Als er eintrat, waren Vater und Mutter schon am Tage vorher gestorben. Ein kleiner Bruder in Windeln lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Dieser allein war ihm von seiner Familie verblieben; der Jüngling nahm das Kind auf den Arm und verließ gedankenvoll das Haus.
Bis dahin lebte er nur für die Wissenschaft, jetzt begann er sein Dasein für das Leben, denn diese Katastrophe ward für Claude zur Krise. Als Waise im neunzehnten Jahre, als ältester Sohn und Familienhaupt, ward er auf rauhe Weise den Träumereien der Schule entrissen und auf die Wirklichkeit angewiesen. Von Mitleid bewegt, empfand er Leidenschaft und Hingebung für seinen Bruder, ein ihm bis dahin fremdes und dennoch süßes Gefühl seines Herzens, nachdem er nur Bücher geliebt hatte. Diese Zuneigung entwickelte sich bis zur merkwürdigsten Höhe; in einer so frischen Seele glich sie der ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, hatte er sie kaum gekannt; zwischen Büchern gleichsam eingemauert und begierig, alles zu erlernen und zu durchforschen, achtete er nur seines Verstandes, der in den Studien sich erweiterte, und seiner Phantasie, die beim Durchforschen der Dichter sich erhob; kurz, der arme Student hatte noch nicht Zeit gehabt, sein Herz zu fühlen. Jener jüngere, verwaiste Bruder, der ihm so plötzlich aufgebürdet ward, schuf ihn zum neuen Menschen um. Er sah, daß es noch andere Dinge in der Welt gab als Homers Verse und der Sorbonne Spekulationen; daß der Mensch der Liebe bedarf, und daß ein Leben ohne zartere Neigung dem trockenen, kreischenden und sich abreibenden Räderwerk gleicht. Allein er wähnte, die Liebe des Blutes und der Familie genüge und sein kleiner geliebter Bruder könne sein ganzes Dasein ausfüllen; denn er befand sich noch in dem Alter, wo die Täuschung nur durch Täuschung ersetzt wird. Mit der Leidenschaft eines tiefen, glühenden Charakters umfing er seinen kleinen Jehan mit Liebe; das arme, hinfällige, blonde und rosige Geschöpf, die Waise, ohne andere Stütze als die einer Waise, rührte tief sein Herz, und als ernster Denker sann er über Jehan mit unendlichem Mitleid. Er hegte ihn wie ein zerbrechliches, kostbares Kleinod. Er ward ihm mehr als Bruder, er ward ihm zur Mutter.
Der kleine Jehan hatte noch säugend seine Mutter verloren. Claude übergab ihn einer Amme. Außer Tirechappe besaß er als Erbschaft seines Vaters das Lehen du Moulin. Es bestand aus einer Mühle auf einem Hügel beim Schloß Bicêtre. Die dort wohnende Müllerin säugte ein schönes Kind; die Universität lag in der Nähe, und Claude trug sein Kind zu jener Frau. Weil er jetzt fühlte, daß ihm eine Last aufgebürdet war, faßte er das Leben von der ernsten Seite. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder ward ihm nicht allein zur Erholung, sondern auch zum Zweck seiner Studien. Er beschloß, sich gänzlich einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich war, und nie eine Gattin, nie ein anderes Kind zu besitzen, sondern stets nur das Glück seines Bruders im Auge zu haben. Er wandte sich mit noch höherem Eifer seinem geistlichen Beruf zu. Sein Verdienst, sein Wissen, sein Stand als unmittelbarer Vasall des Bischofs von Paris öffneten ihm weit die Tore der Kirche. Mit zwanzig Jahren ward er durch besondere Dispensation des römischen Stuhles Priester und bediente als der jüngste Kaplan von Notre-Dame den Altar, den man wegen der dort gelesenen Spätmesse Altare pigrorum nannte.
Während er sich dort mehr als jemals in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur für eine Stunde verließ, um zum Lehen Moulin zu eilen, erwarb er sich wegen seiner mit Charakterstärke und Strenge verbundenen Gelehrsamkeit, wie man beides in dem Alter selten vereint findet, die Bewunderung und Achtung des ganzen Klosters. Vom Kloster aus verbreitete sich sein Ruf als Gelehrter unter dem Volk und verwandelte sich dort, wie es damals häufig geschah, in den Ruf eines Zauberers. Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sack zog, fand er wirklich, er sei sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine Warze auf dem linken Auge, sein Kopf stand zwischen den Schultern, das Rückgrat war gebogen, der Brustkasten ragte hervor, die Beine waren verdreht; er schien aber Lebenskraft zu besitzen, und obgleich man unmöglich unterscheiden konnte, welche Sprache er stammelte, deutete sein Geschrei auf Kraft und Gesundheit. Er taufte sein Adoptivkind und nannte es Quasimodo. Vielleicht wollte er damit den Tag andeuten, an dem er es fand, vielleicht auch damit bezeichnen, das kleine Geschöpf sei unvollständig und gleichsam nur flüchtig entworfen. Wirklich war auch Quasimodo einäugig, bucklig, krummbeinig, fast nur ein Beinahe.
16.
1 comment