Der Kutscher stieg von seinem Bock herunter und wollte zu mir in den Wagen kommen … Er sagte, es regne zu sehr …«

Claude fing an zu lachen. Er zweifelte nicht mehr, diesen Kutscher da konnte sie sich nicht ausgedacht haben. Als sie verlegen verstummte, sagte er:

»Gut, gut! Der Schäker wollte Spaße machen.«

»Sofort bin ich durch den anderen Wagenschlag auf die Straße gesprungen. Da hat er geflucht, er hat gesagt, wir seien angelangt und er werde mir meinen Hut runterreißen, wenn ich nicht bezahle … Es goß in Strömen, der Quai war völlig menschenleer. Ich verlor den Kopf, ich habe ein Fünffrancsstück herausgenommen, und er hat auf sein Pferd eingepeitscht und ist davongeprescht mit meiner kleinen Tasche, in der sich glücklicherweise nur zehn Taschentücher, eine halbe Brioche6 und der Schlüssel zu meinem Koffer befanden, der noch unterwegs war.«

»Aber man merkt sich doch die Wagennummer!« rief der Maler entrüstet. Nun entsann er sich, daß er von einer in vollem Tempo davonrasenden Droschke gestreift wurde, als er im strömenden Gewitterregen die Pont LouisPhilippe überquerte. Und er war baß erstaunt darüber, wie unwahrscheinlich die Wahrheit oft anmutet. Was er sich ausgedacht hatte, weil er schlicht und logisch sein wollte, war schön blöde neben diesem natürlichen Ablauf der unendlich vielen Kombinationen des Lebens.

»Sie können sich ja denken, wie mir zumute war unter dieser Tür!« schloß Christine. »Ich wußte sehr wohl, daß ich nicht in Passy war, ich sollte also diese Nacht in diesem schrecklichen Paris verbringen. Und dieses Donnern und dieses Blitzen, oh, diese Blitze, die ganz blau, ganz rot waren und die mich Entsetzliches sehen ließen!«

Ihre Lider hatten sich von neuem geschlossen, unter einem Schauer erblaßte ihr Gesicht, sie sah wieder die tragische Stadt, den Ausblick auf die Quais, die sich tief hineinzogen in das Rotglühen des Schmelzofens, das tiefe Bett des Flusses, der bleierne Wasser wälzte, von großen schwarzen Leibern versperrt war, von Lastkähnen, die toten Walen glichen, von reglosen Kränen starrte, die Galgenarme ausstreckten. War das etwa ein Willkommensgruß?

Schweigen trat ein. Claude hatte sich wieder über seine Zeichnung hergemacht.

Aber sie bewegte sich, ihr Arm war eingeschlafen.

»Den Ellbogen etwas tiefer, bitte.« Mit teilnahmsvoller Miene sagte er dann, um sich zu entschuldigen: »Ihre Eltern werden verzweifelt sein, wenn sie von dem Unglück erfahren.«

»Ich habe keine Eltern mehr.«

»Was? Keinen Vater, keine Mutter … Sie stehen allein?«

»Ja, ganz allein.«

Sie war achtzehn Jahre, und sie war zufällig in Straßburg geboren, wo ihr Vater, Hauptmann Hallegrain, vorübergehend in Garnison lag. Als sie in ihr zwölftes Lebensjahr ging, war dieser, ein Gascogner aus Montauban, in Clermont gestorben, wo ihn zuvor eine Lähmung der Beine gezwungen hatte, seinen Abschied zu nehmen. Fast fünf Jahre lang hatte ihre Mutter, die Pariserin war, dort unten in der Provinz sparsam von ihrer spärlichen Pension gelebt und durch Fächermalerei etwas dazuverdient, um ihre Tochter standesgemäß zu erziehen; vor fünfzehn Monaten war nun auch sie gestorben und hatte Christine allein auf der Welt zurückgelassen, ohne einen Sou7; allein die Freundschaft einer Nonne blieb ihr, der Oberin der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, die sie in ihrem Pensionat behalten hatte. Unmittelbar aus dem Kloster kam sie, da die Oberin endlich diese Vorleserinnenstelle bei ihrer alten Freundin, der Frau Vanzade, die fast blind war, für sie gefunden hatte.

Claude blieb stumm bei diesen neuen Einzelheiten. Dieses Kloster, diese gut erzogene Waise, dieses Abenteuer, das eine Wendung zum Romantischen nahm, machte ihn wieder verlegen, ungeschickt in Bewegungen und Worten. Er arbeitete nicht mehr, hatte die Blicke auf seine Skizze gesenkt.

»Ist es hübsch in Clermont?« fragte er schließlich.

»Nicht sehr hübsch, eine düstere Stadt … Außerdem weiß ich nicht recht, ich bin kaum rausgekommen.« Sie hatte sich auf den Ellbogen gestützt, sie fuhr sehr leise fort, als spreche sie zu sich selber, mit einer Stimme, die vom Schluchzen über ihren Trauerfall noch ganz gebrochen klang: »Mama war nicht sehr kräftig, sie hat sich zu Tode gearbeitet … Sie hat mich verwöhnt, nichts war zu schön für mich, ich hatte Lehrer in allen Fächern; und es ist mir so wenig zugute gekommen, zuerst bin ich krank geworden, dann habe ich nicht zugehört, war immerzu zum Lachen aufgelegt, hatte Unsinn im Kopf … Die Musik langweilte mich, am Klavier verkrampften sich mir die Arme. Mit dem Malen ging’s noch am besten …«

Er sah auf und unterbrach sie:

»Sie können malen?«

»O nein, ich kann nicht, überhaupt nicht … Mama war sehr begabt, sie hat mich ein bißchen Aquarelle machen lassen, und ich half ihr manchmal beim Hintergrund auf ihren Fächern … Sie hat so schöne Fächer gemalt.« Unwillkürlich ließ sie einen Blick durch das Atelier schweifen, auf die schreckerregenden Skizzen, die an den Wänden flammten; und in ihren hellen Augen zeigte sich wieder Verwirrung, das unruhige Erstaunen über diese brutale Malerei. Von fern sah sie die Rückseite der Studie, die der Maler nach ihr entworfen hatte, und war so entgeistert über die heftigen Tönungen, über die großen Pastellstriche, die das Dunkel zersäbelten, daß sie ihn nicht zu bitten wagte, sich die Skizze aus der Nähe ansehen zu dürfen. Da es ihr übrigens unbehaglich war in diesem Bett, in dem sie schier verbrannte, bewegte sie sich, weil sie von dem Gedanken gequält wurde, fortzukommen und mit all diesen Dingen Schluß zu machen, die ihr seit gestern abend wie ein Traum vorkamen.

Zweifellos merkte Claude diese Erschlaffung. Jähe Scham erfüllte ihn mit Bedauern. Er ließ von seiner unvollendeten Zeichnung ab und sagte sehr schnell:

»Vielen Dank für Ihre Gefälligkeit, Mademoiselle … Verzeihen Sie, daß ich Sie dazu mißbraucht habe, wahrhaftig … Stehen Sie auf, stehen Sie bitte auf. Es wird Zeit, daß Sie sich um Ihre Angelegenheiten kümmern.« Und ohne zu begreifen, warum sie sich nicht dazu entschloß, sondern im Gegenteil errötete und ihren nackten Arm wieder unter die Decke steckte, je mehr er sich vor ihr ereiferte, wiederholte er immerfort, sie solle aufstehen.