossenen Biertropfen auf dem Tisch verzwickte Szenen skizzierten. Ihm ging die Kunst leicht von der Hand, im Nu gelang ihm alles.
»Und Gagnière«, fragte Mahoudeau, »hast du ihn nicht gesehen?«
»Nein, ich bin seit einer Stunde hier.«
Aber Jory stieß, ohne ein Wort zu sagen, Sandoz mit dem Ellbogen an und machte ihn mit einer Kopfbewegung auf ein Mädchen aufmerksam, das im Hintergrund des Gastzimmers mit seinem Herrn an einem Tisch saß. Es waren übrigens nur noch zwei andere Gäste da, zwei Sergeanten, die Karten spielten. Dieses Mädchen war fast noch ein Kind, eines jener Pariser Gassenmädel, die mit achtzehn Jahren noch die Magerkeit einer unreifen Frucht haben. Mit dem Regen blonder Härchen über der zarten Nase und dem großen, lachlustigen Mund in dem rosigen Frätzchen sah sie wie ein frisierter Hund aus. Sie blätterte in einer Illustrierten, während der Herr mit Bedacht einen Madeira trank; und über die Zeitung hinweg warf sie der Schar immerfort lustige Blicke zu.
»Nett! Was?« murmelte Jory, der Feuer fing. »Auf wen, zum Teufel, hat sie es denn abgesehen? – Mich guckt sie an.«
Rasch schaltete sich Fagerolles ein:
»Na, höre mal, da ist gar kein Irrtum möglich, mir gilt das! – Glaubst du etwa, ich bin seit einer Stunde hier, um auf euch zu warten?« Die anderen lachten.
Und die Stimme senkend, erzählte ihnen Fagerolles von Irma Bécot. Oh, ein flotter Käfer! Er kannte ihre Geschichte, sie war die Tochter eines Kolonialwarenhändlers in der Rue Montorgueil. War übrigens ganz beschlagen in biblischer Geschichte, Rechnen, Rechtschreibung, denn bis sechzehn Jahre war sie in eine Schule in der Nachbarschaft gegangen. Sie erledigte ihre Hausaufgaben zwischen zwei Säcken Linsen, und sie vervollständigte ihre Erziehung geradezu auf der Straße, denn sie lebte auf dem Bürgersteig inmitten der Anrempeleien und lernte das Leben kennen bei den ständigen Tratschereien der barhäuptigen Köchinnen, die die Schandtaten des Viertels hüllenlos ausbreiteten, während man ihnen für fünf Sous Schweizerkäse abwog. Ihre Mutter war tot, Vater Bécot war schließlich mit seinen Dienstmädchen ins Bett gegangen, was sehr vernünftig war, denn so brauchte er nicht außer Haus zu gehen; aber das brachte ihn auf den Geschmack an Weibern, er mußte mehr Weiber haben, bald hatte er sich in ein solches Lotterleben gestürzt, daß der Kolonialwarenladen samt den Dörrgemüsen, den Bonbongläsern, den Schubläden voller Süßigkeiten nach und nach dabei draufging. Irma ging noch zur Schule, als ein Bursche sie eines Abends beim Abschließen des Ladens quer über einen Korb Feigen warf. Sechs Monate später war das Haus durchgebracht. Ihr Vater starb an einem Blutsturz; sie suchte Zuflucht bei einer armen Tante, von der sie verprügelt wurde, brannte mit einem jungen Mann von der gegenüberliegenden Straßenseite durch, kam dreimal zurück, um eines schönen Tages endgültig in die Kneipen vom Montmartre und von Les Batignolles zu enteilen.
»Eine Fohse!« murmelte Claude und verzog verächtlich das Gesicht.
1 comment