Diesen Beruf kann ein Vagabund immer ergreifen; auch ist es besser als zu stehlen, wie mir einige Söhne von Spitzbuben, meine Freunde, rieten. Zum Glück traf ich eines Tages auf Dom Claude Frollo, den ehrwürdigen Archidiakonus von Notre-Dame. Er zeigte mir Teilnahme, und ihm verdanke ich’s gegenwärtig, daß ich ein wahrer Gelehrter bin, der von Ciceros Officien bis zum Mortuolog der Cölestiner Latein versteht. Auch bin ich der Dichter des Mysteriums, das man heute unter großem Triumph beim Zulauf des Volkes im Saale des Palais gab. Ferner schrieb ich ein Buch von sechshundert Seiten über den wunderbaren Kometen von 1465, worüber ein Mann verrückt ward. Auch hatte ich noch in andern Unternehmungen Glück. Als ein Artillerie-Zimmermann arbeitete ich an der großen Bombarde von Jean Maugue, die, wie Ihr wißt, auf der Brücke von Charenton, am Tage, wo man Versuche mit ihr machte, platzte und vierundzwanzig Neugierige tötete. Ihr seht, daß ich keine schlechte Partie bin. Auch kenne ich noch viele Kunststücke, die ich Eure Ziege lehren kann, z. B. den Bischof von Paris nachzuäffen, den verfluchten Pharisäer. Und endlich wird mir mein Mysterium viel gemünztes Gold einbringen, wenn man mich bezahlt. Kurz, mein Ich, mein Geist, meine Wissenschaft steht zu Eurem Befehl; ich bin bereit, wie es Euch beliebt, mit Euch zu leben, keusch oder lustig, als Ehemann, wenn Ihr dies für gut haltet; als Bruder, wenn Euch das noch mehr gefällt.“
Gringoire schwieg und erwartete die Wirkung seiner Rede auf das junge Mädchen. Sie heftete den Blick zur Erde. „Phoebus“, sprach sie halblaut. Dann wandte sie sich zum Dichter: „Phoebus, was bedeutet das?“
Gringoire konnte zwar nicht genau begreifen, welche Beziehung zwischen jener Frage und seiner Anrede bestand, es war ihm aber nicht unangenehm, mit seiner Gelehrsamkeit glänzen zu können. Er antwortete, sich räuspernd: „Das ist ein lateinisches Wort und heißt die Sonne.“ – „Sonne?“ fragte Esmeralda. – „So hieß ein schöner Bogenschütze, der Gott war.“ – „Gott!“ wiederholte die Zigeunerin, und in ihrem Akzent lag etwas Sinnendes und Leidenschaftliches.
In dem Augenblick löste sich eines ihrer Armbänder und fiel zu Boden. Gringoire bückte sich, es aufzunehmen, und als er sich aufrichtete, war das Mädchen mit der Ziege verschwunden. Er hörte das Geräusch eines Riegels; es war ohne Zweifel an einer kleinen Türe, die mit einer benachbarten Kammer in Verbindung stand und von außen geschlossen wurde. „Hat sie mir ein Bett hiergelassen?“ fragte sich unser Philosoph. Zum Schlaf eignete sich weiter nichts als eine kurze hölzerne Kiste. Der Deckel war noch dazu mit Schnitzwerk geschmückt, wodurch Gringoire, als er sich ausdehnte, ein Gefühl empfand, ähnlich ungefähr dem des Mikromegas, wenn er sich über die Spitzen der Alpen schlafen gelegt hatte.
„Wohlan!“ dachte er, „man muß sich so viel wie möglich in die Umstände schicken, sich in das Schicksal ergeben. Aber welch sonderbare Brautnacht! Wie schade! In der Ehe des zerbrochenen Kruges lag doch etwas Naives und Vorsintflutliches, das mir gefiehl.“
13. Die Kirche Notre-Dame
Gewiß ist auch gegenwärtig die Kirche Notre-Dame noch immer ein majestätischer und erhabener Bau. So schön sie sich auch alternd mag erhalten haben, kann man dennoch nicht unterlassen, über die zahllosen Entwürdigungen und Verstümmelungen zu seufzen, womit Zeit und Menschen ohne Achtung für Karl den Großen, der den ersten Stein, und Philipp August, der den letzten Stein legte, den ehrwürdigen Bau entstellen. An der Vorderseite dieser alten Königin unsrer Kathedralen findet man neben jeder Runzel eine Narbe.
Um zuerst einige Hauptbeispiele zu erwähnen, so gibt es gewiß nur wenig schönere architektonische Werke als die Fassade mit den drei in Spitzbögen gehauenen Portalen, die mit Schnörkeln verblümte Reihe von achtundzwanzig königlichen Nischen, die mit zwei Seitenfenstern geschmückte Rosette in der Mitte, die hohe und schlanke Galerie von kreuzartigen Arkaden, die eine schwere Fläche unter dünnen Säulen trägt, und endlich als die zwei schwarzen massiven Türme mit ihrem Schieferdache, Teile, die mit dem prächtigen Ganzen im Einklang stehen und in fünf gigantischen Stockwerken übereinanderliegen. Ohne Verwirrung entwickelt sich alles dem Auge mit den unzähligen Einzelheiten der Bildhauer- und Ziselierkunst und vereint sich mächtig mit der ruhigen Größe des Ganzen. Es gleicht einer ungeheuren steinernen Symphonie, das riesenhafte Werk des Menschen und des Volkes; es ist ein in sich zusammenhängendes Ganzes, ein wunderbares Erzeugnis der Vereinigung aller Kräfte einer Epoche, wo aus jedem Stein die Phantasie des Meißlers vereint mit der des Maurers hervorspringt, kurz, ein Menschwerk, fruchtbar und mächtig wie Gottes Schöpfung, dessen doppelten Charakter: Abwechslung, Ewigkeit es geraubt zu haben scheint.
Was wir hier von der Fassade sagten, gilt ebensogut von der ganzen Kirche. Was wir von der Kathedrale von Paris sagen, gilt von der ganzen Kirchenbaukunst des Mittelalters.
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