Doch, wir wollen den schlimmsten Fall setzen, der sich als eine Folge der Dichtungen oder Schilderungen, wovon die Rede ist, denken läßt: gesetzt, daß sie die Wirkung hätten, alle Völker, die zwischen dem Ganges und Indus wohnen, zum Entschluß zu bringen, ihrer bisherigen Lebensart zu entsagen – (wiewohl viel eher zu besorgen ist, daß mein Emir-Derwisch ganz Indostan zu seiner fanatischen Sittenlehre, als daß Psammis nur die kleinste Provinz davon zu der seinigen bekehren werde) – aber setzen wir immer den Fall; wie groß meinen Euer Ehrwürden, daß der Schade sein würde? Psammis hätte alsdann zu Stande gebracht, woran die Weisen aller Völker seit einigen tausend Jahren mit sehr mittelmäßigem Erfolge gearbeitet haben; oder suchen diese Herren etwas andres als die Menschen glücklicher zu machen?«
»In der Tat«, sagte der Sultan lachend, »ich und der Iman mit seinen Brüdern würden bei einer solchen Verwandlung am meisten zu verlieren haben.«
»Die Gefahr scheint größer als sie ist«, sagte Nurmahal: »sechzig Millionen Menschen, wenn gleich ihr Gesetzgeber der Engel Jesrad selber wäre, würden nicht zehen Jahre ohne Sultan und ohne Iman aushalten können.«
»Das hoffen wir auch«, sagte der Sultan. »Indessen bleibt es bei dem, was ich dir versprochen habe, Danischmend. Hier, Iman, sehen Euer Ehrwürden den ernannten Nachfolger des Oberaufsehers über die Derwischen.«
»Die Wahl macht der Weisheit Ihrer Majestät Ehre«, versetzte der Iman mit einer Miene, welche ziemlich deutlich das Gegenteil sagte.
»Es kommt einem Sklaven nicht zu, einen andern Wunsch zu haben als den Willen seines Herrn«, sagte Danischmend: »aber wenn ich Ihre Majestät um irgend ein andres Dienstchen, wie schlecht es auch wäre, bitten dürfte« –
»Kein Wort mehr«, fiel ihm Schach-Gebal ein: »Danischmend ist der Mann, und gute Nacht!«
6.
Des folgenden Abends erinnerte der junge Mirza, daß Danischmend noch die Anwendung seiner Erzählung schuldig sei.
»Ihr erinnert mich zu rechter Zeit, Mirza«, sprach der Sultan. »Er sollte über etwas seine Meinung sagen, und statt dessen erzählt‹ er uns ein Märchen, oder eine Historie, die so gut als ein Märchen ist. Was war es, Danischmend?« »Sire, die Rede war von einer gewissen Polizei, welche vonnöten gewesen wäre, damit der Luxus, den die Sultanin Lili in Scheschian einführte, keinen sonderlichen Schaden tun könnte. Ich bat mir die Erlaubnis aus, die Geschichte des Emirs erzählen zu dürfen« –
»Gut; und ich merke ungefähr was du damit wolltest. Du schilderst uns ein kleines Völkchen von vier-oder fünfhundert Familien, die (dank der Sittenlehre des weisen Psammis die mich so gut einschläferte!) sich gute Tage machen, gut essen und trinken, sich von schönen Mädchen in den Schlaf singen lassen, und bei allem dem die unschuldigsten und glücklichsten Leute von der Welt sind. Das alles war recht schön zu hören: aber deine Meinung ist doch nicht, daß die Gesetzgebung des weisen Psammis für eine Nation, die aus Millionen Familien besteht, brauchbar sein könnte?«
»Ich danke Ihrer Majestät demütigst für die Gerechtigkeit, die Sie meiner Vernunft angedeihen lassen«, erwiderte Danischmend. »Die Geschichte des Emirs und der Kinder der Natur sollte in der Tat nur so viel dartun: daß es ganz verschiedene Sachen seien, ein kleines von der übrigen Welt abgeschnittenes Volk, und eine große Nation, welche in Verbindung mit zwanzig andern lebt, glücklich zu machen. Zwar ist die Glückseligkeit bei dieser sowohl als bei jenem das Resultat eines der Natur gemäßen Lebens. Aber eben darum muß der Unterschied in der Hauptsumme des Guten und Bösen verhältnisweise desto größer sein, je weiter ein Volk von der Natur entfernt und je weniger ihm möglich ist, sich mit den bloßen Naturgesetzen zu behelfen. Weder Psammis noch Konfucius, noch alle zwölf Imans, die echten Nachfolger unsers Propheten, selbst, hätten eine Gesetzgebung erfinden können, wodurch durch alle Angehörige eines großen Staats so frei, ruhig, unschuldig und angenehm leben könnten als die so genannten Kinder der Natur. Die Ursachen fallen in die Augen. Dieser Zusammenfluß von besondern Umständen, welche zu den notwendigen Bedingungen des Wohlstandes der letztern gehören, läßt sich bei keinem großen Volke denken. Bei diesem sind Freiheit und allgemeine Sicherheit unverträgliche Dinge; und die Gleichheit bringt unzählige Kollisionen und Zwistigkeiten hervor, welche durch das Recht der Stärke entschieden werden; der Stärkere unterwirft sich den Schwächern, der Schlaue den Einfältigen, und so hört die Gleichheit auf. Eben so unmöglich ist es, daß ein großes Volk die Vorteile der Künste, die das Leben verschönern und angenehmer machen, genießen könnte, ohne auch die Übel zu erfahren, welche den Mißbrauch derselben begleiten. Ein sehr kleines Volk kann durch Gesinnungen und Sitten in den Schranken der Mäßigung und des Mittelstandes erhalten werden, woran seine Glückseligkeit gebunden ist. Aber ein großes Volk hat Leidenschaften vonnöten, um in die starke und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden, welche zu seinem politischen Leben erfodert wird. Alles was der weiseste Gesetzgeber dabei tun kann, ist, den Schaden zu verhüten, welchen das Übermaß oder der unordentliche Lauf dieser Leidenschaften dem ganzen Staate zuziehen könnte. Einzelne Glieder mögen immer das Opfer ihrer eigenen Torheit werden; das ist ihre Sache. Der Gesetzgeber kann es nicht verhindern; denn dies müßte durch Mittel geschehen, wodurch größere Übel veranlaßt würden, um kleinere zu verhüten. Aus diesen Betrachtungen halte ich eine Polizei, durch welche der Luxus einer großen Nation ganz unschädlich werden sollte, für eine eben so große Schimäre, als das Projekt des Philosophen Fanfaraschin, welcher vor ungefähr hundert Jahren zwanzig Quartbände schrieb, um Anweisung zu geben, wie man alle Menschenkinder auf dem festen Land und auf den Inseln des Meeres zu Weisen und Virtuosen bilden könne; – ein Projekt, wovon die Idee schimmernd, die Unternehmung rühmlich, aber die Ausführung – unmöglich war, und, gegen die Absicht des guten Fanfaraschin, einige schlimme Folgen hatte, an die er nicht gedacht zu haben schien, und die desto schädlicher waren, weil eine lange Zeit niemand merkte, woher das Übel kam.«
»Zum Exempel?« sagte Schach-Gebal.
»Unter andern diese, daß unter fünfhundert jungen Leuten, die nach seiner Methode gebildet wurden, sich zum wenigsten hundertundfunfzig fromme, diskrete, schleichende, gleisnerische Schurken bildeten, welche ausgelernte Meister in der Kunst waren, ihre Leidenschaften zu verbergen, ihre schlimmen Neigungen in schöne Masken zu vermummen, die Unverständigen durch eine lauter Tugend und Religion tönende Phraseologie zu täuschen, mit Einem Worte, unter dem Schein der pünktlichsten Moralität mehr Gutes zu verhindern und mehr Böses auszuüben, als sie hätten tun können, wenn man sie ihrem Naturell und den Umständen überlassen hätte. – Ferner, daß aus den besagten fünfhundert ungefähr dreihundert heraus kamen, welche, wie abgerichtete Hunde, alle Künste machten die man sie gelehrt hatte, auf den Wink gingen, alles wieder von sich geben konnten was ihnen eingegossen worden war, über nichts ihre eigene Empfindung zu Rate zogen, an nichts zweifelten was man ihnen für wahr gegeben hatte, kurz, in allen Stücken die Affen des weisen Fanfaraschin vorstellten; welches (ich getraue mir es zu behaupten) gerade wider die Absicht der Natur war. Denn diese will, daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele. Es war an Einem Fanfaraschin genug; und dreihundert Personen, welche das gewesen wären, wozu ihre natürliche Anlage sie bestimmte, wären, so schlecht sie auch immer hätten sein mögen, doch noch immer besser gewesen als dreihundert Fanfaraschin; zumal da unter diesen dreihundert wenigstens zweihundertundneunzig mißlungene Fanfaraschin waren. Ferner« – –
»Ich habe genug«, fiel ihm der Sultan ein; »wann lebte dieser Fanfaraschin?«
»Zu den Zeiten Schach-Dolkas, Ihrer Majestät Urahnherrns, glorreichesten Andenkens« – –
»La Faridondäne la Faridondon«, – brummte der Sultan: »aber wir kommen aus dem Zusammenhang, Danischmend; was war es was du sagen wolltest, wenn dir der weise Fanfaraschin nicht zur Unzeit in die Zähne gekommen wäre?«
»Daß, wenn gleich nicht gänzlich zu verhindern sei, daß der Luxus einem großen Volke nichts Böses tun sollte, die Geschichte des Emirs und der Kinder der Natur uns dennoch ein paar Grundmaximen an die Hand geben könnte, durch deren Beobachtung die schöne Lili wenigstens den größten Teil des Übels, welches ihr die Unglück-weissagenden Alten angekrähet hatten, zu verhüten fähig gewesen wäre. Hätte diese liebenswürdige Dame meine Wenigkeit zu Rate ziehen können, so würde ich mir die Freiheit genommen haben, ihr diese Antwort zu geben:
Bei Auflösung aller Fragen, von welcher Art sie sein mögen, deucht mir die natürlichste und einfältigste Methode gerade die beste. Diese Maxime gilt vornehmlich, wenn von politischen Aufgaben die Rede ist, wo ganz unfehlbar die verwickelten und weitläufigen Auflösungen noch unbrauchbarer sind als bei allen andern. Die Frage ist: Was sollen wir tun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks, der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart, mit Einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig als möglich schade? – Die Natur, Madam, zeigt uns gegen jedes Übel, dem sie uns unterwürfig gemacht hat, auch ein zulängliches Mittel. Sollte es in diesem Fall anders sein? Ich denke, nein.
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