Daher kam es denn auch, daß in der
ganzen Nachbarschaft keine Menschenseele war – nicht einmal
der Spezereihändler an der Ecke, und der war anerkannt der
gröbste Mensch unter Gottes Sonne – die nicht eine
Freude daran gehabt hätte, ihn zu sehen und mit ihm zu
sprechen, und mit jedem Monat, den er älter wurde, ward er
hübscher und lebendiger.
Als er groß genug war, mit seiner Kinderfrau
auszugehen in einem kurzen, weißen Röckchen, mit
einem großen, weißen Hut auf dem lockigen Haar,
erregte er allgemeines Aufsehen, und die Wärterin hatte der
Mama die längsten Geschichten zu erzählen von Damen,
die ihre Wagen hatten anhalten lassen und ausgestiegen waren, um mit
ihm zu sprechen, und die ganz entzückt gewesen waren, als er
in seiner harmlosen, unbefangenen Art mit ihnen geplaudert hatte, als
ob er sie von jeher gekannt. Diese seltsam unbefangene Art und Weise,
mit jedermann Freundschaft zu schließen, gab ihm einen ganz
eigenartigen Reiz. Er war eine offne, rückhaltslos vertrauende
Natur, und sein warmes kleines Herz wollte, daß es allen so
wohl zu Mute sein solle, wie ihm selbst, das war's, was ihn die
Empfindungen derer, die um ihn waren, so merkwürdig schnell
verstehen ließ. Vielleicht hatte sich dieser Zug auch mehr
entwickelt, weil er immer mit Vater und Mutter lebte, die liebevoll,
gütig und voll echter Herzensbildung waren; nie hörte
er zu Hause ein unhöfliches oder rauhes Wort: von jeher wurde
er mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt und umgeben, und so
strömte sein Kinderherz auch von Liebe und Wärme
für andre über. Immer hatte er sein
Mütterchen mit süßen Schmeichelnamen nennen
hören, und deshalb sprach auch er nie anders mit ihr und von
ihr; immer hatte er gesehen, daß sein Papa sie
ängstlich behütete und für sie sorgte, und
so lernte auch er ganz von selbst für sie sorgen. Und als er
nun wußte, daß sein Papa nicht wiederkommen werde,
und sah, wie traurig sie war, da entstand unbewußt in seinem
kleinen Herzen das Gefühl, daß er nun alles thun
müsse, um sie glücklich zu machen. Er war ja noch ein
kleines Kind, aber dies Gefühl lebte in ihm, wenn er auf ihre
Kniee kletterte und sie küßte und sein lockiges
Köpfchen an ihre Wange drückte, oder wenn er ihr sein
Spielzeug und seine Bilderbücher zum Ansehen brachte oder sich
schweigend und regungslos neben sie kauerte, wenn sie auf dem Sofa lag.
Er war noch nicht alt genug, um andre Trostesmittel zu finden,
aber er that sein Bestes, und er selbst hatte keine Vorstellung davon,
wie wohl sein stilles Thun dem armen, vereinsamten Herzen that.
»O Mary!« hörte er seine Mama
einmal zu der alten Dienerin sagen, »ich bin
überzeugt, er will mir auf seine Weise helfen und mich
trösten. Zuweilen sieht er mich an mit großen,
verwunderten Augen voll tiefster Liebe, als ob ich ihm im Innersten
leid thäte, und dann kommt er und streichelt mich oder zeigt
mir etwas. Er ist so merkwürdig reif; ich bin
überzeugt, er denkt so weit.«
Als er heranwuchs, hatte er eine Menge wunderlicher
Einfälle, die höchst ergötzlich waren, und
wußte seine Mama so gut zu unterhalten, daß sie gar
nicht nach andrer Gesellschaft verlangte; sie gingen miteinander
spazieren und schwatzten und spielten zusammen. Er war noch ein ganz
kleiner Bursche, als er lesen lernte, und hernach lag er abends auf dem
Teppich vor dem Kamin und las vor – Kindergeschichten,
zuweilen auch große Bücher, wie erwachsene Leute sie
lesen, und hier und da sogar die Zeitung, und dabei hörte Mary
in ihrer Küche Mrs. Errol manchmal hell auflachen
über seine wunderlichen Bemerkungen: »Und, meiner
Seel',« sagte Mary zu dem Spezereihändler,
»so verstockt könnte keiner sein, daß er
nicht lachen müßte über unsern Jungen, wenn
er so altklug schwatzt. In der Nacht, wo der neue Präsident
ernannt worden ist, kommt der Jung' zu mir in die Küch',
stellt sich vors Feuer, die Händchen in den kleinen Taschen,
wie ein Bild, sag' ich Ihnen, und mit so einer feierlichen Mien' wie
ein Richter im Talar, Und dann sagt er zu mir:
›Mary,‹ sagt er, ›die Wahl 'tressiert
miß sehr,‹ sagt er. ›Iß bin
'Publikaner und Herzlieb auch. Bist du auch 'Publikaner,
Mary?‹ ›Thut mir leid,‹ sag' ich,
›aber ich bin just ein wenig von der andern
Partei.‹ Da sieht er mich an, daß es einem ganz
durch Mark und Bein geht, und sagt: ›Mary,‹ sagt
er, ›die rißten ja das Land zu Grund.‹ Und
seither ist kein Tag vergangen, wo er mir nicht zugeredet hat, zur
andern Partei zu gehen.«
Mary war sehr entzückt von »unserm
Jungen« und sehr stolz auf ihn; sie war schon im Hause
gewesen, als er zur Welt kam, und seit seines Vaters Tode war sie
Köchin, Hausmädchen und Kinderfrau in einer Person.
Sie war stolz auf den kräftigen, beweglichen, kleinen Kerl und
sein nettes Benehmen, ganz besonders aber auf sein schimmerndes Haar,
das in die Stirn hereingeschnitten war und in leichten Pagenlocken auf
seine Schulter fiel. Um seine kleinen Anzüge machen zu helfen,
war ihr früh und spät keine Mühe zu viel.
»'Ristokratisch, hm?« pflegte sie zu sagen.
»Du lieber Gott, den Jungen auf der Fifth Avenue
möcht' ich sehen, der so dreinschaut, seine Beine so setzt!
Jeder Mensch, Mann und Weib und Kind, alles schaut ihm nach, wenn er
den schwarzen Samtanzug anhat, den wir ihm aus meiner Frau ihrem alten
Kleide zurecht gemacht haben, wenn er den Kopf so aufwirft und sein
Lockenhaar fliegt! Accurat wie ein junger Lord sieht er aus.«
Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er wie ein
junger Lord aussah, er wußte auch durchaus nicht, was ein Lord
war. Der vornehmste unter seinen Freunden war der
Spezereihändler an der Ecke – der grobe Mann, der
gegen ihn nie grob war. Er nannte sich Mr. Hobbs und war in Cedriks
Augen sehr reich und eine höchst bedeutende
Persönlichkeit, die er über die Maßen
bewunderte; er hatte ja so viele Dinge in seinem Laden –
Pflaumen und Feigen und Apfelsinen und Biskuits – und er
hatte ein Pferd und einen Wagen. Cedrik mochte auch den Milchmann, den
Bäcker und die Apfelfrau wohl leiden, aber Mr. Hobbs war doch
obenan in seinem Herzen, und er stand auf so vertrautem Fuße
mit ihm, daß er ihn jeden Tag besuchte und oft lange bei ihm
saß, um die Tagesereignisse zu besprechen. Es war ganz
merkwürdig, wieviel die beiden immer zu schwatzen hatten,
über alles Mögliche. Der 4. Juli namentlich war ein
Thema, über welches ihnen das Gespräch nie ausging.
Mr. Hobbs hatte eine sehr geringe Meinung von den Engländern
und er erzählte ihm die ganze Geschichte der
Losreißung, wobei die Schändlichkeit des Feindes und
die Tapferkeit der Aufständischen durch schlagende Beispiele
beleuchtet wurden, schließlich trug er ihm noch einzelne Teile
der Unabhängigkeitserklärung wörtlich vor.
Cedrik war dann so aufgeregt, daß seine Augen leuchteten,
seine Wangen glühten und all seine Locken eine wirre Masse
waren; zu Hause konnte er die Mahlzeit kaum erwarten, um seiner Mama
alles Gehörte wiederzugeben, und so war es entschieden Mr.
Hobbs, dem er sein erstes Interesse für Politik zu danken
hatte. Mr.
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