„Kommt denn alle Weibertugend nur aus der Furcht vor
dem Galgen? Ihr sprecht wahrhaftig ein hartes Wort! Doch
still! – Eben dreht sich der Schlüssel in der Gefängnistür und
hier kommt sie nun selbst, Hester Prynne!“
Die Tür des Kerkers wurde von innen aufgestoßen und wie ein
schwarzer Schatten, der plötzlich ans Tageslicht taucht, erschien die
grimmige, düstere Gestalt des Stadtbüttels, ein Schwert an der Seite
und seinen Stab in der Hand. Dieser Mann verkörperte schon in seinem
Aussehen fürwahr die ganze grausame Strenge des puritanischen Gesetzes,
dessen Ausübung und Durchführung ihm oblag. Während er seinen Stab mit
der Linken vorstreckte, legte er seine Rechte schwer auf die Schulter
einer jungen Frau und schob sie vorwärts, bis sie ihn an der Schwelle
der Tür durch eine Geste so voll natürlicher Hoheit und Würde
zurückwies, daß er sie unwillkürlich freigab und sie aus eigenem Willen
heraus ins Freie trat. Auf ihren Armen trug sie ein Kind, ein Mädchen
von kaum drei Monaten, das blinzelnd sein Köpfchen von dem allzu
grellen Licht des Tages abwandte, hatte es doch bisher in seinem Dasein
nur das graue Dämmern irgend einer düsteren Zelle des Gefängnisses
gekannt.
Als die junge Frau – die Mutter dieses
Kindes – nun so der versammelten Menge gegenüberstand, drückte
sie unwillkürlich ihr Kind ganz fest an die Brust, doch nicht so sehr
aus einem Gefühl mütterlicher Zärtlichkeit heraus, sondern um dadurch
ein gewisses Zeichen zu verbergen, das an ihrem Kleide angebracht war.
Einen Augenblick später jedoch zog eine brennende Röte über ihr Antlitz.
War es nicht vergeblich, das eine Zeichen ihrer Schande mit
dem anderen verbergen zu wollen? Ein wehes, doch stolzes Lächeln
huschte über ihre Züge, sie nahm das Kind auf den Arm zurück und sah
sich mit entschlossenem Blicke, frei von jeder peinvollen Verlegenheit,
in dem Kreise ihrer Nachbarn und Mitbürger um, die sie gaffend
umstanden.
Mitten auf ihrer Brust, aus feinem, scharlachrotem Tuche
geschnitten und mit kunstvoller Stickerei aus Goldfäden umschlungen,
sah man den Buchstaben A{*}. Er war mit solcher
Kunstfertigkeit ausgeführt und so prächtig verziert, daß er ein Schmuck
und Aufputz ihres Gewandes zu sein schien, das gleichfalls, trotz des
düsteren Geschmackes der Zeit, überaus kostbar war und
inmitten der allgemein üblichen strengen Schlichtheit prächtig auffiel.
Die Gestalt der jungen Frau war groß und
schlank und von ausgeprägter Vornehmheit. In ihrem dunklen, üppigen
Haar spiegelte sich das Licht der Sonne, ihr Antlitz, das die Schönheit
ebenmäßiger Züge trug, wurde von einer klaren Stirne und tiefen,
ausdrucksvollen Augen beherrscht. In ihrer Haltung zeigte sie jene
Stattlichkeit und Würde, die in damaliger Zeit die Frau der höheren
Stände kennzeichnete. Und niemals war Hester Prynne vornehmer
erschienen – im alten und eigentlichen Sinne dieses
Wortes – als nun, da sie aus dem Gefängnis heraustrat!
Diejenigen, die sie schon früher gekannt und nun erwartet hatten, sie
niedergedrückt und elend vor sich zu sehen, bemerkten mit Erstaunen und
Verwunderung, wie ihre Schönheit strahlender denn je aufleuchtete und
das Unglück und die Schmach, von der sie umhüllt war, fast in einen
Schein der Verklärung verwandelte. Dennoch mochte es sein, daß ihr
Anblick für einen empfindsamen Beobachter etwas unsagbar Schmerzliches
an sich hatte. Ihre Kleidung, die sie sich für diese Gelegenheit im
Gefängnis selbst angefertigt und nach eigenem Geschmack
zusammengestellt hatte, war in ihrer wilden, malerischen
Eigentümlichkeit nur ein Ausdruck der verzweifelten Unbekümmertheit,
die ihre Seele erfüllte. Doch der Gegenstand, der nun aller Augen auf
sich zog und Hester Prynne förmlich verwandelte, so daß die Männer und
Frauen, mit denen sie sonst in vertrauten Verhältnissen gelebt hatte,
sie anstarrten, als sähen sie sie zum ersten Male – war der
scharlachrote Buchstabe, dessen prächtige Stickerei ihre Brust zierte.
Er hob sie wie durch einen Zauber aus allen gewohnten, menschlichen
Verhältnissen heraus und schloß sie in eine Welt ein, in der sie völlig
allein stand.
„Sie versteht es, mit der Nadel umzugehen, das läßt sich nicht
leugnen“, bemerkte eine der Zuschauerinnen bissig. „Aber wagte es je
eine Frau, dies auf solche Art zu zeigen wie das schamlose Weibsbild?
Was? – Lacht sie damit nicht unseren würdigen Richtern ins
Gesicht und brüstet sich mit dem, was ihr als Strafe auferlegt worden
ist?“
„Man sollte ihr das prächtige Kleid vom Leibe reißen“,
murmelte ein anderes der alten Weiber mit giftiger Stimme. „Und was den
roten Buchstaben betrifft, so will ich ihr einen Lumpen von altem
Flanell besorgen, der besser paßt als dieses verzierte Ding!“
„Oh, still, Nachbarin, seid still!“ flüsterte daneben eine
junge Frau. „Laßt sie das nicht hören! Kein Nadelstich an diesem
gestickten Buchstaben, der ihr nicht mitten durchs Herz gegangen wäre!“
Nun hob der grimme Büttel seinen Stab.
„Macht Platz, ihr Leute, im Namen des Königs!“ schrie er.
„Öffnet eine Gasse und ich verspreche euch, daß Frau Prynne dorthin
geführt werden soll, wo ihr alle, Männer, Frauen und Kinder, ihren
feinen Aufputz nach Herzenslust bewundern könnt, von jetzt ab bis eine
Stunde nach Mittag! Denn jedes Unrecht kommt in unserem rechtschaffenen
Lande ans Licht! Nur vorwärts, Frau Hester, und zeigt Euer
scharlachrotes Zeichen all diesen Leuten auf dem Marktplatz!“
Durch die Menge der Zuschauer öffnete sich eine Gasse. Unter
dem Vortritt des Büttels und begleitet von der nachdrängenden Menge
finster blickender Männer und feindseliger Weiber schritt Hester Prynne
hindurch zu dem Orte, der für ihre Strafe bestimmt war. Eine Schar
neugieriger Schulbuben, die nicht viel mehr verstanden, worum es sich
handelte, als daß sie dadurch einen halben Feiertag hatten, lief vor
dem Zuge her und wandte beständig die Köpfe, um bald Hesters Gesicht,
bald das blinzelnde Kindchen in ihren Armen oder den scharlachroten
Buchstaben an ihrer Brust anzustarren.
Es war zu jener Zeit nicht weit vom Gefängnis bis zum
Marktplatz, für die Gefangene jedoch schien sich der Weg endlos
hinzuziehen. Trotz des verschlossenen, stolzen Gesichtsausdruckes litt
sie unter jedem Schritt der sie umdrängenden Menge unsägliche Qualen,
als würde ihr Herz selbst durch die Straßen gezerrt und von tausend
Füßen getreten. Unsere menschliche Natur jedoch schützt den Leidenden
auf eine wunderbare und barmherzige Weise, denn er wird sich der Größe
seiner Qual meist nicht durch die augenblicklichen Schmerzen bewußt,
sondern erst später durch die Spuren, welche davon zurückbleiben. Mit
fast übermenschlicher Gelassenheit schritt daher auch Hester Prynne
durch diesen Teil ihrer Prüfung und erreichte endlich den Marktplatz,
auf dessen westlichem Teil im Schutze der ältesten Kirche Bostons sich
breit und fest eine Art Schaugerüst erhob, als wäre es dort für alle
Ewigkeit errichtet.
Dieses Gerüst gehörte zu jener Strafvorrichtung, die wir heute
nur noch aus der Geschichte und Überlieferung kennen, die jedoch in
früherer Zeit als ebenso wirksames Mittel zur Förderung bürgerlicher
Tugenden galt wie die Guillotine während der Französischen Revolution.
Es war der Pranger mit seiner erhöhten Plattform und dem aufragenden
Gerüst, welches den menschlichen Kopf genau umfaßte und festhielt, um
ihn so dem Blick der Menge preiszugeben.
Diese ganze Vorrichtung aus Holz und Eisen war in der Tat eine
Verkörperung des größten Schimpfes, den man der menschlichen Natur
anzutun vermag. Denn welches Vergehen auch immer gesühnt werden sollte,
der Verurteilte konnte nicht grausamer getroffen werden, als indem man
ihm verwehrte, sein Gesicht vor Scham zu verbergen. Darin lag das
Wesentliche dieser Strafe. In Hester Prynnes Fall jedoch forderte das
Urteil bloß, daß sie drei Stunden lang auf der Plattform jener
Schandbühne zu stehen habe, ohne daß dabei Hals und Kopf von der
teuflischen Vorrichtung eingezwängt und festgehalten werden sollten. Da
sie genau wußte, was sie zu tun hatte, stieg sie die hölzernen Stufen
empor und stand nun etwa in Schulterhöhe über der Straße vor allem
Volke da.
Wäre unter der Menge der Zuschauer ein Katholik gewesen, so
hätte ihn diese schöne Frauengestalt in ihrer seltsam-malerischen
Bekleidung und mit dem Kinde an ihrer Brust vielleicht an ein Bildnis
der Gottesmutter erinnert, deren Darstellung schon so viele berühmte
Meister ihre Kunst geweiht haben. Doch während dort die Idee der
Mutterschaft so herrliche Verklärung findet, lag hier das Dunkel
frevelhafter Sünde über diesem heiligsten Bezirke menschlichen Erlebens
und die Schönheit dieser Frau sowie das Kind in ihren Armen verstärkten
nur den düsteren Schatten, der erbarmungslos über ihr schwebte.
Die Situation war, wie jede Schaustellung menschlicher Schuld
und Schande, von einem düsteren Ernste getragen, der sich auch auf den
Gesichtern der Zuschauer deutlich widerspiegelte. Denn die Zeugen von
Hester Prynnes Schmach hatten das ursprüngliche Empfinden und
natürliche Zurückschaudern vor Unrecht und Schuld noch nicht verloren.
Sie würden mit demselben Ernst in den Gesichtern auch den Tod der
Verurteilten hingenommen haben, hätte das Urteil so gelautet, doch
waren sie anderseits noch nicht von jener Herzlosigkeit einer späteren
Zeit, welcher eine solche Schaustellung sicherlich nur zum Spotte
gedient hätte. Auch wenn wirklich eine Neigung bestanden hätte, die
Situation ins Lächerliche zu kehren, so wäre diese sofort unterdrückt
worden durch die ernste Gegenwart keiner geringeren Persönlichkeiten
als der des Gouverneurs und der gesamten Geistlichkeit der Stadt. Diese
alle saßen oder standen auf einem balkonähnlichen Vorbau der Kirche,
der sich unmittelbar über dem Pranger befand. Wenn solche
Persönlichkeiten dem Schauspiele beiwohnten, ohne der Würde ihres
Ranges oder Amtes etwas zu vergeben, so durfte man annehmen, daß die
Vollstreckung dieses Urteils eine ernste und nachdrückliche Bedeutung
habe. Und so herrschte denn in der Menge eine strenge, düstere Stimmung
und tausende unbarmherziger Blicke richteten sich auf die unglückliche
Sünderin und das Zeichen der Schande an ihrer Brust.
Sie hielt sich aufrecht, so gut es eine Frau in dieser Lage
vermochte, doch die Last wurde ihr schier unerträglich. Von Natur aus
empfindsam und leidenschaftlich, hatte sie sich innerlich gewappnet, um
den giftigen Stacheln des Spottes und der öffentlichen Beschimpfungen
zu begegnen.
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