Trotz der guten Eigenschaften des Chancellor weicht das Schiff merklich ab und treiben wir mehr nach Süden. Der durch Wolken verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Sonnenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach nicht zu bestimmen vermag, so muß man sich mit einer Schätzung derselben begnügen.

Meinen Reisegefährten, gegen die sich der zweite Officier nicht ausgesprochen hat, ist es völlig unbekannt, daß wir einen ganz unerklärlichen Weg verfolgen. England liegt im Nordosten und wir segeln nach Südosten!

Robert Kurtis vermag sich die Hartnäckigkeit des Kapitäns nicht zu deuten, der doch mindestens versuchen sollte, nordwestlich zu steuern, um günstige Strömungen zu erreichen! Seitdem der Wind nach Nordosten gegangen ist, treibt der Chancellor mehr und mehr nach Süden.

Heute, als ich mich mit Robert Kurtis allein auf dem Oberdeck befand, sprach ich ihn darum an.

»Ist Ihr Kapitän von Sinnen? fragte ich.

– Das möchte ich Sie fragen, Herr Kazallon, antwortete mir Robert Kurtis, da Sie ihn aufmerksam beobachtet haben.

– Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Herr Kurtis, doch gestehe ich, daß seine ganz eigenthümliche Physiognomie, seine verstörten Augen ... fahren Sie zum ersten Male mit ihm?

– Ja, er war mir früher unbekannt.

– Und Sie haben ihm Ihre Bemerkungen über den von uns eingeschlagenen Weg nicht vorenthalten?

– Gewiß nicht, doch er entgegnete mir, daß das der richtige sei.

– Herr Kurtis, fuhr ich fort, was denken aber Lieutenant Walter und der Hochbootsmann darüber?

– Sie denken wie ich.

– Und wenn Kapitän Huntly das Schiff nach China führte?

– So würden sie gehorchen wie ich.

– Der Gehorsam hat aber seine Grenzen?

– Nein, so lange die Führung des Kapitäns das Schiff nicht in Gefahr bringt.

– Wenn er aber geisteskrank wäre?

– Ja, wenn er das ist, Herr Kazallon, dann werde ich sehen, was zu thun ist!«

An solche Verhältnisse hatte ich freilich nicht gedacht, als ich mich auf dem Chancellor einschiffte.

Inzwischen ist das Wetter immer schlechter geworden; über den Atlantischen Ocean braust ein vollkommener Sturm. Das Schiff war gezwungen, mit dem großen Bramsegel und dem kleinen Focksegel beizulegen, d. h. es bietet dem Winde seine Breitseite. Trotzdem weicht es mehr und mehr ab, und immer weiter gelangen wir nach Süden.

Darüber kann kein Zweifel mehr sein, nachdem der Chancellor in der Nacht vom 11. zum 12. in die große Sargasso-See gelangt ist.

Diese Sargasso-See, welche der warme Golfstrom angehäuft hat, ist eine weite Wasserstrecke, bedeckt mit Varecpflanzen, welche die Spanier »Sargasso« nennen, und über welche die Schiffe des Columbus bei ihrer ersten Fahrt über den Ocean nur sehr schwer hinwegkamen.

Bei anbrechendem Tage bietet uns das Meer einen ganz eigenthümlichen Anblick, der auch die Herren Letourneur veranlaßt, trotz des brausenden Windes, der auf den metallenen Strickleitern spielt, als wären es Harfensaiten, auf Deck zu kommen. Unsere Kleider sind fest und eng an den Körper gebunden, und würden zerrissen werden, wenn sie der Wind irgendwo erfassen könnte. Das Schiff schwankt auf diesem durch die fruchtbaren Fucus-Familien verdeckten Wasser, einer weiten Fläche von niederen Gewächsen, durch welche sich der Kiel wie eine Pflugschaar hindurch arbeitet, furchtbar hin und her. Manchmal treibt der Wind lange Faserschlingen hoch empor, die sich um die Takelage wickeln und gleich grünen Guirlanden von einem Maste zum anderen hängen. Einige dieser oft mehrere hundert Fuß langen Algen umschlingen die Mäste bis zu den Spitzen. Mehrere Stunden lang hat man gegen diesen wahrhaften Sturmangriff der Varecs anzukämpfen, und nachmals muß der Chancellor mit seinem von Hydrophyten und sonderbaren Lianen bedeckten Strickwerk mehr einem wandelnden Bosquet in einer ungeheuren Wiese ähnlich gesehen haben.

VII.

Am 14. October. –

Endlich hat der Chancellor das Vegetabilienmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich vermindert, und wir kommen mit zweigerefften Marssegeln rasch vorwärts.

Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuchtet jetzt mit hohem Glanze. Es fängt allmälig an sehr warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbestimmung ergeben 21° 33' nördlicher Breite und 50° 17' westlicher Länge. Der Chancellor ist also um mehr als zehn Breitengrade nach Süden gesegelt.

Noch immer hält er den südöstlichen Cours!

Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren des Kapitän Huntly Aufschluß zu verschaffen gesucht und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen. Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich weiß es noch nicht. Im Allgemeinen spricht er vernünftig. Steht er unter dem Einflusse einer partiellen Verrücktheit, einer Geistesabwesenheit, welche sich gerade bezüglich seines Geschäftes äußert? Derartige Fälle wurden schon wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich davon spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Officier wiederholt seine frühere Aussage, daß er nicht das Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, so lange nicht durch einen wohl constatirten Act des Wahnsinns der Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortlichkeit für jenen angedeuteten Schritt ist eine sehr ernste.

Gegen acht Uhr Abends bin ich in meine Cabine zurückgekehrt, habe bei dem Lichte meiner Schwebelampe noch eine Stunde gelesen und meinen Gedanken nachgehangen, dann aber mich niedergelegt und bin bald eingeschlafen.

Einige Stunden später durch ein ungewohntes Geräusch erweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Gespräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst hin und her zu laufen. Was mag der Grund dieser außergewöhnlichen Bewegung sein? Wahrscheinlich eine Veränderung der Segelstellung behufs Aenderung des Schiffscourses ... Doch nein, das ist's wahrscheinlich nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht verändert worden. Die Bewegungen des Chancellor sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.

Am folgenden Morgen des 14.