Er hielt an, und dann bekam er nur ein Wort heraus. »Verrat!« schrie er.
Da brach der Orkan los. »Verrat, Verrat!« Einige zehn Mann faßten ihn an und hoben ihn auf ihre Schultern. Er stand oben, mit der einen Hand sich an einen Baum stützend, ohnmächtig vor Anstrengung, fast blind vom Schweiß, der ihm aus seinem schwarzen Haar um die Augen lief.
Maillard will reden, hieß es. Da trat eine furchtbare Ruhe ein. Alle warteten, warteten mit dem furchtbaren Warten der Massen vor dem Aufruhr, in den furchtbaren Sekunden, in denen die Zukunft Frankreichs gewogen ward, bis die Schale voll Fesseln, Kerkern, Kreuzen, Bibeln, Rosenkränzen, Kronen, Zeptern, Reichsäpfeln, gebettet in die falsche Sanftmut bourbonischer Lilien, voll hohler Worte, Versprechungen, Tafeln voll königlicher Eidbrüche, ungerechter Urteile, harmloser Privilegien, dieser ungeheure Berg alles dessen, mit dem die Jahrtausende Europa betrogen hatten, langsam zu sinken begann.
Maillard schwang sich in den Baum herauf.
Aus seiner kahlen Kanzel herab warf er seine furchtbaren Worte über die Menschen dahin, über die kahlen Felder, die düsteren Wälle, die schwarzen Zugbrücken, überladen von Menschen, in die Tunnels der Tore, über die Dächer von Paris, in die Höfe und Gäßchen der düsteren Faubourgs, in alle die Burgen des Elends weit hinaus, wo unter der Erde in den Kanälen bei den Quartieren der Ratten noch ein verdammtes Ohr war, das seine Worte vernahm.
»An die Nation! Ihr Armen, ihr Verfluchten, ihr Ausgestoßenen! Man verrät euch. Man preßt euch aus. Ihr werdet bald nackt herumlaufen, auf den Treppen werdet ihr sterben, und aus euren starren Händen werden die Steuerpächter, die Schergen des Capets, Bluthunde des Bluthundes, Spinnen der Spinne, eure letzten Groschen reißen.
Wir sind verlassen, wir sind verstoßen, und es geht mit uns zu Ende. Sie werden uns bald den letzten Rock vom Leibe reißen. Aus unseren Hemden werden sie uns Stricke drehen. Wir werden mit unserem Leibe die kotigen Straßen pflastern, damit die Wagen der Henker trocken darüber fahren. Warum sollten wir auch nicht sterben? Denn wir verpesten mit unsern Leibern die Luft, wir stinken, man faßt uns nicht an, nicht wahr? Warum sollten wir nicht sterben? Was können wir auch tun? Wir können uns ja nicht wehren? Wir sind mürbe gemacht, wir sind stumm gemacht.
Man hat künstliche Teuerungen erzielt, man hat uns ausgehungert, der Hunger hat uns totgemacht.«
Jedes Wort fiel wie ein schwerer Stein in das Volk. Bei jeder Silbe warf er seine Arme nach vorn, als wollte er mit dem Bombardement seiner Worte den Horizont selber ins Wanken bringen.
»Wißt ihr, was diese Nacht geschehen ist? Die Königin –«
»Ha, die Königin«, und die Massen wurden noch stiller, als sie den verhaßten Namen hörten.
»Die Königin, wißt ihr, was die alte Hure getan hat? Drei Regimenter Dragoner hat sie nach Versailles kommen lassen. Die liegen in allen Häusern, und die Leute der Versammlung wagen kaum noch zu reden. Mirabeau ist klein geworden wie ein Zwerg, und die anderen alle können sich kaum noch zu einem dürftigen Räuspern aufschwingen. Es ist eine Schande, das zu sehen. Wofür haben sie im Ballhause geschworen, diese Komödianten der Freiheit? Wofür habt ihr euer Blut bei der Bastille gelassen? Es war alles umsonst, hört ihr, umsonst.
Ihr müßt wieder in eure Höhlen kriechen, die Freiheitsfackel ist ein kleines Nachtlicht geworden, eine kleine Tranfunzel. Gut genug, um euch wieder in eure Löcher zu leuchten.
In drei Tagen wird Broglie mit seinen Truppen hier sein. Die Versammlung wird nach Hause geschickt, die Folter wird wieder aufgerichtet. Die Bastille wird wieder aufgebaut. Die Abgaben werden wieder gezahlt. Alle Kerker sperren schon ihre Mäuler auf.
Euer Hunger wird nicht gestillt werden, verzweifelt getrost. Der König hat die Brotkarren noch vor Orleans anhalten lassen und sie wieder nach Hause geschickt.«
Seine Worte gingen unter in dem Schrei der Wut. Ein ungeheurer Sturm geballter Fäuste schüttelte sich in der Luft. Die Massen begannen zu schwanken, wie ein ungeheurer Malstrom, rund um seinen Baum.
Und der Baum ragte heraus aus dem Meere der Schreie, aus den kreisenden Flüchen der verzerrten Gesichter, aus dem Echo des Zornes, das wie ein schwarzer, riesiger Wirbelwind vom Himmel zurückkam und ihn im Kreise zu erschüttern begann, daß er dröhnte wie der Klöppel einer ehernen Glocke.
Der Baum ragte heraus wie von düsteren Flammen angezündet, eine kalte Lohe, die ein Dämon aus dem Abgrund hatte aufschießen lassen.
Hoch oben in seinem fahlen Geäst hing Maillard wie ein riesiger schwarzer Vogel und warf seine Arme im Kreise hin und her, als wollte er sich zum Fluge über die Menschenmassen anschicken in den Abend hinaus, ein Dämon der Verzweiflung, ein schwarzer Belial, der Gott der Masse, der düstres Feuer aus seinen Händen warf.
Aber in seiner Stirn, die das dunkle Licht wie mit überirdischer Weiße übergoß, spiegelte ein goldener Strahl, der durch die Wolken kam, hoch über dem Chaos aus dem Zenith des Himmels.
Nur ein kleiner Streifen am Westhimmel war hell geworden, dort war der Himmel über die Felder gespannt wie ein Teppich von seidener Bläue, der noch von den Erinnerungen eines verschwiegenen Schäferspiels träumte.
Aus dem Toben der Massen heraus schallte plötzlich zweimal von einer lauten Stimme gerufen im Paroxysmus eines gellenden Diskantes der Ruf: »Nach Versailles, nach Versailles!« Es war, als hätte es die riesige Masse selber gerufen, als hätte ein Wille das ausgesprochen, was in den Tausenden der Köpfe sich wälzte. Da war ein Ziel. Das war kein Chaos mehr, die Menschenmassen waren mit einem Schlage ein furchtbares Heer. Wie ein riesiger Magnet riß der Westhimmel ihre Köpfe herum, wo Versailles ihrer harrte. Diese Straße würden sie jetzt gehen, sie würden nicht mehr warten. Die Kräfte, die der Sturm der Verzweiflung in ihnen aufgewühlt hatte, hatten einen Willen, einen Weg.
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