Havisham sehr genau beobachtet, und
nachdem sie hinausgegangen war, fuhr er fort, ihn mit einer Art von
Andacht anzublicken; ein Schweigen entstand, und der alte Herr und der
kleine Junge schienen sich mit gegenseitigem Interesse zu studieren.
Was er jedoch mit einem Jungen, der Rennen gewann, Pumphöschen
trug und dessen rotbestrumpfte Beine nicht über den Stuhlsitz
herunterreichten, sprechen sollte, darüber kam Mr. Havisham
nicht so leicht mit sich ins reine, bis Cedrik ihm plötzlich
aus der Verlegenheit half, indem er die Konversation eröffnete.
»Ich weiß gar nicht, was ein Graf
ist,« bemerkte er ernsthaft.
»Wirklich nicht?« erwiderte Mr. Havisham.
»Nein, und wenn man einmal einer werden muß,
sollte man das doch wissen, meinen Sie nicht auch?«
»Allerdings – gewiß,« gab
Mr. Havisham zur Antwort.
»Würden Sie nicht so gut sein und mir das
auseinandersetzen?« bat Ceddie sehr respektvoll, wobei er nur
einige Silben verschluckte, was ihm bei den beliebten langen
Wörtern des öftern vorkam. »Wer hat ihn denn
zu einem Grafen gemacht?«
»In erster Linie ein König oder eine
Königin,« sagte Mr. Havisham.
»Gewöhnlich erhält er den Titel zur
Belohnung für irgend einen bedeutenden Dienst, den er seinem
Landesherrn leistet, oder sonst eine große That.«
»O!« sagte Cedrik. »Das ist also
wie der Präsident.«
»Meinst du?«
»Ja gewiß,« versicherte Ceddie
freudig. »Wenn jemand sehr gut ist und sehr viel
weiß, dann wird er Präsident. Dann gibt es einen
Fackelzug und Musik und viele Reden. Manchmal habe ich gedacht, ich
möchte wohl Präsident werden; Graf zu werden, daran
habe ich nie gedacht: ich wußte ja nichts davon,«
setzte er eilig hinzu, besorgt, Mr. Havisham könnte es ihm
verargen.
»Die Sache ist doch ziemlich verschieden von einer
Präsidentenwahl.«
»Weshalb?« fragte Cedrik. »Gibt es
keinen Fackelzug?«
Mr. Havisham schlug nun gleichfalls die Beine
übereinander und legte mit außerordentlicher Sorgfalt
die Fingerspitzen der beiden Hände aufeinander; er hielt die
Zeit für gekommen, den Gegenstand etwas eingehender zu
erörtern.
»Ein Graf ist – ist eine sehr
einflußreiche Persönlichkeit,« begann er.
»O, ein Präsident auch,« siel ihm
Ceddie ins Wort. »Der Fackelzug, der ist immer fünf
Meilen lang und Raketen steigen und Musik spielt.«
»Ein englischer Graf,« fuhr Mr. Havisham
ziemlich unsicher fort, »gehört jedenfalls einem sehr
alten Geschlechte an, denn –«
»Was heißt das?« forschte Ceddie.
»Er ist von alter, sehr alter Familie.«
»Ach!« sagte Cedrik und seine kleinen
Hände versanken noch tiefer in seine Taschen. »Da ist
die Apfelfrau beim Park wahrscheinlich auch von sehr alter Familie. Ja,
ganz gewiß ist sie von uraltem Geschlecht, denn die ist so
alt, so alt, ach, Sie würden sich wundern, daß sie
nur noch stehen kann, und doch sitzt sie immer draußen, sogar
wenn es regnet. Sie thut mir so leid und den andern Jungen auch, einmal
hat Billy Williams beinahe einen Dollar gehabt, und da habe ich ihm
gesagt, er solle ihr jeden Tag um fünf Cents Aepfel abkaufen,
bis sein Geld alle sei, das hätte für zwanzig Tage
gereicht, aber schon nach acht Tagen kriegte er Aepfel über.
Aber damals – das traf sich gut – schenkte mir ein
Herr fünfzig Cents, und nun konnte ich an seiner Statt Aepfel
kaufen. Es thut einem doch so leid, wenn jemand so arm ist und von so
altem Geschlecht; das ihrige, sagt sie, ist ihr in die Knochen
gefahren, und wenn Regenwetter ist, thun sie ihr sehr weh.«
Mr. Havisham blickte in einiger Verlegenheit in das
ernsthafte, unschuldige Gesicht seines kleinen Gegenüber.
»Ich fürchte, du hast mich nicht ganz
verstanden,« fuhr er fort. »Wenn ich von altem
Geschlecht spreche, so meine ich damit nicht hohes Alter der Personen,
sondern daß der Name einer solchen Familie lange bekannt ist.
Vielleicht Hunderte von Jahren sind Männer, die diesen Namen
trugen, in der Geschichte ihres Landes genannt und gefeiert
worden.«
»Wie George Washington,« ergänzte
Ceddie. »Von dem habe ich gehört, seit ich auf der
Welt bin, und lange vorher wußte man schon von ihm, und Mr.
Hobbs sagt, er wird gar nie vergessen werden.«
»Der erste Graf Dorincourt,«
erklärte Mr. Havisham mit einer gewissen Feierlichkeit,
»empfing den Titel eines Grafen vor vierhundert
Jahren.«
»Ach, das ist lange her! Himmel, was für
eine lange Zeit. Haben Sie das Herzlieb auch erzählt? Das wird
sie ›'tressieren‹. Wenn sie hereinkommt,
müssen wir ihr das gleich sagen; sie Hort so gern
Kuriositäten.
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