Die Neugierigen waren sämtlich übereingekommen, den armen Maibaum ohne Blütenschmuck ganz allein im Januarwinde auf dem Kirchhof der Kapelle von Braque klappern zu lassen.
Hauptsächlich strömte das Volk in die Zugänge des Justizpalastes; denn man wußte, die vor zwei Tagen angekommenen flamländischen Gesandten würden bei der Vorstellung des Mysteriums und bei der Wahl des Narrenpapstes, die ebenfalls im Hauptsaal des Palais geschehen sollte, gegenwärtig sein.
Es war nicht leicht in das Innere zu dringen, obgleich der Saal damals für den größten bedeckten Raum in der ganzen Welt galt. Der mit Volk gefüllte Platz vor dem Palast bot den Neugierigen an den Fenstern der Häuser den Anblick eines Meeres, wohin fünf oder sechs Straßen, gleich Mündungen von Flüssen, stets neue Fluten von Köpfen ausgossen. Die Wogen dieses stets schwellenden Gedränges brachen sich an den Ecken der Häuser, die hier und da gleich Vorgebirgen in das unregelmäßige Becken des Platzes vorsprangen. Im Mittelpunkt der gotischen Vorderseite des Palastes wogte auf der großen Treppe ein doppelter Strom Hinauf- und Hinabsteigender auf und nieder, der, nachdem er sich unter dem mittleren Auftritt gebrochen, in breiten Wellen die Seitenabhänge hinabfloß. So rieselte es die Haupttreppe hinab unaufhörlich auf den Platz, wie ein Wasserfall in einen See. Geschrei, Lachen, Trampeln von tausend Füßen erweckte ungeheuren Lärm. Von Zeit zu Zeit ward dieser verdoppelt; der Strom, der das Gedränge zur Haupttreppe trieb, brauste zurück und wirbelte. Der Rippenstoß eines Bogenschützen oder das Pferd eines Sergeanten der Prévoté, der die Ordnung wiederherstellte, verursachte diese Wirren. An den Türen, an den Fenstern, zu den Dachluken heraus, auf den Dächern wimmelten zu Tausenden wackere Bürgerfiguren, ruhig und ehrenfest, den Palast, die Menge anguckend, ohne weitere Ansprüche; denn von der Pariserschaft begnügt sich die Mehrzahl, nur die Zuschauer zu beschauen; eine Mauer, hinter der sich irgend etwas ereignet, ist für uns schon ein hinreichender Gegenstand der Neugier.
Wenn der Leser damit einverstanden ist, so wollen wir versuchen, den Eindruck wiederzugeben, der auf ihn gewirkt hätte, wenn er, mit uns über die Schwelle jenes großen Saales treibend, mitten in das Gewühl geraten wäre. Im ersten Augenblick summt es uns in den Ohren, schwimmt es uns vor den Augen, über unsern Häuptern erhebt sich ein doppeltes Spitzgewölbe, mit hölzernen Bildwerken ausgetäfelt, mit goldnen Lilien auf azurnem Grunde bemalt; unsere Füße betreten einen Estrich von wechselweis gelegten, schwarzen und weißen Marmorplatten. Einige Schritte weit von uns erhebt sich ein ungeheurer Pfeiler, weiterhin ein zweiter, – ein dritter, – in der ganzen Länge des Saales sieben, die in der Mitte seiner Breite die Kerne des Doppelgewölbes stützen. Rings um die vier ersten Pfeiler Kaufbuden voll Glaswaren und Flitterstaat; um die drei letzteren sehen wir Eichenbänke, abgerieben und blankgeputzt von den Hosen der Prozessierenden und von den langen Röcken der Anwälte. Die hohen Mauern des Saales rings entlang, in den Räumen zwischen den Türen, den Fenstern, den Pfeilern zeigen sich in unabsehbarer Reihe die Bildsäulen aller Könige von Frankreich seit Pharamund, – einige faulenzerisch-schlaftrunken mit niedergeschlagenen Blicken und schlaff herabhängenden Armen, – so viele andere wieder gewaltig und kriegerisch, Haupt und Hände gen Himmel gewandt. Ferner blendet uns aus den langen in Spitzbogen auslaufenden Fenstern der tausendfarbige Glanz der Glasmalerei; an den weiten Ausläufen des Saales prunken die reichen, mit feiner Bildhauerarbeit geschmückten Pforten. Den Eindruck zu vollenden schimmert alles – Gewölbe, Pfeiler, Mauern, Gesims, Getäfel, Türen, Statuen – von oben bis unten in der Farbenpracht des Goldes und Azurs, – obgleich schon in jenem Zeitpunkt, da wir den Saal in Gedanken betreten, etwas angedunkelt.
Man versetze sich nun in diesen unermeßlichen länglichen Saal, erhellt von dem bleichen Lichtschimmer eines Januartages, gewaltsam in Besitz genommen von einer buntscheckigen lärmenden Menge, die die sieben Pfeiler umflutet, – und man wird eine, wenn auch noch etwas wirre Vorstellung von dem ganzen Gemälde haben, dessen sonderbare Einzelheiten wir alsobald genauer anzugeben versuchen wollen.
Von den beiden Enden dieses ungeheuren Vierecks nahm das eine jene berühmte Marmorplatte aus einem einzigen Stück ein, die so lang, so breit und so dick war, daß (um uns des Stils der alten Schriften zu bedienen, der einem Gargantua Appetit gemacht hätte) „eine ähnliche Marmorschnitte“ auf der ganzen Welt nicht wieder zu finden war; am andern Ende sah man die Kapelle, in der Ludwig XI. sich, kniend vor der heiligen Jungfrau Maria, in Stein hatte abbilden lassen, und wohin er auch, ohne sich darum zu kümmern, das in der Reihe der königlichen Bildsäulen nunmehr zwei Blenden leer blieben, die Standbilder Karls des Großen und Ludwigs des Heiligen schaffen ließ, zweier Heiligen, von denen er annahm, daß sie, als Könige von Frankreich, im Himmel großes Ansehen haben müßten. Diese Kapelle atmete ganz jenen reizenden Geschmack der kostbaren Baukunst, der wunderbaren Skulptur, der feinen und grundgediegenen Meißelarbeit, in der wir den Charakter der Endzeit gotischer Kunst erkennen und der bis gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts sich selbst noch in den phantastischen Werken des damals modern gewordenen Stils findet. Ein besonderes Meisterstück, was Zartheit und Grazie betraf, war die kleine gotische Rose über dem Portal, – man nannte sie einen Stern mit Kanten. In der Mitte des Saales, gegenüber der großen Türe, lehnte sich eine mit Goldstoff behangene Estrade an die Wand; man hatte für die Estrade vermittelst eines Fensters, das zu dem heimlichen Gang der goldenen Kammer gehörte, einen eigenen Eingang hergerichtet; sie war zu Plätzen für die zum Besuch des Mysteriums eingeladenen flamländischen Gesandten und für andere hohe Personen bestimmt. Die früher benannte Marmorplatte war der Ort, wo man herkömmlicherweise das Mysterium aufführte; von früh an war sie zu diesem Zwecke hergerichtet worden; die prachtvolle, aber von den Absätzen der Parlamentsschreiber bereits ganz zerkratzte Riesentafel trug jetzt ein ziemlich hohes Holzgerüst, dessen obere Fläche den Blicken aller Zuschauer im ganzen Saal gleich günstig gelegen, als Bühne dienen sollte, während das Innere, durch Teppichwände verkleidet, den bei der Darstellung beteiligten Schauspielern eine Art von Garderobe bieten mußte; eine ganz naiv von außen angelegte Leiter vermittelte den Verkehr zwischen der letzteren und der Bühne und gab ihre steilen Sprossen für die Auftritte und Abgänge der Handelnden her; da gab es doch wirklich kein so unvorhergesehenes Kommen, keine so unerwartete Entwicklung, keinen so heimlich vorbereiteten Knalleffekt, der nicht gehalten gewesen wäre, sich auf dieser Leiter hinauf zu bemühen. Unschuldig ehrwürdiges Kindesalter der Kunst und der Maschinerie!
Vier Sergeanten des Bailli vom Palast standen, als beeidigte Aufseher aller Volksfreuden, an Festtagen wie bei Hinrichtungen, an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mit dem zwölften Glockenschlage der Mittagstunde, nach der großen Uhr des Palastes, sollte die Vorstellung beginnen; – ohne Zweifel ziemlich spät für eine Bühnenvorstellung; indessen, man mußte nun einmal die den Gesandten gelegene Stunde wählen.
Jene ganze Volksmenge wartete nun schon seit Tagesanbruch. Eine gute Anzahl dieser wackern Schaulustigen klapperte seit so geraumer Zeit aus Frost mit den Zähnen vor der großen Treppe des Palastes; etliche versicherten sogar, die Nacht unter dem großen Tor zugebracht zu haben, um ja gewiß zuerst hineinzukommen. In jedem Augenblick schwoll die Menge an und begann, wie ein Gewässer, das seine durchschnittliche Höhe überschritt, längs der Wände emporzusteigen, rings um die Pfeiler anzuwachsen, sich über die Gesimse, Fensterbrüstungen, über alle architektonischen Vorsprünge, über alle Reliefs der Skulptur zu verbreiten. Da mußten dann Unbequemlichkeit, Ungeduld, Langweile, da mußte die Freiheit eines Tages des Zynismus und der Narretei, die durch Ellenbogenstöße oder Tritte wohlbeschlagener Schuhe aufgerüttelten Händel, die Ermüdung als Folge des langen Wartens dem unruhigen Lärmen dieser eingeschlossenen, festgepfropften, gepreßten, zerwalkten, beinahe erstickenden Menschenmenge den Charakter von Bitterkeit aufprägen. Man hörte nichts als Klagen und Flüche über die Flamländer, den Prévot des Handelsstandes, den Kardinal von Bourbon, den Hausvogt vom Palast, Frau Margarete von Österreich, die bestockten Trabenten, über Kälte, Hitze, schlechtes Wetter, – und über den Bischof von Paris, den Narrenpapst, die Pfeiler, die Statuen, über die geschlossene Tür hier, über das offene Fenster dort, – alles zum großen Spaß der Banden von Studenten und Lakaien, die in der Menge hin und wieder wie ausgesät waren, unter das allgemeine Mißbehagen noch ihre besonderen Einfälle und Spötteleien mengten und dadurch die allgemeine üble Laune noch sozusagen wie mit Nadelstichen spickten.
Ein Rudel solcher lustigen Kobolde hatte, nachdem sie die Scheiben eines Fensters eingeschlagen, verwegen auf einem Gesimse Posten gefaßt und trieb von da aus, alles musternd, seinen Spott mit allem, was drinnen und draußen im Saal und auf dem Platze wimmelte. Aus ihren Grimassen, aus ihrem schallenden Gelächter, aus ihren drolligen Zurufen, die sie von einem Ende des Saales zum andern an ihre Kameraden richteten und von diesen erwidert bekamen, ließ sich leicht abnehmen, daß diese jungen Musensöhne die Langeweile und Ermüdung der übrigen Anwesenden nicht teilten und es verstanden, zu ihrer besonderen Ergötzlichkeit einstweilen das, was unter ihren Augen vorging, zu einem Schauspiel zu gestalten, wobei sie das andere geduldig erwarten konnten.
„Bei meiner Seele, das seid Ihr, Johannes Frollo de Molendino!“ schrie einer von ihnen, ganz von der Art eines kleinen blonden Kobolds, von einem netten spitzbübischen Wesen, der sich an das Akanthus-Schnitzwerk eines Kapitäls angerankt hatte; „mit Recht heißt Ihr Johann von der Mühle, denn Eure zwei Arme und zwei Beine haben ganz das Ansehen von vier Windmühlenflügeln, die just im Gange sind. Wie lange seid Ihr denn schon hier?“
„Bei des Teufels Mitleid!“ versetzte Johannes Frollo, „über vier Stunden schon, und ich hoffe, daß sie mir einst an meiner Zeit im Fegefeuer abgezogen werden; ich hörte die acht Sänger des Königs von Sizilien den ersten Vers des Siebenuhr-Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen.“
„Nette Sänger!“ nahm der andere das Wort, „haben Stimmen, noch spitzer als ihre Mützen. Der König hätte, bevor er dem heiligen Johannes eine Messe stiftete, doch zuerst anfragen sollen, ob dieser ehrliche Mann – der heilige Johann – den lateinischen Psalmgesang im provenzalischen Akzent vertragen kann?“
„Das ist nur, damit diese verdammten Sänger des Königs von Sizilien angestellt wurden; deshalb hat er’s getan“, belferte ein altes Weib in der Menge unten am Fenster.
1 comment