Redsack war anscheinend ein ziemlich gerissener Verbrecher. Es existierten zwar viele Fotos von ihm, aber er hatte es immer wieder verstanden, sich auf jedem davon ein anderes Aussehen zu geben. Sein Geburtsort war Vancouver in Kanada, in London wurde er erzogen. Schon mit dreißig Jahren hatte er so zahlreiche Gaunereien verübt, daß er in Verbrecherkreisen hohes Ansehen genoß. Der Mann schien wirklich klug zu sein. Er hatte es verstanden, sich bereits dreimal mit außergewöhnlicher Schlauheit aus der Schlinge zu ziehen.
Das Schiff verließ New York gegen Mitternacht, und als Mr. Reeder sich schlafen legte, hatte er keine Ahnung, daß fünf Decks unter ihm der Mann als Heizer arbeitete, mit dem er sich noch vor kurzem so intensiv beschäftigt hatte.
*
Redsacks Flucht aus Sing-Sing war eine äußerst kühne Tat. Sie wirkte um so sensationeller, als er sie nicht vorher hatte planen können.
Jede Flucht ist ein abenteuerliches Unternehmen, doch die des Sträflings Redsack würde fast ans Unglaubhafte grenzen, wenn nicht ihre Begleitumstände in den Akten der amerikanischen Polizeibehörden genau niedergelegt worden wären. Glück, Geschicklichkeit – und vor allem eine Verknüpfung seltsamer Zufälle standen dem Gefangenen an jenem Tag bei.
Es war ein trüber Winternachmittag. Etwa ein Dutzend Sträflinge trabten im Kreis auf dem großen Hof des Zuchthauses umher. Sie wurden scharf bewacht, doch konnten es ihnen ihre Wächter schließlich nicht verbieten, über die hohe Gefängnismauer hinweg zu dem grauverhangenen Himmel emporzusehen. Ganz in der Nähe manövrierte ein Freiballon, der von einem benachbarten Militärflugplatz aufgestiegen war. Einige heftige Windböen hatten ihn von seinem Kurs abgetrieben und zu Boden gedrückt. Die Besatzung, die Wetterbeobachtungen anstellen sollte, bemühte sich verzweifelt, Ballast abzuwerfen, doch irgend etwas an dem Mechanismus der Abwurfvorrichtung für die Sandsäcke funktionierte nicht. Der Ballon sank tiefer und tiefer, bis er schließlich nur noch ungefähr fünfzig Meter über der Erdoberfläche dahingetrieben wurde.
Was die Sträflinge und ihre Wächter – auch diese beobachteten gespannt den Vorfall – nicht sahen, war das gleichzeitig als Haltetau bei einer Landung dienende Schleppseil des Ballons, das über den Boden schleifte.
Eine neue Windbö trieb den Ballon zur Seite. Er jagte jetzt nur dreißig Meter über dem Boden direkt auf das Gefängnis zu.
In Sekundenschnelle hatte er sich der Umfassungsmauer genähert und stand gleich darauf – riesengroß aus dieser Nähe – direkt über dem Hof. Das Schleppseil verfing sich einen Augenblick in den auf der Mauer angebrachten Eisenzacken und klatschte dann auf das Pflaster des Hofs, wo die Sträflinge in ihrer gleichförmigen Bewegung einen Augenblick erstarrten und, wie ihre Wachmannschaften, die Hälse nach oben reckten.
Was jetzt folgte, spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Der Ballon wurde über den Hof getrieben, das Schleppseil hatte schon fast die gegenüberliegende Mauer erreicht, als sich plötzlich ein Sträfling aus dem Kreis löste und mit einigen mächtigen Sätzen bei dem Seil war. Er packte es, eine neuerliche Bö warf den Ballon einige Dutzend Meter in die Höhe und jagte ihn gleichzeitig nach vorn. Bevor die verdutzten Wächter noch ihre Gewehre von den Schultern gerissen hatten, waren Ballon und Mann schon hinter einem nahen Gehölz verschwunden.
Die Besatzung des Ballons sah natürlich ihren ungebetenen Passagier, konnte aber beim besten Willen nichts gegen ihn unternehmen. Die Männer in der Gondel hatten alle Hände voll zu tun, die Abwurfvorrichtung in Ordnung zu bringen, damit sie endlich aus der für sie gefährlichen Nähe des Erdbodens freikamen.
Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Der Ballon trieb ungefähr zwei Kilometer weit, und Redsack – so hieß der Sträfling, der diese tollkühne Flucht gewagt hatte – wurden allmählich die Finger klamm. Er mußte damit rechnen, daß es der Ballonbesatzung jede Minute gelingen konnte, Ballast abzuwerfen – und dann würde es steil in die Höhe gehen. Er blickte unter sich … Die Gelegenheit war günstig, der Ballon wurde in diesem Moment wieder zu Boden gedrückt. Noch zwanzig Meter Abstand zwischen ihm und der tief verschneiten Erdoberfläche – noch fünfzehn Meter – noch zehn Meter – mit dem Mut der Verzweiflung ließ er los und landete sich überschlagend in einer tiefen Schneewehe, die wie für einen solchen Zweck geschaffen, vom Wind an einer Straßenböschung aufgehäuft worden war.
Genau das Richtige für seine Zwecke war auch der kleine Fordwagen, der zehn Meter weiter am Straßenrand parkte. Er gehörte einem Sonntagsjäger, der mit seiner Schrotflinte hier in der Gegend auf den Krähenstrich gegangen war. Eine zweite Flinte, die für einen Freund gedacht gewesen war, der ihn eigentlich hatte begleiten wollen, lag auf dem Rücksitz. Mr. Redsack stieg ein und hielt eine halbe Stunde später vor einer Bank in einer kleinen Stadt, ungefähr zehn Meilen von Jersey City entfernt.
Er verließ den Wagen mit einem doppelläufigen Gewehr unter dem Arm und ging in die Bank. Es war eine Minute vor Schluß, und im Schalterraum befanden sich nur noch der Kassierer und der Prokurist.
1 comment