Was vermutlich das meiste dazu betrug, war die Freiheit, sich auf die Wissenschaften und schönen Künste zu legen, welche Ogul-Kan allen seinen Untertanen erteilte. Denn vormals war dies, wie bei den Ägyptern, ein ausschließliches Vorrecht der Priesterschaft gewesen. In einem Zeitlaufe von vierzig bis funfzig Jahren wurden die graubärtigen Bonzen gewahr, daß sie sich in einer neuen Welt befanden, welche nicht mehr so leicht zu behandeln war als die alte. Die Märchen, womit sie sonst die Fragen der Neugierigen gestillet hatten, wurden nicht mehr so befriedigend gefunden als ehmals. Die Untersuchungen über den Grund dessen was die Menschen wahr nennen, über die Natur, den Zweck und die wesentlichen Rechte der politischen Gesellschaft, und über andre Dinge von dieser Wichtigkeit, welche immer häufiger angestellt wurden, hatten die Folge, daß vieles, was man für wahr gehalten hatte, falsch befunden wurde. Und wenn man Gegenständen, die vor einer aufgeklärten Vernunft keine Gnade finden konnten, noch immer einen Rest von Ehrerbietung bewies, so war sie derjenigen gleich, womit man ein altes Gemälde aus den Kinderjahren der Kunst anzusehen pflegt: man schätzt es, nicht weil es gut, sondern weil es alt ist.
Es war von den Bonzen nicht zu erwarten, daß sie eine so wichtige Veränderung mit Gleichgültigkeit ansehen sollten. Auch taten sie ihr Möglichstes, dem sichtbaren Schaden zu wehren, den die Ausbreitung der Vernunft und der Menschlichkeit ihnen selbst und ihren Pagoden zufügte. Aber da sie merkten, daß die letzten Anstrengungen ihrer Kunst nur den Triumph ihrer Gegnerin zu zieren dienten: so schmiegten sie sich endlich unter ihr Schicksal, und betrugen sich ungefähr so, wie eine handelnde Nation, welche sich genötiget sieht, gewisse Zweige von Gewerbe, wiewohl mit augenscheinlichem Verluste, bloß deswegen fortzuführen, um nicht die Handlung selbst zu verlieren, und der Hoffnung entsagen zu müssen, durch irgend eine günstige Wendung der Umstände sich vielleicht dereinst ihres Schadens wieder zu erholen.
Indessen war eine von den heilsamen Folgen dieser Revolution in dem Nationalgeiste von Scheschian, daß die Bonzen selbst sich angelegen sein ließen, an persönlichen Verdiensten wieder zu gewinnen, was sie auf einer andern Seite verloren hatten.« Danischmend führt hiervon viel Besonderes an, unterläßt aber gleichwohl nicht, die Anmerkung zu machen: sie hätten bei allem dem nicht recht verbergen können, daß es ihnen lieber gewesen wäre, der Notwendigkeit so viele Verdienste zu haben überhoben zu sein. »Sie belauerten«, sagt er, »mit der scharfsichtigsten Aufmerksamkeit jede Gelegenheit und jedes Mittel, ihren großen Zweck mit wenigern Unkosten zu befördern; und glücklicher Weise für sie spielte der leichtsinnige Mutwille, womit einige die Freiheit der damaligen Zeiten zu mißbrauchen anfingen, ihnen Waffen in die Hände, welche sie, unter dem scheinbarsten Vorwande, gegen ihre unversöhnlichen Feinde, Witz und Vernunft, gebrauchen konnten.«27
Danischmend beginnt seine Erzählung von diesem Aufstand der Bonzen gegen die Usurpation einer tyrannischen Philosophie mit einer allgemeinen Betrachtung, welche nicht so viel benützt wird als sie es zu verdienen scheint. »Dasjenige«, sagt er, »was in allen sittlichen Dingen die Grenzen des Schönen und des Häßlichen, des Guten und des Bösen, des Rechts und des Unrechts bestimmt, ist eine allzu feine Linie, als daß sie nicht alle Augenblicke von der Unwissenheit und dem Leichtsinn übersehen, oder von den Leidenschaften übersprungen werden sollte. Daher eine Quelle von Übeln, welche man nicht verstopfen darf, auch wenn man es könnte, – der häufige Mißbrauch von Dingen, wovon der rechte Gebrauch der menschlichen Gesellschaft nützlich ist, und welchem abzuhelfen man bisher noch keine andre Mittel erfunden hat, als solche, die dem Dienste gleichen, den der gutherzige Bär in der Fabel seinem Freunde, dem Eremiten, erweist, da er, um eine Fliege von der Nase seines schlafenden Freundes zu verjagen, einen Stein ergreift, und auf Einen Wurf die Fliege und den Eremiten tötet.
Die Scheschianer geben uns hiervon ein merkwürdiges Beispiel. Sie waren unvermerkt klüger geworden als ihre Vorfahren. Ihre Begriffe von der wahren Beschaffenheit der Dinge, von ihrem Verhältnis gegen die Menschen, und von dem sehr wesentlichen Unterschiede zwischen den Gegenständen und den Vorstellungen, die man sich davon macht, klärten sich je länger je mehr auf. Die Vorteile dieser glücklichen Veränderung verbreiteten sich über das ganze Reich, wiewohl sie nur von scharfsichtigen Beobachtern bemerkt wurden. Aber die Nachteile, die damit verbunden waren, wahrzunehmen, dazu reichte das Gesicht des blödesten Kopfes hin. So lange die Nation dumm war, konnte sie nicht mißbrauchen – was sie nicht hatte. Damals war die Quelle alles Übels, daß sie ihre Vernunft gar nicht zu gebrauchen wußte. Jtzt, da die Scheschianer, wie junge Vögel, die Schwingen ihres Geistes zu versuchen anfingen, begegnete es oft, daß sie zu hoch fliegen wollten und fielen; oder daß sie sich unvorsichtig in Örter wagten, wo sie sich in verborgene Schlingen verwickelten. Kurz, diejenigen, die entweder wirklich mehr Witz hatten als andre, oder doch dafür angesehen sein wollten mehr zu haben, fühlten nicht so bald die Freiheit, in welche Ogul-Kan ihre Vernunft gesetzt hatte, als sie schon anfingen sie häufig zu mißbrauchen. Es war wohl bei den wenigsten so böse gemeint als es ihnen ausgelegt wurde. Wie leicht war es, in der hüpfenden Freude, die einem Menschen natürlich ist, der nach einer langen Gefangenschaft wieder freie Luft atmet und sich seiner Füße wieder nach eigenem Gefallen bedienen darf, wie leicht war es da, die vorerwähnte Linie zu überhüpfen, und vor lauter Freude – nicht mehr dumm zu sein, ein wenig närrisch zu werden! Man hatte den Aberglauben als ein großes Übel kennen gelernt; man bildete sich ein, sich nicht weit genug davon verlaufen zu können, und verlief sich also in den entgegen gesetzten Abweg. Indessen war dies allerdings kein geringes Übel, und verdiente die Aufmerksamkeit der Vorsteher des Staats um so mehr, da es von den höhern Klassen unvermerkt auch zu den niedrigern überging.«
Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. »Du berührst«, sagte er, »einen Punkt, über den ich schon lange gewünscht habe etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht ratsam die Quelle von solchen Übeln zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist. Und gleichwohl ist das Übel, von dem du sprichst, von einer so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genötigt ist seinem Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du mir in diesem Falle zu tun raten wolltest.«
»Sire« (antwortete Danischmend), »die Frage, worüber ich meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich die Auflösung davon gefunden habe; und mir deucht, diejenigen, welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders als durch einen kühnen Schnitt auflösen lassen.
Der Fall dünkt mich dieser zu sein: Wir befinden uns zwischen zwei Übeln, wovon wir schlechterdings genötigt sind eines zu wählen; es fragt sich also, welches wir wählen sollen?
Hier, deucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger Grundsatz angenommen werden: daß in einem solchen Falle, wenn das eine Übel einen unendlichen und unheilbaren Schaden tut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen ins unendliche vermindert werden kann, notwendig das letztere gewählt werden müsse.
Dies vorausgesetzt kommen hier zwei Übel in Betrachtung: der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird, entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird. Nun sage ich: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen, falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet; oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der Erleuchtung empor gehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe zu Stufe wieder in diese Barbarei zurück zu sinken, die den Menschen zu den übrigen Tieren herab würdiget, ja gewisser Maßen unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werden? Wer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? Wer soll Richter sein, ob diese Regeln in jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden? Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurteile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urteile mache? Wird die Vernunft und der Witz der Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntnis oder Unwissenheit, der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters, oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht? Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht über alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen? oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen eh man irgend ein Urteil faßt, nicht auf alle Gegenstände erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe, welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte, die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was sie bloß ihres eignen Vorteils wegen nicht untersucht haben wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind, oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu lassen.
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