Der Damm war gebrochen.

Die ersten Reihen setzten sich spontan in Marsch. In Reihen zu vieren, zu fünfen, soweit die Breite der Straße es erlaubte.

Maillard sah das. Er kletterte, so schnell er konnte, von seinem Baum herab, rief drei Mann, die er kannte, zu sich und rannte mit ihnen über die Felder an den Massen entlang, bis er ihre Spitze erreichte. Da stellte er sich mit seinen Leuten dem Strome entgegen und versuchte, auf sie einzureden, sie sollten einen Führer wählen, Waffen holen. Aber er wurde nicht gehört. Jetzt war seine Stimme wie die eines jeden anderen, der diese eisernen Bataillone hätte aufhalten wollen. Die Massen stießen ihn zur Seite, sie überschwemmten die kleine Mauer der vier Mann und rissen Maillard und seine Leute mit sich die Straße hinab.

Ein unsichtbarer Führer führte sie, eine unsichtbare Fahne wehte vor ihnen her, ein riesiges Panier wallte im Winde, das ein ungeheurer Fahnenträger vor ihnen hertrug. Ein blutrotes Banner war entfaltet. Eine gewaltige Oriflamme der Freiheit, die mit einem purpurnen Fahnentuche im Abendhimmel ihnen vorausflackerte wie eine Morgenröte.

Sie alle waren unzählige Brüder geworden, die Stunde der Begeisterung hatte sie aneinandergeschweißt.

Männer und Weiber durcheinander, Arbeiter, Studenten, Advokaten. Weiße Perücken, Kniestrümpfe und Sansculotten, Damen der Halle, Fischweiber, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Stadtsoldaten, die ihre Spieße wie Generale über der Masse schwangen, Schuster mit Lederschürzen und Holzpantoffeln, Schneider, Gastwirte, Bettler, Strolche, Vorstädter, zerlumpt und zerrissen, ein unzähliger Zug.

Barhäuptig zogen sie die Straße hinab, Marschlieder erschallten. Und an Spazierstöcken trugen sie rote Taschentücher wie Standarten.

Ihre Leiden waren geadelt, ihre Qualen waren vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.

Das war der Abend, wo der Sklave, der Knecht der Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt in die Abendsonne erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer in seinen Händen trug.

Sie waren waffenlos, was schadete das, sie waren ohne Kommandanten, was tat das? Wo war nun der Hunger, wo waren die Qualen?

Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer, ein urewiges Meer.

Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre, in der Asche der Mühsal erstickt waren, fingen wieder an, zu brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot.

Sie gaben sich die Hände auf dem Marsche, sie umarmten sich. Sie hatten nicht umsonst gelitten. Sie wußten alle, daß die Jahre der Leiden vorbei waren, und ihre Herzen zitterten leise.

Eine ewige Melodie erfüllte den Himmel und seine purpurne Bläue, eine ewige Fackel brannte. Und die Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. Und wie göttliche Schiffe, bemannt mit den Geistern der Freiheit, segelten große Wolken in schnellem Winde vor ihnen her.

Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die weite Straße ihres Ruhmes hinab.

 

Der Irre

 

Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die große eiserne Tür auf. Er war im Vorgarten, er klinkte die Gartenpforte auf, und er war draußen.

So, und nun sollte die Welt etwas erleben.

Er ging die Straßenbahnschienen entlang, zwischen den niedern Häusern der Vorstadt durch. Er kam an einem Feld vorbei und warf sich an seinem Rande in die dicken Mohnblumen und den Schierling. Er verkroch sich ganz darein, wie in einen dicken grünen Teppich. Nur sein Gesicht schien daraus hervor wie ein weißer aufgehender Mond. So, nun saß er erst einmal.

Er war also frei. Es war aber auch höchste Zeit, daß sie ihn herausgelassen hatten, denn sonst hätte er alle umgebracht, alle miteinander. Den dicken Direktor, den hätte er an seinem roten Spitzbart gekriegt und ihn unter die Wurstmaschine gezogen. Ach, was war das für ein widerlicher Kerl. Wie der immer lachte, wenn er durch die Fleischerei kam.

Teufel, das war ein ganz widerwärtiger Kerl.

Und der Assistenzarzt, dieses bucklige Schwein, dem hätte er noch mal das Gehirn zertreten. Und die Wärter in ihren weiß gestreiften Kitteln, die aussahen wie eine Bande Zuchthäusler, diese Schufte, die die Männer bestahlen und die Frauen auf den Klosetts vergewaltigten. Das war ja rein zum Verrücktwerden.

Und er wußte wirklich nicht, wie er da seine Zeit ausgehalten hatte. Drei Jahre oder vier Jahre, wie lange hatte er da eigentlich gesessen, dahinten in diesem weißen Loch, in diesem großen Kasten, mitten unter Verrückten. Wenn er da morgens in die Fleischerei ging, über den großen Hof, wie sie da herumlagen und die Zähne fletschten, manche halbnackt. Dann kamen die Wärter und schleppten die fort, die sich besonders schlecht aufführten.