»Christine.«
Da wunderte er sich, daß auch er seinen Namen noch nicht gesagt hatte. Seit gestern abend waren sie beide hier dicht nebeneinander und kannten sich nicht.
»Ich heiße Claude.«
Und da er sie in diesem Augenblick anschaute, sah er, daß sie in ein hübsches Lachen ausbrach.
Das war die freudige Unbesonnenheit eines großen, noch kindlichen Mädchens. Sie fand diesen verspäteten Namensaustausch komisch. Dann amüsierte sie ein anderer Gedanke:
»Sieh mal einer an! Claude, Christine – fängt beides mit demselben Buchstaben an.«
Das Schweigen sank wieder herab.
Er blinzelte mit den Lidern, vergaß sich, fühlte sich am Ende mit seiner Phantasie. Aber er glaubte an ihr ein ungeduldiges Unbehagen zu bemerken, und in der entsetzlichen Angst, sie könnte sich bewegen, fing er, um sie zu beschäftigen, auf gut Glück wieder an:
»Es ist ein bißchen warm.«
Dieses Mal unterdrückte sie ihr Lachen, diese angeborene Fröhlichkeit, die wiederauflebte und wider ihren Willen losbrach. Die Wärme wurde so stark, daß sie sich im Bett wie in einem Bad fühlte, mit ihrer feuchten, erblassenden Haut, die die milchige Blässe der Kamelien hatte.
»Ja, ein bißchen warm«, antwortete sie ernst, während ihre Augen heiterer blickten.
Da sagte Claude abschließend mit seiner biederen Miene:
»Das kommt von der Sonne, die hier hereinscheint. Aber, ach was, das tut gut so, richtig viel Sonne auf die Haut … Hören Sie, heut nacht hätten wir das brauchen können unter der Tür.«
Beide prusteten los, und er, der entzückt war, endlich ein Gesprächsthema gefunden zu haben, fragte sie nach ihrem Erlebnis, aber ohne Neugier, weil er sich im Grunde wenig darum scherte, die wirkliche Wahrheit zu erfahren, und einzig darauf aus war, die Sitzung zu verlängern.
Schlicht erzählte Christine in ein paar Worten, was sich zugetragen hatte. Gestern früh war sie in Clermont abgefahren, um sich nach Paris zu begeben, wo sie als Vorleserin bei der Witwe eines Generals, bei Madame Vanzade, einer sehr reichen alten Dame, die in Passy wohnte, in Stellung gehen wollte. Fahrplanmäßig sollte der Zug um neun Uhr zehn eintreffen, und für alles war Vorkehrung getroffen, eine Kammerzofe sollte sie erwarten, man hatte sogar brieflich ein Erkennungszeichen vereinbart, eine graue Feder an ihrem schwarzen Hut. Aber da war ihr Zug kurz hinter Nevers auf einen Güterzug gestoßen, dessen entgleiste und zerbrochene Wagen die Strecke versperrten. Darauf hatte es lauter Scherereien und Verspätungen gegeben, zunächst endloses Warten in den stillstehenden Wagen, dann hatten sie notgedrungen diese Wagen verlassen müssen, das Gepäck war dort zurückgeblieben, und die Reisenden waren gezwungen, drei Kilometer zu Fuß zurückzulegen, um zu einem Bahnhof zu gelangen, wo man sich entschlossen hatte, einen Rettungszug zusammenzustellen. Zwei Stunden waren verloren, und noch zwei weitere Stunden gingen in dem Durcheinander verloren, das der Unfall auf der ganzen Strecke verursachte; so daß man mit vier Stunden Verspätung, erst um ein Uhr morgens, auf dem Bahnhof eintraf.
»Pech!« unterbrach sie Claude, immer noch ungläubig, jedoch wankend geworden, überrascht, wie leicht sich die verwickelten Zufälle dieser Geschichte erklärten. »Und natürlich hat niemand mehr auf Sie gewartet?«
Tatsächlich hatte Christine Frau Vanzades Zofe, die zweifellos des langen Wartens müde geworden war, nicht mehr gefunden. Und sie erzählte von ihrer Aufregung auf dem Gare de Lyon5, in dieser unbekannten, schwarzen, leeren, zu dieser vorgerückten Nachtstunde bald verödeten Halle. Zunächst hatte sie nicht gewagt, einen Wagen zu nehmen, war in der Hoffnung, daß irgend jemand kommen möge, mit ihrer kleinen Tasche auf und ab gegangen. Dann hatte sie sich dazu entschlossen, aber zu spät, denn es war nur noch ein Kutscher da, der sehr schmutzig aussah, nach Wein stank, um sie herumstrich und sich mit spöttischer Miene anbot.
»Ja, ein Strolch«, fing Claude wieder an, der nun ganz bei der Sache war, wie im Theater bei einem Schauerstück. »Und Sie sind in seinen Wagen gestiegen?«
Die Augen auf die Zimmerdecke geheftet, fuhr Christine fort; ohne die Pose aufzugeben:
»Der hat mich ja gezwungen. Er nannte mich seine Kleine, ich bekam Angst vor ihm … Als er erfuhr, daß ich nach Passy wollte, wurde er böse, er peitschte so heftig auf sein Pferd ein, daß ich mich an den Wagenverschlägen festklammern mußte. Dann beruhigte ich mich ein wenig, die Droschke rollte sanft durch erleuchtete Straßen, ich sah Leute auf den Bürgersteigen. Schließlich erkannte ich die Seine. Ich bin noch nie in Paris gewesen, aber ich hatte mir einen Stadtplan angesehen … Und ich dachte, daß er an den Quais entlangfahren würde, da wurde ich wieder von Angst erfaßt, als ich merkte, daß wir über eine Brücke fuhren. Gerade da fing es an zu regnen, die Kutsche war in eine stockfinstere Gegend eingebogen, und auf einmal hielt sie an.
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