Und wenn einer starb, dann sprang er noch einmal hoch auf, als wenn ihn der Krater seines Fiebers noch einmal in den Himmel schleudern wollte, ehe er ihn für ewig verschlang.
Sehen Sie, hier liege ich in der Quarantäne, denn die Ärzte glauben, ich könnte die andern im Saal mit meiner Malaria anstecken, die Herren sind in Europa so vorsichtig, da sollten sie zusehen kommen, wie wenig man sich da unten um die Kranken schert. Aber sie werden dabei viel eher gesund, denn man sperrt sie nicht ein wie Verbrecher in diese gräßliche Einsamkeit.
Meine Beine würden viel eher heilen, wenn ich nicht immer so allein wäre. Aber das allein ist schlimmer als der Tod. Letzte Nacht bin ich um drei Uhr aufgewacht. Und da habe ich hier gelegen wie ein Hund, auf einem Fleck, ich habe immer in die Dunkelheit gestarrt, immer geradeaus.«
»Was haben Sie denn mit Ihren Beinen gemacht, darf ich das wissen?« hörte er sie fragen. »Erzählen Sie doch weiter.«
Und er gehorchte ihr.
Ja, als er wieder gesund war, war er mit einem französischen Doktor, der durchaus eine Orchidee haben wollte, wie sie oben am Niger wachsen sollten, in den liberischen Urwald gegangen. Da waren sie zwei Monate lang durch den Urwald gegangen, über Creeks voll von Alligatoren, über riesige Sümpfe, auf denen abends die Moskitos so dicht standen, daß man sie mit der Hand immer gleich zu Hunderten greifen konnte.
Und die Vorstellung dieser großen Moräste, die in den Abend der Urwälder versanken, das ewige Rauschen der Baumkronen dieser unendlichen Wälder, der exotische Name fremder Völker, umgeben von Geheimnissen der Ferne, das Rätsel und die Abenteuer der verlorenen Wälder, alle diese seltsamen Bilder erfüllten das Herz seiner Zuhörerin mit Bewunderung und entrückten den Kranken da drüben in eine fremdartige Atmosphäre, den kleinen Maschinisten in dem elenden Bette eines nüchternen hamburgischen Krankenhauses.
Da er schwieg, bat sie ihn, weiter zu sprechen.
Und er erzählte ihr das Ende seines Schicksals, das ihn hierhergeworfen hatte, in ihre Nähe, und das nun über der puritanischen Armseligkeit dieser zwei Zimmer den weiten Himmel der Liebe dem Kranken aufschloß, der sein Herz erfüllte mit einer ungewissen Glückseligkeit.
Bei Lagos wären sie wieder aus der Wildnis herausgekommen. Er hätte nach Hause angemustert, alles wäre gut gegangen bis nach Cuxhaven. Er wollte gerade die eiserne Treppe nach dem Kessel heruntersteigen, als das Schiff in einer plötzlichen Bö stark schlingerte. Er sei aus dem Gleichgewicht gekommen und die Treppe hinuntergestürzt in das Maschinenwerk hinein. Die Kolbenstange hätte ihm beide Beine gebrochen.
»Das ist ja furchtbar, das ist ja unmenschlich«, sagte seine Zuhörerin, die sich in den Kissen aufgerichtet hatte. Jetzt konnte er sie deutlich sehen. Die Lampe beschien ihr Profil. In seiner etwas starken Blässe schien es aus der Dunkelheit herauszubrennen wie das Gesicht eines Heiligenbildes in einer dunklen Kirche.
»Wenn ich aufstehen kann, werde ich Sie besuchen kommen. Wollen Sie, darf ich Sie manchmal besuchen?«
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er, »Sie sind die erste, die hier ein freundliches Wort zu mir sagt. Wissen Sie, wenn Sie kommen, hilft mir das mehr als alle Ärzte. Aber werden Sie schon so bald aufstehen können, warum sind Sie hier?«
Sie erzählte ihm, daß sie eine Blinddarmoperation durchgemacht hätte, nun sollte sie hier noch vierzehn Tage liegen.
»Dann werden wir uns vielleicht öfter einmal sprechen«, sagte der kleine Jonathan. »Wollen wir uns öfter einmal unterhalten?« »O gewiß. Ich werde es dem Arzt sagen, ich werde die Schwester bitten, daß sie die Tür morgen wieder auf einige Zeit offen läßt.«
Er hörte ihr zu, er glaubte fast nicht daran. Und das Zimmer war mit einem Male leer von Schrecken.
»Ich danke Ihnen«, und sie lagen beide eine Weile still. Seine Augen suchten sie aus ihren Kissen heraus, und sie blieben eine Weile an ihrem Gesicht hängen. In dem Schweigen dieser Minuten vertiefte sich seine Liebe, sie drang siegreich vor in seinem Blut, sie begann seine Gedanken einzuhüllen in glückliche Phantasien, sie zeigte ihm eine weite Wiese in einem goldenen Wald, sie zeigte ihm einen Sommertag, einen langsamen Sommertag, einen seligen Mittag, wo sie beide Hand in Hand durch das Korn gingen, das ihre Liebesworte mit seinem leisen Rauschen umhüllte.
Die Tür ging auf, zwei Ärzte und zwei Schwestern traten ein.
»Hier ist gesprochen worden«, sagte der eine der beiden Ärzte. »Das geht nicht, das ist nicht angängig. Sie haben sich der Hausordnung zu fügen. Sie müssen Ruhe haben, verstehen Sie. Und Sie, Schwester, daß Sie die Tür nicht noch einmal auflassen! Die Kranken müssen Ruhe haben und Ruhe halten.« Und er ging selbst hinüber und schloß die Tür zwischen den beiden Zimmern.
Dann untersuchte er die Beine Jonathans, machte einen neuen Verband und sagte: »In drei Monaten werden Sie vielleicht wieder laufen können, wenn das überhaupt noch einmal gut wird. Das ist noch sehr fraglich. Sie müssen sich beizeiten an den Gedanken gewöhnen, ein Krüppel zu bleiben. Ich werde Ihnen eine Schwester hier lassen, die kann auf Sie aufpassen.«
Er zog die Decke wieder über den Kranken, wünschte ihm gute Nacht und verschwand mit seiner Eskorte.
Jonathan lag in seinen Kissen, als hätte ihm jemand mit einem einzigen Ruck das Herz aus der Brust gerissen.
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