– „Ich weiß es nicht“, sagte Emeralda, „aber“, fügte sie lebhaft hinzu, „warum seid auch Ihr mir gefolgt?“ – „Bei meiner Seele, ich weiß es ebensowenig.“
Ein Augenblick des Schweigens folgte. Gringoire kritzelte mit dem Messer auf dem Tische. Das Mädchen lächelte und liebkoste Djali.
„Ihr habt da ein schönes Tier“, sagte Gringoire. – „Meine Schwester.“ – „Weshalb heißt Ihr Esmeralda?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Auch das nicht?“ –
Sie zog aus ihrem Busen einen kleinen länglichen Beutel, der vom Halse an einer kleinen Kette von Zaubergestalten hing; das Beutelchen verbreitete einen starken Kampfergeruch. Es war mit grüner Seide überzogen, und im Mittelpunkt befand sich ein dickes, geschliffenes grünes Glas, ähnlich einem Smaragd.
„Vielleicht deshalb“, sagte sie.
Gringoire wollte das Beutelchen in die Hand nehmen; sie fuhr zurück. – „Berührt es nicht. Es ist ein Amulett, Ihr vernichtet den Zauber, oder dieser vernichtet Euch.“
Die Neugier des Dichters ward stets heftiger. – „Wer gab es Euch?“
Sie legte den Finger auf den Mund, und barg das Amulett in ihrem Busen. Er versuchte noch andere Fragen, aber sie erwiderte kaum.
„Was heißt Esmeralda?“ – „Weiß nicht.“ – „Aus welcher Sprache ist das Wort genommen?“ – „Ich glaube aus der Zigeunersprache.“ – „Das dacht ich auch. Ihr seid nicht aus Frankreich?“ – „Weiß nicht.“ – „Habt Ihr Eltern?“ Sie sang nach einer alten Melodie:
Mein Vater ist ein Vogel,
Meine Mutter ist desgleichen;
Ich kann das andre Ufer
Auch ohne Schiff erreichen;
Meine Mutter ist ein Vogel,
Mein Vater ist desgleichen.
„Schön!“ sagte Gringoire. „Wann kamt Ihr nach Frankreich?“ – „Ganz klein!“ – „Nach Paris?“ – „Im vergangenen Jahre. Als wir durch das päpstliche Tor einzogen, sah ich Grasmücken in der Luft vorbeiziehen. Es war Ende August. Da sagte ich: der Winter wird streng.“
„Jawohl“, sagte Gringoire, entzückt über die Veränderung des Gesprächs; „ich habe mir den ganzen Winter hindurch die Fingerspitzen mit dem Atem gewärmt. Ihr habt also die Gabe, in der Zukunft zu lesen?“ – Sie verfiel wieder in die kurze Rede: „Nein.“ – „Der Mann, den Ihr Zigeunerherzog nanntet, ist wohl der Führer Eures Stammes?“ – „Ja.“ – „Er hat uns verheiratet“, fügte der Dichter blöde hinzu. Sie schnitt ihr gewöhnliches Mäulchen: „Ich weiß ja nicht einmal deinen Namen.“ – „Meinen Namen? Wenn Ihr ihn wissen wollt, Peter Gringoire.“ – „Meiner ist schöner.“ – „Böses Mädchen! Ihr werdet mich aber nicht ärgern. Wenn Ihr mich besser kennt, werdet Ihr mich vielleicht mehr lieben. Auch habt Ihr mir Eure Geschichte mit so viel Zutrauen erzählt, daß ich Euch auch ein wenig von meiner schuldig bin. So wißt, ich heiße Peter Gringoire und bin der Sohn eines Pächters des Amtes von Gonesse. Mein Vater ward von den Burgundern gehängt, meiner Mutter ward der Bauch von den Picardern aufgerissen. Dies geschah bei der Belagerung von Paris vor 20 Jahren. So ward ich mit sechs Jahren zur Waise und hatte auf dem Pariser Pflaster keine andren Sohlen als die meiner Füße. Ich weiß nicht, wie ich den Zwischenraum von sechs bis sechzehn Jahren zurücklegen konnte; eine Obsthändlerin warf mir hier ein Pflaume, ein Bäcker dort eine Brotkruste hin; abends ließ ich mich von der Polizei aufgreifen, die mich ins Gefängnis brachte, und fand dort ein Strohlager. Alles dies hinderte mich nicht, groß und mager zu werden, wie Ihr seht. Im Winter wärmte ich mich an der Sonne im Vorhof des Hotel von Sens und fand es sehr lächerlich, daß das Freudenfeuer des St. Johannistages auf die Hundstage verspart wurde. Mit sechzehn Jahren wollte ich mir einen Beruf wählen. Nach und nach habe ich in allen Berufen herumgetappt. Bald bemerkte ich, daß mir zu jedem etwas fehlte. Da ich sah, ich taugte zu nichts, ward ich Dichter und Rhythmenschreiber.
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