Es war jedoch eins der Zimmer im ersten Stock, wo es am schlimmsten war. Es war ein ziemlich großer Raum, und die Tapete muß einmal fröhlich genug gewesen sein, doch als ich es sah, waren Anstrich, Tapete und alles andere trostlos. Der Raum aber war voller Schrecken; ich spürte meine Zähne knirschen, als ich mit der Hand die Tür berührte, und als ich eintrat, dachte ich, ich müßte ohnmächtig hinfallen. Ich riß mich jedoch zusammen und stellte mich an die hintere Wand, wo ich mich fragte, was um alles in der Welt an diesem Zimmer sein konnte, daß mir die Glieder zitterten und daß mein Herz schlug wie in der Todesstunde. In einer Ecke lag ein Haufen Zeitungen unordentlich auf dem Boden aufgestapelt, und ich fing an, sie durchzusehen. Sie waren drei, vier Jahre alt, zum Teil halb zerrissen, zum Teil zusammengeknüllt wie Packmaterial. Ich schaute den ganzen Stapel durch und fand dazwischen eine sonderbare Zeichnung – ich werde sie Ihnen nachher zeigen. Aber ich konnte nicht mehr in dem Zimmer bleiben; ich spürte, daß es mich überwältigte. Ich war dankbar, als ich heil und gesund an die frische Luft kam. Die Leute starrten mich an, als ich die Straße entlangging, und ein Mann sagte, ich sei betrunken. Ich stolperte von einer Seite des Gehsteigs auf die andere, und es bedurfte meiner ganzen Kräfte, den Schlüssel wieder zu dem Makler zu bringen und nach Hause zu gelangen. Ich lag eine Woche zu Bett, unter den Einwirkungen von – wie mein Arzt sagte – nervösem Schock und Erschöpfung. An einem dieser Tage las ich die Abendzeitung und stieß zufällig auf einen kleinen Absatz mit der Überschrift ›Mann verhungert‹. Das Übliche – eine trübsinnig gewöhnliche Pension in Marylebone, eine Tür, die mehrere Tage lang verschlossen blieb, und ein toter Mann auf einem Stuhl, als man das Zimmer aufbrach. ›Der Verstorbene‹, fuhr die Meldung fort, ›hieß Charles Herbert und soll früher ein wohlhabender Grundbesitzer gewesen sein. Sein Name wurde der Öffentlichkeit vor drei Jahren im Zusammenhang mit dem rätselhaften Todesfall in der Paul Street an der Tottenham Court Road bekannt, insofern der Verstorbene der Mieter des Hauses Nummer 20 war, vor dessen Souterrain ein Herr der guten Gesellschaft unter Umständen tot aufgefunden wurde, welche von Verdachtsmomenten nicht ganz frei waren.‹ Ein tragisches Ende, wie? Aber schließlich und endlich – wenn das stimmt, was er mir erzählt hat, und dessen bin ich gewiß, dann war das ganze Leben dieses Mannes eine einzige Tragödie, und eine seltsamere als die in unseren Theatern.«

»Und das ist die Geschichte?« fragte Clarke nachdenklich.

»Ja. Das ist die Geschichte.«

»Also, Villiers, ich weiß kaum, was ich dazu sagen soll. Es gibt dabei zweifellos Umstände, die merkwürdig erscheinen, beispielsweise daß man den Toten vor der Souterraintür des Hauses der Herberts gefunden hat, und diese sehr ungewöhnliche Äußerung des Arztes zur Todesursache, aber schließlich lassen sich die Fakten doch auch auf eine normale Weise erklären. Was Ihre Empfindungen beim Besuch des Hauses anlangt, so möchte ich als Erklärung vorschlagen, daß sie auf eine sehr lebhafte Phantasie zurückgehen – Sie haben offensichtlich halbbewußt über all das nachgedacht, was Sie gehört hatten, darüber gebrütet. Ich weiß nun nicht, was in dieser Angelegenheit noch zu sagen oder zu tun wäre – Sie scheinen offenbar zu glauben, daß sich irgendein Geheimnis dahinter verbirgt, aber Herbert ist tot; wo wollen Sie weiter nachforschen?«

»Ich will nach der Frau suchen; der Frau, die er geheiratet hat. Sie ist das Geheimnis.«

Die beiden Männer saßen stumm vor dem Feuer. Clarke gratulierte sich insgeheim dazu, mit welchem Erfolg er der Rolle des Anwalts der Alltäglichkeit treugeblieben war, und Villiers war in düstere Gedanken versunken.

»Ich glaube, ich brauche eine Zigarette«, sagte er endlich und griff in die Tasche, auf der Suche nach seinem Etui.

»Ah!« sagte er, leicht zusammenfahrend. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich Ihnen noch etwas zeigen kann. Sie erinnern sich an die recht eigenartige Zeichnung, die ich unter dem Stapel alter Zeitungen in dem Haus in der Paul Street gefunden habe? Da ist sie.«

Villiers zog ein schmales dünnes Päckchen aus der Tasche. Es war in Packpapier eingeschlagen und mit Bindfaden verschnürt; die Knoten kosteten einige Mühe. Wider Willen war Clarke gespannt; er neigte sich in seinem Sessel vor, als Villiers vorsichtig die Schnur löste und die äußere Umhüllung auseinanderfaltete. Innen erschien ein zweiter Umschlag aus Seidenpapier, und Villiers nahm ihn ab und reichte Clarke wortlos das kleine Stück Papier.

Es herrschte fünf Minuten oder länger Totenstille im Zimmer; die beiden Männer saßen so reglos, daß sie das Ticken der hohen altmodischen Standuhr draußen im Korridor hören konnten, und im Gedächtnis des einen weckte die langsame Monotonie dieses Geräusches eine ferne, ferne Erinnerung. Er betrachtete konzentriert die kleine Federskizze eines Frauenkopfes. Sie war offensichtlich mit großer Sorgfalt ausgeführt worden, von einem wirklichen Künstler, denn die Seele der Frau sah aus ihren Augen, und die Lippen hatten sich zu einem seltsamen Lächeln geöffnet. Clarke sah immer noch auf das Gesicht.