Villiers, immer noch ganz erfüllt von seiner Begegnung in Soho und ihren Folgen, dachte sich, Austin könne vielleicht etwas Licht auf Herberts Geschichte werfen, und so fragte er nach ein wenig beläufigem Gerede plötzlich:

»Wissen Sie eigentlich zufällig etwas über einen Mann namens Herbert – Charles Herbert?«

Austin wandte sich mit einem Ruck um und starrte Villiers einigermaßen erstaunt an.

»Charles Herbert? Waren Sie denn vor drei Jahren nicht in der Stadt? Nein! Dann haben Sie nichts vom sogenannten Paul-Street-Fall gehört? Der hat seinerzeit viel Aufsehen erregt.«

»Was war das für ein Fall?«

»Nun, ein gewisser Gentleman, ein Mann in sehr guter Stellung, wurde auf der Souterraintreppe eines gewissen Hauses in der Paul Street tot auf gefunden, kalt und starr, in der Nähe der Tottenham Court Road. Natürlich hat nicht die Polizei diesen Fund gemacht – wenn man einmal die ganze Nacht aufbleibt und das Fenster erleuchtet ist, dann klingelt der Wachtmeister, aber wenn man tot vor einer Souterraintür liegt, dann wird man nicht gestört. In diesem Falle wie in vielen anderen wurde der Alarm von einer Art Vagabund ausgelöst – ich meine keinen Penner oder Eckensteher, sondern einen Herrn, dessen Geschäfte oder Vergnügungen oder beides ihn zum Betrachter der Straßen von London um fünf Uhr früh werden ließen. Dieses Individuum war nach seinen eigenen Worten ›auf dem Heimweg‹, woher und wohin ist nicht klar, und hatte Anlaß, zwischen vier und fünf Uhr durch die Paul Street zu gehen. Irgend etwas an der Hausnummer 20 machte ihn stutzig – er sagte absurderweise, das Haus hätte die unangenehmste Physiognomie, die ihm je untergekommen wäre, und jedenfalls schaute er die Treppe neben der Haustür hinunter und war nicht wenig erstaunt, einen Mann auf den Pflastersteinen liegen zu sehen, die Gliedmaßen seltsam verrenkt und mit dem Gesicht nach oben. Unserem Gentleman schien dieses Gesicht ganz sonderbar entsetzlich, und so lief er davon, um einen Polizisten zu suchen. Der nächste Konstabler war zunächst geneigt, die Sache nicht weiter ernst zu nehmen, und dachte an einen Betrunkenheitsunfall; er kam aber mit, und nachdem er das Gesicht des Mannes gesehen hatte, wurde ihm anders. Der Gentleman, der diese frühmorgendliche Entdeckung gemacht hatte, wurde nach einem Arzt geschickt, und der Polizist klingelte und pochte an der Tür, bis ein zerzaustes Dienstmädchen herunterkam, das noch mehr als halb schlief. Der Beamte machte das Mädchen darauf aufmerksam, was vor dem Souterrain lag, und es kreischte laut genug, um die ganze Straße aufzuwecken, doch über den Mann wußte es nichts – hatte ihn nie im Hause gesehen und so weiter. Inzwischen war der ursprüngliche Entdecker mit einem Doktor zurück, und es galt jetzt, hinunter zu dem Leichnam zu kommen. Das Gatter war offen, also stieg das ganze Quartett die Stufen hinunter. Der Arzt brauchte nur wenige Momente zu seiner Untersuchung, er sagte, der Ärmste sei schon seit mehreren Stunden tot, und man überführte die Leiche zunächst aufs nächste Polizeirevier. Hier fing der Fall an interessant zu werden. Der Tote war nicht beraubt worden, und in einer seiner Taschen fand man Papiere, anhand derer er zu identifizieren war als – nun, als Mann aus guter Familie, wohlhabend, in der Gesellschaft wohlgelitten und, soweit sich das erfahren ließ, ohne einen Feind. Ich nenne seinen Namen nicht, Villiers, weil er nichts mit der Geschichte zu tun hat, und weil es nicht gut tut, solche Affären von Toten wieder auszugraben, wenn es noch lebende Verwandte gibt. Die nächste Merkwürdigkeit war, daß sich die Mediziner nicht einig werden konnten, wie er nun zu Tode gekommen war. An seiner linken Schulter waren ein, zwei Blutergüsse, doch so klein, daß es eher aussah, als sei er unten aus der Küchentür gestoßen und nicht von der Straße aus übers Geländer geworfen oder auch nur die Treppe hinuntergezerrt worden. Und bei der Autopsie fand man keine Spur irgendwelchen Giftes. Natürlich wollte die Polizei alles über die Bewohner von Nummer 20 wissen, und auch hier – das weiß ich von privater Seite – kamen ein paar Merkwürdigkeiten zutage. Anscheinend wohnte dort ein Ehepaar, Mr. und Mrs. Charles Herbert. Er galt als ein Mann mit Landbesitz, obwohl es den meisten Leuten durch den Kopf gegangen sein dürfte, daß die Paul Street nicht gerade der Ort war, wo man eine in der Provinz begüterte Familie anzutreffen erwartete. Was Mrs. Herbert anging, so schien niemand zu wissen, wer oder was sie war, und – unter uns gesagt – ich glaube, daß diejenigen, die nach Informationen über ihr Vorleben fischten, sich in recht sonderbaren Gewässern fanden. Natürlich bestritten beide, etwas über den Verstorbenen zu wissen, und da nichts nachzuweisen war, wurde die Untersuchung gegen sie eingestellt. Aber es kamen einige sehr merkwürdige Dinge über sie heraus. Obwohl es beim Abtransport des Toten zwischen fünf und sechs Uhr morgens war, hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, und mehrere der Nachbarn liefen auch hinzu. Sie hielten mit freimütigen Bemerkungen anscheinend nicht zurück, und aus denen ergab sich, daß Nummer 20 in der Paul Street einen äußerst bedenklichen Ruf genoß. Die Polizeidetektive versuchten, diese Gerüchte bis zu irgendwelchen greifbaren Tatsachen zurückverfolgen, doch hatten sie damit kein Glück.