Er sah, daß das Bett nicht mehr leer war. Er hatte im Schatten des großen Kopfkissens einen bleichen Kopf liegen sehen. Es war wohl ein Mädchen, soviel er in der Dämmerung der trüben Lampe erkennen konnte. Eine Kranke wie er, eine Leidensgenossin, eine Freundin, jemand, an dem er sich halten könnte, jemand wie er, herausgeworfen aus dem Garten des Lebens. Ob sie ihm antworten würde, was mochte ihr Leiden sein?

Auch sie hatte ihn gesehen, er sah es. Und die Blicke der Kranken begegneten sich in der Tür, ein kurzer flüchtiger Gruß, ein kurzes Zeichen des Glücks. Und wie der leise Flügel eines kleinen Vogels, so zitterte in diesen Augenblicken sein Herz in einer neuen und geheimnisvollen Hoffnung.

Plötzlich klingelte es dreimal laut im Korridor, in kurzen Absätzen, scharf wie ein Befehl. Die Schwester lief auf das Klingelzeichen hinaus, und sie schloß die Tür nach dem Nebenzimmer hinter sich zu.

Das war das Zeichen, daß irgendwo eine Gefahr war, vielleicht daß jemand nahe am Tode war. Dieses Zeichen hatte Jonathan schon gelernt, und er zitterte vor Schreck bei dem Gedanken, daß jetzt jemand in dieser elenden dumpfen Atmosphäre seinen letzten Seufzer tun könnte. Ach, warum hier sterben, hier, wo man den Tod an jedem Bette stehen sah, hier, wo man dem Tode ausgeliefert war wie eine Nummer, mit sehenden Augen, hier, wo jeder Gedanke vom Tode infiziert war, hier, wo es keine Illusionen mehr gab, wo alles nackt, kalt und grausam war. Wahrhaftig ein zum Tode Verurteilter hatte es besser, denn seine Qual dauerte nur einen Tag, so lange verhüllte man ihm sein Ende; sie aber waren vom Tage des Einganges in diese Zimmer preisgegeben der Einsamkeit, der Dunkelheit, der entsetzlichen Trauer der Herbstabende, dem Winter, dem Tode, einer ewigen Hölle.

Und sie mußten ruhig in ihren Betten liegen, sie mußten sich den körperlichen Schmerzen hingeben, sie wurden bei lebendigem Leibe geschunden. Ach, und um ihre Leiden zu verhöhnen, um ihre Ohnmacht ihnen ewig vor Augen zu halten, hing am Fußende eines jeden Bettes der sterbende Christus an einem großen weißen Kreuze vor einem dunkelnden Himmel. Der arme Christus, der nur schmerzlich seine Schultern gezuckt hatte, als die Juden ihn um das Wunder baten: bist du Christus, so steige herab vom Kreuz. Und aus seinen gebrochenen Augen, die schon auf unzählige Kranke in diesen Bettstätten gesehen hatten, von seinem schmerzlich verzogenen Mund, der schon den Duft einer Unzahl grauenhafter Wunden geatmet hatte, von diesem Schächer am Kreuz ging eine furchtbare Ohnmacht aus, die die Seelen der Kranken verdüsterte und alles erstickte, was noch nicht Tod und Verzweiflung war.

Plötzlich ging die Tür in das Nebenzimmer leise auf. Sie war vielleicht nicht ganz geschlossen gewesen.

Und Jonathan sah wieder hinüber in das bleiche Gesicht seiner neuen Nachbarin, das er über den Gedanken des Todes fast vergessen hatte.

Die Tür blieb offen. Auch die Kranke sah wieder zu ihm herüber, er fühlte es durch das Halbdunkel. Und in dieser flüchtigen Sekunde begrüßten sie sich schweigend über der Schwelle, sie prüften einander, sie erkannten sich, und sie verbanden sich, wie zwei Schiffbrüchige, die in einem uferlosen Ozean nebeneinander dahintreiben.

»Ich habe Sie am Nachmittag soviel stöhnen hören, haben Sie große Schmerzen? Warum liegen Sie hier?« hörte er ihre leise Stimme, die von ihrer Krankheit fein und leicht geworden schien. »Ja, es ist furchtbar«, sagte Jonathan.

»Was fehlt Ihnen denn? Warum hat man Sie hierhergebracht?« fragte sie wieder.

Und er erzählte ihr, während seine Stimme vor Schmerzen zitterte, seine Geschichte.

Er war vor fünf Jahren als Maschinist von Hamburg fortgegangen auf ostasiatische Fahrt. Er hatte sich in den Ozeanen des Ostens herumgetrieben, immer unten am Kessel, in der Siedehitze der Tropen. Er war auf einem Korallenschiffe in die Südsee gegangen, dann hatte er auf einem Schmuggler gefahren, der das Opium verborgen in Maissäcken in Kanton einschmuggelte, über zwei Jahre lang. Auf diesem Schiffe hatte er viel Geld gemacht. Er wollte nach Hause fahren, aber er wurde bestohlen. Und er saß nackt und bloß in Shanghai. Durch die Hilfe des Konsuls heuerte er auf einem Schiffe, das mit einer Fracht Reis nach Hamburg bestimmt war. Das Schiff ging um das Kap, um die teure Fahrt durch den Suezkanal zu sparen.

In Monrovia, Liberia, diesem schrecklichen fiebrigen Liberia, hatten sie drei Tage lang Kohlen aufgenommen. Am Mittag des dritten Tages war er unten im Heizraum hingefallen. Wie er aufgewacht war, lag er im Spital von Monrovia mitten unter hundert schmutzigen Negern. Da lag er vier Wochen am Schwarzwasserfieber, mehr tot als lebendig. Ach, was er da zu dulden gehabt hatte in der fürchterlichen Julihitze, die die Adern der Kranken verbrannte, wo das Feuer bis in ihr Hirn wie ein eiserner Hammer schlug.

Aber es war trotz des Schmutzes, des Negergestankes, der Hitze, trotz des Fiebers immer noch besser gewesen als hier. Denn da wären sie nie allein gewesen, da hätten sie immer Unterhaltung gehabt.

»Mitten im Fieber sangen die Neger ihre Lieder, mitten im Fieber tanzten sie über die Betten.