Mißbilligend nahm er wahr, daß er an sich selber schrieb oder an eine erdachte Person, nicht an eine wirkliche. Er konnte ja die Epistel nicht einmal abschicken. Er hatte keine Adresse. Er hatte versäumt, die Rückseite des Briefs, der aus Genf kam, anzuschauen. Ferner war zu befürchten, daß der Vater wie von allen seinen Handlungen auch davon Kenntnis erhielt. Als Kind hatte er sich eingebildet, daß der Vater im Mittelpunkt des Weltalls saß und sämtliche Sünden und Vergehungen aller Leute in der Stadt mit einem Marmorgriffel auf eine Marmortafel verzeichnete. Reste dieses Glaubens waren noch in ihm vorhanden, noch jetzt formten sich bisweilen innere Szenen, imaginäre Gespräche daraus. Gebietend stand der Vater im Zimmer. Als Zauberer hatte er die Macht, durch geschlossene Türen zu gehen. In seiner Eigenschaft als Zauberer hatte ihm Etzel den Namen Trismegistos gegeben. Immer, wenn er sich den Vater in einer strafenden Aktion dachte, hieß er ihn so. Der Dialog vollzog sich ungefähr, wie folgt: Trismegistos: Wo bist du, Etzel; – Hier bin ich. – Warum verbirgst du dich vor mir; – Ich verberge mich nicht, ich habe nur die Maske vom Gesicht genommen. – Wie, du erdreistest dich, ohne Maske vor mir zu erscheinen? – Wenn einer allein ist, Vater, braucht er doch keine Maske. – Aber ich sehe in dich hinein, ich bin überrascht, ich bin sehr überrascht, ich wünschte, ich hätte dich nicht ohne Maske erblickt.
Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in einen Umschlag, schrieb darauf: »An meine Mutter, ich weiß nicht wo«, und schob ihn in ein Geheimfach, das er sich in der Schublade seines Arbeitstisches selbst angefertigt hatte und worin noch andere Papiere lagen, Notizen, Aufzeichnungen, Gedichte und als besondere Kostbarkeit zwei Briefe, die er von Melchior Ghisels erhalten hatte. Dann saß er, das Kinn auf beide Hände, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er hätte längst zu Bett gehen sollen, doch in seiner Brust war eine nicht zu beschwichtigende Unruhe. Von der Straße herauf tönte ein langer, schriller Pfiff. Der Regen rauschte auf die Bäume. Er sprang auf, ging herum, blieb dann vor dem Bücherregal stehen. Jedes einzelne Buch war ein Freund. Er hatte sie nach und nach von seinem Taschengeld gekauft oder sie sich von der Großmutter schenken lassen, manche hatte ihm auch der Vater geschenkt. Den ersten Platz nahmen die Schriften seines geliebten Melchior Ghisels ein, vier schöngebundene Bände mit eigenhändiger Widmung des Autors. Dieser war ihm wie ein Gott und jeder Satz in den Büchern eine Offenbarung. So kann nur ein Sechzehnjähriger einen Schriftsteller verehren. So reine Glut hegt nur der unentfachte Geist. Die Bewunderung, mit der Etzel an dem Mann und seinem Werk hing, war zugleich voll Zärtlichkeit. Ghisels, ein Autor von Kierkegaardscher Tiefe, war ihm Prophet und Führer. Oft las er vor dem Einschlafen eine halbe Seite, ganz langsam, mit atemloser Andacht, ein schon zehnmal gelesenes Kapitel, dann verlöschte er schnell das Licht und lächelte in den Schlummer hinein. Er kannte Ghisels persönlich nicht.
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