Es war eine eckige, unruhige Masse in einem Sack, der ihm bis an den Hals reichte. Der Kopf ragte hervor und war nicht wenig mißgestaltet; man sah nur einen Wald roter Haare, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen beißen zu wollen. Das Ganze rührte sich im Sacke zum großen Schrecken der Menge, deren Umkreis unaufhörlich anschwoll und sich erneute. Eine reiche und schöne Frau, die ein artiges Mädchen von sechs Jahren an der Hand hielt und einen langen Schleier vom goldnen Horn ihres Hauptschmuckes herabhängen ließ, blieb im Vorbeigehen vor der Bank stehen, betrachtete einen Augenblick das unglückliche Geschöpf und sagte, sich mit Widerwillen abwendend: „Ich dachte, man setzte hier nur Kinder aus.“ Dann wandte sie den Rücken und warf einen Gulden in das Becken, daß die armen Frauen der Kapelle Etienne Haudry die Augen weit aufrissen.
Einen Augenblick später wandelte der gelehrte und ernste Robert Mistricolle, Protonotar des Königs, mit einem großen Meßbuch unter dem einen Arm und seiner Frau Guillemette am andern, vorüber. „Ein Findelkind“, sprach er, den Gegenstand untersuchend, „wahrscheinlich an den Gestaden des Flusses Phlegeto gefunden.“ – „Es hat nur ein Auge“, bemerkte Dame Guillemette, „auf dem andern hat es eine Warze.“ – „Das ist keine Warze“, begann Meister Mistricolle aufs neue; „es ist ein Ei, das einen ähnlichen Teufel enthält, der wieder ein kleines Ei mit einem Teufel usw. in sich trägt.“
„Herr Protonotar“, fragte eine der Betschwestern, „was prophezeit Ihr diesem Kind?“ – „Das größte Unglück“, erwiderte Mistricolle. – „Oh Gott“, rief eine Alte unter den Zuhörerinnen, „vergangenes Jahr hatten wir ja schon eine große Pest, und jetzt sagt man, die Engländer wollen in Harfleur landen.“ – „Dadurch läßt sich die Königin vielleicht abhalten, im September nach Paris zu kommen“, meinte eine andere, „der Handel geht jetzt schon schlecht genug.“
„So wäre es besser, der kleine Zauberer läge auf einem Reisigbündel als auf einer Bank.“ – „Ja, auf einem schönen flammenden Reisigbündel“, meinte die Alte. – „Das wäre klüger“, sagte Mistricolle.
Schon seit einigen Augenblicken hörte ein junger Priester dem Gespräche zu; sein Aussehen war streng, sein Blick tief, seine Stirne breit. Schweigend schob er die Umstehenden beiseite, untersuchte den kleinen Hexenmeister und streckte die Hand nach ihm aus. Es war Zeit; denn alle frommen Frauen freuten sich schon innerlich des schönen, flammenden Reisigbündels.
„Ich adoptiere das Kind“, sprach der Priester, verbarg es unter seinem Kleide und trug es davon. Erstaunt blickten ihm die Umstehenden nach. Bald war er durch das rote Tor verschwunden, das damals von der Kirche zum Kloster führte. Als das erste Erstaunen vorüber war, neigte sich eine der Betschwestern zum Ohre der nächststehenden: „Ich sagt’ es Euch, meine Schwester, der junge Claude Frollo ist ein Hexenmeister.“
15. Claude Frollo
In der Tat war Claude Frollo kein gewöhnlicher Mensch. Er gehörte zu einer jener Familien, die man hohen Bürgerstand oder kleinen Adel nannte. Seit seiner Kindheit war er von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt. Man hatte ihn Latein lesen gelehrt und erzogen, die Augen niederzuschlagen und leise zu sprechen. Schon als Kind hatte ihn sein Vater in das mönchische Kollegium de Torchi in der Universität gebracht; dort wuchs er bei dem Missale und dem Lexikon auf. Er war ein ernstes und trauriges Kind, das mit Eifer studierte und schnell lernte; während der Erholungsstunden stieß er kein lautes Geschrei aus und nahm nur geringen Anteil an den Spielen seiner Mitschüler. Mit sechzehn Jahren schon konnte der junge Geistliche in mystischer Theologie einem Kirchenvater, in kanonischer Theologie einem Vater der Konzilien, in scholastischer Theologie einem Doktor der Sorbonne die Spitze bieten.
Nachdem er die Theologie durchstudiert, hatte er sich auf die geistlichen Erlasse geworfen, und als diese verdaut waren, auf die Medizin und die freien Künste. Er studierte die Wissenschaft der Kräuter und Salben, ward erfahren in Fiebern und Quetschungen. In gleicher Weise erlangte er alle Grade der Lizenz, Meisterschaft und Doktorwürde in den freien Künsten. Er studierte Latein, Griechisch und Hebräisch, ein dreifaches, damals nicht häufig betretenes Heiligtum. Er hatte ein wahres Fieber, in der Wissenschaft zu lernen und Kenntnisse anzuhäufen. Mit achtzehn Jahren hatte er die vier Fakultäten hinter sich; nur einen Zweck schien dem Jüngling das Leben zu haben, den des Wissens. Ungefähr in dieser Zeit veranlaßte die außergewöhnliche Sommerhitze des Jahres 1466 die große Pest, die 40 000 Menschen im Gerichtsbezirke von Paris dahinraffte, unter diesen auch den Sterndeuter des Königs, Meister Arnoul, der ein sehr gescheiter und dazu drolliger Mann war. Damals verbreitete sich in der Universität das Gerücht, die Straße Tirechappe werde besonders durch die Krankheit verheert. Dort wohnten Claudes Eltern auf ihrem Lehen. Der junge Student eilte erschrocken zum väterlichen Hause.
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