Sie mußte wahrscheinlich erst noch Kaffee trinken, sicher hatte sie ihre Mutter noch nicht fortgelassen.

Er setzte sich einige Minuten auf die Bank, stand dann wieder auf, lief einige Male in dem kleinen Baumrondell hin und her. Jetzt fehlten noch zwei Minuten, jetzt mußte sie doch eigentlich schon zu sehen sein. Er schaute den Weg herunter nach ihr aus. Aber der Weg blieb leer. Seine Bäume verbargen niemand. Sie standen sanft vergoldet von der Nachmittagssonne ruhig in der Windstille, und durch ihr Laub zitterte das Licht auf den Weg, wie auf den Grund eines goldenen Baches. Der Laubgang war wie eine große, grüne, stille Halle und hinten in seinem Tore zitterte ein kleiner, blauer Streifen, fern wo Meer und Himmel ineinander verflossen.

Er zitterte. Er fühlte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. »Warum kommt sie nicht, warum kommt sie nicht?«

»Ach, ist das nicht ihr Hut, ist das nicht das weiße Band? Das ist sie, das ist sie.«

Und das Tor seiner Seele sprang auf, er fühlte sich wie von einem Sturme geschüttelt, er lief ihr entgegen. Als er näher kam, sah er, daß er sich getäuscht hatte. Das war sie ja gar nicht, das war jemand anderes. Und in demselben Augenblick war ihm, als würde etwas in ihm erstickt, als sollte er erwürgt werden.

Er hatte plötzlich dasselbe Gefühl, das er einmal gehabt hatte, als er aus einem Hause geführt wurde, in dem er an einem Totenbette gestanden hatte: eine Art Ekel oder Widerwillen vor sich selbst. Dieses eigentümliche besondere Gefühl bemächtigte sich seiner immer dann, wenn ihm etwas Unangenehmes entgegentrat, dem er nicht ausweichen konnte, eine mathematische Arbeit, eine Zensur.

Aber so stark wie eben hatte er es noch nicht gefühlt. Er konnte es beinahe auf der Zunge schmecken, bitter, wie etwas Graues.

Sein Blut schien zu stocken; ihn überkam eine Trägheit, die ihm unheimlich war. Seine Stirn war klein und grau, als hätte jemand sie mit dem Schatten seiner Hand bedeckt.

Er ging langsam nach dem Rondell zurück. »Aber sie wird noch kommen, gewiß.« Sie konnte sich ja verspäten. Wenn sie nur noch käme. Seinethalben konnte sie ja eine Viertelstunde zu spät kommen, wenn sie nur überhaupt käme.

Er sah wieder nach der Uhr. Die Zeit war vorbei, und der Sekundenzeiger lief immer weiter hinaus wie eine kleine dünne Spinne in einem silbernen Käfig. Ihr kleiner Fuß trat auf die Sekunden, die in kleinen Strichen hinter ihr hinfielen, wie eine Art winzigen Staubes auf einer winzigen Landstraße.

Nun waren schon vier Minuten vorbei, nun schon fünf. Und der Minutenzeiger stieg immer weiter auf den Stufen seiner kleinen Treppe herauf. Er wollte ihr entgegengehen. Aber, wenn sie nun von der anderen Seite käme, was dann? Und er schwankte, sollte er bleiben, sollte er gehen? Aber seine Unrast trieb ihn fort. Er lief wieder einige Schritte den Weg herunter, dann blieb er wieder stehen, er kehrte wieder um.

Er setzte sich auf die Bank, sah vor sich hin. Und mit jeder Minute verlor sich seine Zuversicht mehr. Bis um fünf Uhr wollte er noch warten, vielleicht käme sie noch.

Aus der Ferne hätte man ihn für einen alten Mann halten können, wie er da saß. Gekrümmt, in sich verkrochen wie jemand, über den viele Jahre Kummers dahingegangen sind.

Er stand noch einmal auf und ging langsam noch ein paar Schritte über den Schauplatz seiner kindlichen Tragödie.

Von fern hörte er eine Uhr schlagen, aber das war noch zu früh. Er verglich sie mit seiner Taschenuhr. Sicher, die dort schlug zu früh. Es fehlten noch drei Minuten an fünf.

Und in diesen drei Minuten bäumte sich noch einmal die Hoffnung in seinem Herzen auf, die Sehnsucht, wie eine sterbende Flamme aus einem verlöschenden Brande, wie das Fanal des Lebens aus dem letzten Herzschlag eines Sterbenden.

Jetzt, jetzt war es soweit.