Drunten in dem schön hingestreckten Tal wand sich der Fluß zwischen den einsamen Hügeln, und wie die Sonne im Westen stand und zögerte, ob sie untergehen sollte, begann ein feiner Nebel, reines Weiß, von den Ufern aufzusteigen. Dr. Raymond drehte sich mit einem Ruck zu seinem Freund.
»Sicher? Natürlich ist es das. In sich ist die Operation vollkommen simpel. Jeder Chirurg könnte das.«
»Und es gibt keine Gefahr in irgendeinem anderen Stadium?«
»Keine. Überhaupt keinerlei physische Gefahr, ich gebe Ihnen mein Wort. Sie waren schon immer ängstlich, Clarke, immer; aber Sie kennen meine Lebensgeschichte. Ich habe meine letzten zwanzig Jahre der Transzendentalmedizin gewidmet. Ich habe mich Quacksalber und Scharlatan und Betrüger nennen hören, aber die ganze Zeit wußte ich, daß ich auf dem richtigen Weg bin. Vor fünf Jahren habe ich das Ziel erreicht, und seitdem war jeder Tag eine Vorbereitung für das, was wir heute abend tun werden.«
»Ich wollte gerne glauben, daß all das wahr ist.« Clarke runzelte die Stirn und sah Dr. Raymond unsicher an. »Sind Sie sich wirklich sicher, Raymond, daß Ihre Theorie am Ende nicht eine – Phantasmagorie ist, eine herrliche Vision zweifellos, aber trotzdem eben doch nur eine Vision?«
Dr. Raymond blieb stehen und drehte sich abrupt herum. Er war ein Mann mittleren Alters, hager, dünn, von gelblichblassem Teint, doch als er nun Clarke ansah und ihm antwortete, waren seine Wangen gerötet.
»Sehen Sie sich um, Clarke! Sie sehen die Berge, ein Hügel folgt dem anderen wie Welle auf Welle, Sie sehen die Wälder und die Obstgärten, die reifen Kornfelder und die Wiesen, die ins Schilf am Flußufer abfallen. Sie sehen mich hier neben sich stehen, Sie hören meine Stimme. Aber ich sage Ihnen, all das – ja, alles von dem Stern, der uns eben noch beschienen hat bis zu der festen Erde unter unseren Füßen – ich sage Ihnen, all dies sind nur Träume und Schatten: die Schatten, welche die wahre Welt vor unsern Augen verbergen. Es gibt eine wirkliche Welt, aber sie liegt hinter diesem Glanz und diesem Schein, hinter all den ›Jagden auf Gobelins, Träumen in vollem Lauf‹! Dahinter wie hinter einem Schleier. Ich weiß nicht, ob je ein Mensch den Schleier gelüftet hat, aber das weiß ich, Clarke: Sie und ich werden sehen, wie er sich hebt, vor unseren Augen, den Ihren und meinen. Sie mögen all das für seltsamen Nonsens halten – seltsam mag es sein, doch es ist wahr, und die Alten wußten, was es heißt, den Schleier zu lüften. Sie nannten es: den Gott Pan erblicken.«
Clarke erschauerte; der weiße Nebel, der sich über dem Fluß zusammenzog, war kühl.
»Es ist etwas sehr Wundersames«, sagte er. »Wir stehen am Rande einer fremden Welt, Raymond, wenn es wahr ist, was Sie sagen. Das Messer ist wohl absolut notwendig?«
»Ja – eine winzige Läsion der grauen Substanz, das ist alles; eine geringfügige Versetzung bestimmter Zellen, eine mikroskopische Änderung, die der Aufmerksamkeit von neunundneunzig Gehirnchirurgen im Hundert entginge. Ich will Sie nicht mit Fachsimpeleien langweilen, Clarke. Ich könnte Ihnen eine Menge technischer Einzelheiten erzählen, und es würde sich alles sehr eindrucksvoll anhören – und Sie wären so klug wie zuvor. Aber ich nehme an, daß Sie etwas davon gelesen haben, beiläufig, in entlegenen Ecken Ihrer Zeitung, daß man in letzter Zeit immense Fortschritte auf dem Gebiet der Gehirnphysiologie gemacht hat. Ich habe kürzlich einen kleinen Artikel über Digbys Theorie und Browne Fabers Entdeckungen überflogen. Theorien, Entdeckungen! Wo die jetzt stehen, stand ich schon vor fünfzehn Jahren, und ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß ich die letzten fünfzehn Jahre nicht müßig gewesen bin. Es mag genügen, wenn ich sage, daß mir vor fünf Jahren die Entdeckung gelungen ist, auf die ich mich bezog, als ich sagte, ich hätte das Ziel erreicht. Nach Jahren der Mühe, nach Jahren des Fronens und Tastens im Dunkeln, nach Tagen und Nächten voll Enttäuschung und manchmal Verzweiflung, da ich oft erzittert bin, weil es mich kalt überlief bei dem Gedanken, daß auch andere vielleicht auf derselben Suche waren, endlich nach so langer Zeit durchrann meine Seele ein freudiges Aufblitzen, und ich wußte: Die lange Reise hatte ein Ende. Was mir damals ein Zufall schien – und mir noch jetzt so erscheint –, der Einfall eines müßigen Augenblicks, weiterverfolgt auf vertrauten Bahnen und hundertmal schon abgeschrittenen Wegen, das ließ eine große Wahrheit über mich hereinbrechen, und ich sah, von Licht umrissen, die Karte einer ganzen Welt, einer unbekannten Sphäre; Kontinente und Inseln, und große Ozeane, die noch, so glaube ich, von keinem Menschen je befahren worden sind, seit der erste den Blick aufgehoben und die Sonne gesehen hat und die Sterne des Himmels und die stille Erde drunten.
1 comment