Der Scharlachrote Buchstabe
Nathaniel Hawthorne
Der Scharlachrote Buchstabe
Inhaltsangabe
Boston um 1640. Wegen eines unehelichen Kindes wird die dunkelhaarige Hester Prynne im puritanischen Neuengland verurteilt, als Zeichen ihrer moralischen Schande auf ihrem Kleid den roten Buchstaben A für Adulteress (Ehebrecherin) zu tragen. Sie hat ihre Tochter Pearl bekommen, während ihr Ehemann, ein eigenbrötlerischer Arzt und Alchimist, verschollen war. Als Hester am Pranger steht, ist er bereits zurückgekehrt und hat sich in der Stadt unter dem Namen Roger Chillingworth niedergelassen, um den Vater des Kindes zu finden. Hesters Geliebter ist ausgerechnet der allseits geschätzte junge Priester Arthur Dimmesdale. Ihn quälen Schuldgefühle, doch bringt er lange nicht den Mut auf, sich zu offenbaren. Hester will ihn zur gemeinsamen Flucht überreden, aber er stirbt nach einem öffentlichen Bekenntnis.
Der Originaltitel des amerikanischen Werkes lautet:
THE SCARLET LETTER
Übersetzt von Gretl Pfandler
Wien 1950 – Alle Rechte vorbehalten
Printed in Austria Druck: ‚Vorwärts‘, Wien V – 6739/49
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1.
DIE
GEFÄNGNISTÜR
Vor einem hölzernen Gebäude, dessen Tür mit
schweren Eichenbalken versehen und mit Eisenspitzen beschlagen war,
drängte sich eine Menge Volkes. Bärtige Männer in dunkler Kleidung und
mit grauen, spitzen Hüten, aber auch Frauen, barhäuptig oder mit
schlichten Hauben, standen in dichten Gruppen beisammen. Aus ihren
Zügen sprach gespannte Erwartung.
In jeder neuen Kolonie, mochte sie ursprünglich auch nichts
als die Verwirklichung menschlicher Tugend und menschlichen Glücks zum
Ziele gehabt haben, waren die Begründer nur allzu bald genötigt, einen
Teil des unberührten Bodens zum Friedhof, einen anderen zum Platz für
ein Gefängnis zu bestimmen. Auch die Vorväter von Boston
haben – so dürfen wir wohl annehmen – diesen
Erfordernissen menschlicher Schwäche und Hinfälligkeit Rechnung
getragen und sehr bald ihr erstes Gefängnis sowie ihren ersten Friedhof
errichtet, denn bereits etliche fünfzehn oder zwanzig Jahre nach der
Begründung der Stadt war das hölzerne Gefängnis von solchen Spuren der
Verwitterung und des Alters gezeichnet, daß sie dem finsteren, düsteren
Bau ein noch dunkleres Aussehen verliehen. Der Rost auf dem schweren
Eisenwerk der Eichentür schien älter zu sein als alles andere in der
neuen Welt, ja der ganze Bau schien – wie alles, was zum
Verbrechen gehört – wohl überhaupt nie jung gewesen zu sein.
Vor diesem häßlichen Gebäude erstreckte sich bis zur Fahrbahn
der Straße ein Rasenplatz. Er war überwuchert von Kletten, Gänsefuß und
anderen unscheinbaren Pflanzen, denen dieser Boden wohl besonders
zusagte, der so früh schon das dunkle Gewächs menschlicher
Zivilisation, das Gefängnis, getragen hatte. An einer Seite der Tür
jedoch, unmittelbar an ihrer Schwelle wurzelnd, stand ein wilder
Rosenstrauch, der jetzt im Juni über und über mit köstlichen Blüten
bedeckt war. Fast schien es, als wolle er ihren Duft und ihre zarte
Schönheit dem Gefangenen, der hier eintrat, oder dem Verurteilten, der
aus dieser Tür heraus seiner Strafe entgegenging, als Zeichen
darbringen, daß die Natur wenigstens ihm Freundlichkeit und Erbarmen
entgegenbringe.
Durch einen seltsamen Zufall blieb die Erinnerung an diesen
Rosenstrauch in der Überlieferung lebendig. Vielleicht, weil er der
letzte Überrest der alten Wildnis war, nachdem die riesigen Fichten und
Eichen, die ihn einst überschatteten, längst gefallen waren; vielleicht
auch, wie manche glaubhaft machen wollen, weil er unter den Fußtritten
der frommen Anna Hutchinson hervorsproßte, als sie durch diese Tür das
Gefängnis betrat.
Uns aber, die wir diesem Strauch gerade an der Schwelle
unserer Erzählung begegnen, möge er ein freundliches Symbol sein, das
bei allem düsteren Ernst doch ein versöhnliches Licht auf den Verlauf
und das Ende dieser Geschichte wirft, die so voll ist von menschlicher
Schwachheit und menschlichem Leid.
2.
AUF DEM
MARKTPLATZE
An einem Sommermorgen vor mehr als 200
Jahren war also der Rasenplatz vor dem Gefängnis in Boston von einer
großen, neugierigen Menschenmenge belebt. Die bärtigen Gesichter der
guten Leute trugen dabei einen solchen Ausdruck grimmiger Strenge, daß
man zu jeder anderen Zeitepoche oder bei jeder anderen Bevölkerung
hätte annehmen müssen, es handle sich bei dem mit so großer Spannung
erwarteten Ereignis zumindest um die Hinrichtung eines Verbrechers oder
um die öffentliche Sühne eines anderen schändlichen Vergehens. In jener
Frühzeit des Puritanismus jedoch war eine solche Vermutung keineswegs
immer zutreffend. Vielleicht sollte nur ein fauler Diener oder ein
ungehorsames Kind, das seine Eltern der Obrigkeit überliefert hatten,
am Schandpfahl gezüchtigt werden – vielleicht auch galt es,
einen Quäker, Antimonianer oder anderen sektiererischen Irrgläubigen
aus der Stadt zu peitschen, oder einen faulen, umherstreifenden
Indianer, der unter dem Einflusse des Feuerwassers des weißen Mannes
auf den Straßen herumgelärmt hatte, in seine Wälder zurückzutreiben. Es
konnte auch sein, daß eine Hexe, wie die alte Hibbins, die zänkische
Witwe des Stadtrichters, auf dem Galgen sterben sollte – in
jedem Falle lag dieselbe unbarmherzige Strenge auf den Gesichtern der
Zuschauer, wie es sich einem Volke geziemte, bei dem Religion und
Gesetz fast identisch waren und dessen Bewußtsein von beiden so
durchdrungen war, daß es dem mildesten wie schwersten Akt öffentlicher
Bestrafung in gleicher Weise mit scheuer Ehrfurcht und Entsetzen
beiwohnte. Dürftig fürwahr und kalt war die Teilnahme, die aus solchem
Zuschauerkreise dem Übeltäter entgegengebracht wurde, doch konnten
anderseits damals auch Strafen, die in unseren Tagen eine Flut von
Spott und Lächerlichkeit zur Folge haben würden, mit ebenso strenger
Würde über einen Sünder verhängt werden wie die Todesstrafe selbst.
Es war bemerkenswert, daß an jenem Sommermorgen, an dem unsere
Erzählung beginnt, die Frauen, die sich in der Zuschauermenge befanden,
mit ganz besonderem Interesse dem bevorstehenden Strafgericht entgegen
zu fiebern schienen. Die Zeit war noch nicht so verfeinert, daß ein
Gefühl von Unschicklichkeit etwa die Trägerinnen von Unterrock und
Mieder zurückgehalten hätte, sich unter die gaffende Menge zu mischen
und ihre gewichtige Persönlichkeit selbst bis an die Stufen des
Blutgerüstes vorzudrängen. Geistig sowohl wie auch körperlich waren
jene Frauen und Mädchen von altenglischer Geburt und Erziehung aus
gröberem Stoff als ihre schönen Nachkommen von heute. Denn durch die
ganze Kette der Geschlechter hindurch hatte jede Mutter ihrem Kinde
stets eine zartere Schönheit, ein vergänglicheres Blühen, geringere
Körperkräfte – und wohl auch einen weniger kraftvollen und
gediegenen Charakter vererbt, als sie selbst besaß. Die Frauen, die
hier das Gefängnistor umstanden, waren kaum ein halbes Jahrhundert von
jener Periode der Geschichte entfernt, in welcher Königin Elisabeth ihr
Geschlecht so kraftvoll vor der ganzen Welt repräsentiert hatte. Die
roten, vollen Wangen, die breiten Schultern und üppigen Gestalten, die
nun die Morgensonne beschien, stammten noch aus der fernen Heimatinsel
her und waren in der Luft Neuenglands kaum bleicher und magerer
geworden. Auch die Redeweise dieser Matronen – denn die
meisten von ihnen schienen solche zu sein – war von einer
Kühnheit und Derbheit sowohl im Inhalt wie im Tone, daß sie uns heute
wohl in gewaltiges Erstaunen setzen würde.
„Hört einmal“, sagte eine etwa fünfzigjährige Frau, „ich will
euch etwas sagen. Es wäre wahrhaftig zu wünschen, daß wir Frauen von
reifem Alter und gutem Ansehen die Bestrafung solcher Übeltäterinnen
wie diese Hester Prynne in die Hände bekämen. Wenn wir fünf, die wir
hier gerade beisammen stehen, über dieses nichtsnutzige Weibsbild zu
richten gehabt hätten, wäre sie wohl mit so einem Urteil davongekommen,
wie es die Richter gefällt haben? Verlaßt euch darauf –!“
„Die Leute sagen“, hob eine andere an, „der ehrwürdige Pastor
Dimmesdale nimmt es sich gar sehr zu Herzen, daß gerade in seiner
Gemeinde ein solches Ärgernis vorfallen mußte.“
„Die Richter sind ja gottesfürchtige Herren, aber viel zu
gnädig!“ meinte ein drittes dieser Frauenzimmer. „Sie sollten dieser
Hester Prynne mindestens mit glühendem Eisen ein Brandmal auf die
Stirne gedrückt haben, da wäre sie wohl zurückgeschreckt,
haha –! Aber was schert sich so ein Weibsbild, was man ihr ans
Mieder heftet? Mit einer Brosche kann sie es ja verdecken oder einem
ähnlichen heidnischen Aufputz und ebenso frech einherstolzieren wie
ehedem!“
„Mag sie auch das Zeichen verbergen, wie sie will, seine
stechende Pein wird sie doch immer in ihrem Herzen fühlen“, wandte in
sanfterem Tone eine junge Frau ein, die ein Kind an der Hand hielt.
„Was wird da viel von Zeichen und Brandmalen geschwätzt, ob
auf ihrem Mieder oder ihrer Stirne?“ schrie ein anderes Weib, das
häßlichste und erbarmungsloseste zugleich. „Sie hat Schmach und Schande
über uns alle gebracht und dafür gebührt ihr der Tod! Steht es nicht so
in der Bibel wie in unserem Gesetz? Mögen die Richter, die es nicht
anzuwenden wagten, es sich selbst zuschreiben, wenn ihre eigenen Weiber
und Töchter auf Abwege geraten!“
„Gnade uns Gott!“ rief ein Mann aus der Menge, der diese Worte
mitangehört hatte.
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