Die eine war Rachel, aber die andere?
Clarke hatte versucht, so gut er es konnte, all dies nicht zu glauben, doch an das Ende des Berichtes hatte er bei der Niederschrift in sein Buch die Sätze gestellt:
ET DIABOLUS INCARNATUS EST. ET HOMO FACTUS EST.
Die Stadt der Wiederauferstehungen
»Herbert! Um Gottes willen! Kann es sein –?«
»Ja, ich heiße Herbert. Ich glaube, ich kenne auch Ihr Gesicht, aber an Ihren Namen erinnere ich mich nicht. Mein Gedächtnis ist jetzt unzuverlässig.«
»Wissen Sie nicht mehr: Villiers, vom Wadham College?«
»Ganz recht, ganz recht. Ich bitte um Verzeihung, Villiers, ich dachte nicht, einen alten Collegefreund anzubetteln. Guten Abend.«
»Mein Lieber, diese Eile ist unnötig. Ich wohne ganz in der Nähe, aber wir wollen nicht gleich zu mir gehen. Vielleicht ein Stück die Shaftesbury Avenue hinauf? Aber wie, um alles in der Welt, ist es so mit Ihnen gekommen, Herbert?«
»Es ist eine lange Geschichte, Villiers, und eine seltsame dazu, aber Sie können sie hören, wenn Sie möchten.«
Das schlecht zusammenpassende Paar ging langsam die Rupert Street hinunter – der eine in schmutzigen, scheußlich aussehenden Lumpen, und der andere in der von der Mode diktierten Uniform des man about town, erlesen korrekt gekleidet und außerordentlich wohlsituiert. Villiers war nach einem exzellenten Abendessen mit vielen Gängen, bei dem eine schmeichlerische kleine Korbflasche Chianti assistiert hatte, aus seinem Restaurant getreten und war in einer – bei ihm nahezu chronischen – Stimmung an der Türe stehen geblieben, um sich auf der schwach erleuchteten Straße umzuschauen: auf der Suche nach jenen geheimnisvollen Begebenheiten und Personen, von denen die Straßen Londons in jedem Viertel und zu jeder Stunde wimmeln. Villiers hielt es sich zugute, daß er ein geübter Entdeckungsreisender auf solchen obskuren Nebenwegen und in den Labyrinthen des Londoner Lebens war, und er legte bei dieser uneinträglichen Tätigkeit einen Fleiß an den Tag, dessen ernsthaftere Beschäftigungen würdig gewesen wären. So stand er neben dem Laternenpfahl und begutachtete die Passanten mit unverhohlener Neugier. Und mit der Gemessenheit, die nur der Mann kennt, der sehr ausführlich zu Abend ißt, hatte er soeben bei sich den Satz formuliert: »Man hat London die Stadt der Begegnungen genannt; es ist noch mehr, es ist die Stadt der Wiederauferstehungen«, als diese Reflexionen plötzlich durch ein Wimmern an seinem Ellbogen und eine jämmerliche Bitte um ein Almosen unterbrochen wurden. Einigermaßen irritiert sah er sich um und fand sich zusammenfahrend mit dem leibhaftigen Beweis seiner etwas gestelzten Spekulationen konfrontiert. Dicht neben ihm, das Gesicht von Armut und Entehrung verändert und entstellt, der Körper von fettigen, am Leib hängenden Lumpen kaum verhüllt, stand sein alter Freund Charles Herbert, der sich am selben Tage wie er an der Universität eingeschrieben hatte und mit dem er während der Dauer von zwölf Semestern lustig und weise gewesen war. Verschiedene Tätigkeiten und voneinander abweichende Interessen hatten die Freundschaft unterbrochen, und es war sechs Jahre her, daß Villiers Herbert gesehen hatte. Nun schaute er dieses Wrack von einem Mann voll Kummer und Traurigkeit an, in die sich eine gewisse Neugier mischte, welche arge Verkettung von Umständen ihn in eine solch gramvolle Lage gezerrt haben mochte. Villiers empfand außer Mitgefühl das ganze genüßliche Interesse eines Dilettanten des Geheimnisses und beglückwünschte sich zu seinen müßigen Theorien, die er vor dem Restaurant gesponnen hatte.
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, und mehr als ein Vorübergehender starrte verblüfft das ungewohnte Schauspiel an, wie ein gutgekleideter Herr mit einem nicht zu verkennenden Bettler am Arm spazieren ging. Als er dies bemerkte, schlug Villiers die Richtung zu einer abgelegenen Straße in Soho ein. Hier wiederholte er seine Frage.
»Wie ist das nur gekommen, Herbert? Ich hatte immer gedacht, Sie hätten ein bedeutendes Erbe in Dorsetshire zu erwarten! Hat Ihr Vater Sie enterbt? Das doch sicher nicht?«
»Nein, Villiers, das ganze Vermögen fiel mir nach dem Tod meines armen Vaters zu; er starb ein Jahr nach meinem Abschied von Oxford. Er war mir ein sehr guter Vater gewesen, und ich habe aufrichtig genug seinen Tod betrauert. Aber Sie wissen, wie die jungen Leute sind – ein paar Monate später ging ich dann doch nach London und kam viel in Gesellschaft. Natürlich hatte ich die besten Verbindungen, und ich konnte mich gut amüsieren, auf harmlose Manier. Ich spielte gelegentlich, aber nie mit hohen Einsätzen, und meine paar Rennwetten brachten mir immer etwas ein – ein paar Pfund bloß, aber genug für Zigarren und solche kleinen Annehmlichkeiten. In meinem zweiten Jahr in London, da kam es anders. Sie haben natürlich von meiner Heirat gehört?«
»Nein, davon habe ich nie etwas zu hören bekommen.«
»Ja, ich habe geheiratet. Ich traf eine Frau, ein Mädchen von wunderbarer und eigenartigster Schönheit, im Hause von irgendwelchen Freunden. Ich kann Ihnen ihr Alter nicht sagen, ich habe es nie herausgefunden, aber ich schätze, sie dürfte etwa neunzehn gewesen sein, als ich ihre Bekanntschaft machte. Meine Freunde hatten sie in Florenz kennengelernt. Sie sagte ihnen, sie sei Waise, das Kind eines englischen Vaters und einer italienischen Mutter, und sie faszinierte mich. Das erste Mal sah ich sie bei einer Abendgesellschaft.
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