Die kleinen
Händchen griffen danach und über das Gesichtchen huschte ein
befriedigtes, fast verständnisvolles Lächeln. Hester rang nach Atem.
Ihre Hand faßte nach dem Zeichen, als wolle sie es mit einer ungestümen
Bewegung von ihrer Brust reißen, so tief war der Schmerz, den ihr die
Berührung der Kinderhand verursachte. Doch Perle hielt diese Bewegung
der Hand wohl nur für heiteren Scherz, ihr Blick suchte die Augen der
Mutter und ein neues Lächeln spielte um ihre Züge. Von diesem
Augenblick an fühlte sich Hester vor dem Kinde keinen Augenblick mehr
sicher, keinen Augenblick mehr vermochte sie sich ruhig an dem Kinde zu
freuen, außer wenn es schlief. Zwar vergingen oft Wochen, in denen
Perle dem scharlachroten Buchstaben keine Beachtung schenkte, dann
aber, völlig unvermutet, fiel ihr Blick wieder darauf und in ihre Augen
trat zugleich jener sonderbar lächelnde Ausdruck, der ihre Mutter so
vernichtend traf.
An einem Sommernachmittag, als Perle schon groß genug war, um
allein herumzulaufen, sammelte sie eine Handvoll wilder Blumen und warf
sie, eine nach der anderen, nach der Brust ihrer Mutter. Wie ein Kobold
tanzte sie dabei auf und ab, so oft sie den roten Buchstaben traf. Im
ersten Augenblick wollte Hester ihre Brust mit den Händen bedecken,
doch sei es aus Stolz oder Ergebenheit, vielleicht auch aus dem Gefühl
heraus, diese unaussprechliche Pein ertragen zu müssen – sie
widerstand dieser Regung und saß aufrecht still, totenblaß, nur ihre
Augen suchten angstvoll den Blick des Kindes. Schließlich hatte dieses
alle Blumen weggeschleudert und stand einen Augenblick lang still,
während der lächelnde Dämon des Bösen wieder aus seinen Augen blickte.
„Kind!“ rief da die Mutter schmerzvoll aus, „wer bist du
eigentlich?“
„Deine kleine Perle, Mutter!“ lachte das Kind als Antwort und
tanzte dabei mit so seltsamen Gebärden um sie herum, daß es Hester
nicht verwundert hätte, wenn der Kobold im nächsten Augenblick durch
den Schornstein davongeflogen wäre.
„Bist du denn wirklich und wahrhaftig mein Kind?“ Die Frage
war halb im Scherz gestellt, halb in einem unbewußten Ernst, als könnte
das rätselhafte Kind wirklich im nächsten Augenblick das Geheimnis
seines Wesens offenbaren.
„Ja, freilich bin ich deine Perle!“ wiederholte das Kind und
tanzte weiter.
„O nein, du bist nicht mein Kind!“ sagte Hester nun scherzend,
einer plötzlichen Neigung zu Spiel und Zärtlichkeit folgend, die sie
oft in ihrem tiefsten Leid überkam. „Du bist nicht meine
Perle – sag mir doch, wer du bist und wer dich zu mir sandte!“
„Sag du es mir, Mutter!“ rief das Kind aber nun mit
plötzlichem Ernst, während es herankam und sich eng an Hesters Schoß
schmiegte. „Erzähl' es mir doch, bitte!“
„Dein himmlischer Vater hat dich mir geschickt!“ antwortete
Hester, doch in ihrer Stimme lag ein leises Zögern, das der gespannten
Aufmerksamkeit des Kindes nicht entging.
Mit seinem kleinen Finger berührte dieses daraufhin den roten
Buchstaben – von kindlichem Scherz oder einem bösen Geist
getrieben – und rief: „Nein, nein, der hat mich nicht
geschickt! Ich habe keinen Vater im Himmel!“
„Still, Perle, still! So darfst du nicht reden!“ antwortete
die Mutter, einen tiefen Seufzer unterdrückend. „Er sandte uns alle in
die Welt, sogar mich, deine Mutter, um wieviel mehr also dich. Woher
kämst du denn sonst, du seltsames Geistchen, woher?“
„Sag' mir's doch, bitte! Sag' mir's doch!“ wiederholte Perle,
nun wieder lachend und voll kindlichem Übermut. „Ja, du mußt es mir
wirklich sagen!“
Doch Hester wußte keine Antwort auf die Frage, wurde sie doch
selbst von tausend Zweifeln erschüttert. Halb lächelnd, halb schaudernd
dachte sie an das Gerede der Leute, die, vergebens den natürlichen
Vater des Kindes suchend und erstaunt über dessen wunderlich-seltsames
Wesen, nur zu gerne an seine übernatürliche, dämonische Herkunft
glauben wollten. Hatten es doch die Menschen schon immer für möglich
gehalten, daß das Böse von Zeit zu Zeit in sündiger Buhlschaft mit
einem Weibe menschliche Gestalt annehme, um seine teuflischen Absichten
auf dieser Welt besser verfolgen zu können. Selbst von Luther hatten
seine mönchischen Widersacher dies behauptet, und hier in der
Beschränktheit dieser puritanischen Kolonie war Perle keineswegs das
einzige Wesen, von dem man solches glaubte.
7.
IM HAUSE
DES GOUVERNEURS
Eines Tages begab sich Hester Prynne zum
Hause des Gouverneurs Bellingham, um ein paar gestickte Handschuhe
abzuliefern, die bei ihr bestellt worden waren. Der Gouverneur wollte
sie anläßlich einer öffentlichen Festlichkeit tragen, denn bei solchen
Gelegenheiten achtete er strenge darauf, seine Erhabenheit und Würde
auch recht zum Ausdruck zu bringen.
Hester hatte jedoch noch einen anderen und weit wichtigeren
Beweggrund, den Mann aufzusuchen, der einen so großen Einfluß auf alle
Angelegenheiten der Gemeinde hatte. Es war ihr nämlich zu Ohren
gekommen, daß bei einem Teil der angesehensten Bürger der Stadt, die es
mit den Vorschriften der Religion und öffentlichen Ordnung am
strengsten nahmen, die Absicht bestand, sie von ihrem Kinde zu trennen.
Wenn die Vermutung richtig war, daß Perle, wie man vielfach sagte, von
dämonischer Abkunft sei, forderte es dann nicht christliche Fürsorge
für das Seelenheil der Mutter, eine solche immerwährende Versuchung von
ihr zu nehmen? Sollte aber das Kind moralischen und religiösen
Unterweisungen zugänglich sein und wie jedes andere menschliche Wesen
sich der göttlichen und menschlichen Ordnung fügen, dann war es
sicherlich besser, es um seiner selbst willen einer weiseren und
besseren Obhut anzuvertrauen, als es die ihrer Mutter war. Dies waren
die Gründe, welche für eine Trennung von Hester und ihrem Kind
angeführt wurden, und der Gouverneur war, wie man sagte, einer ihrer
eifrigsten Verfechter. Es mag uns heute sonderbar, wenn nicht
lächerlich erscheinen, daß zu jener Zeit sich die höchsten Würdenträger
des Staates mit solch einer Angelegenheit beschäftigten und die ganze
öffentliche Meinung daran teilnahm. In jenen altväterlichen Zeiten
jedoch wurden selbst noch geringere Dinge als Hester Prynnes und ihres
Kindes Wohlfahrt zum Gegenstand öffentlicher Erörterung gemacht, war es
doch sogar schon einmal bloß wegen eines Schweines in der
gesetzgebenden Versammlung zu erbitterten Streitigkeiten gekommen, die
eine nicht unwesentliche Abänderung der Verfassung nach sich zogen.
Von Sorge erfüllt, doch im Bewußtsein ihres guten Rechtes, das
ihr von der Natur selbst verliehen worden war und welches sie auch
gegen alle Forderungen der Öffentlichkeit zu verteidigen gedachte,
verließ Hester Prynne ihr einsames Häuschen. Die kleine Perle
war – wie immer – ihr Begleiter. Diese war nun in
einem Alter, wo sie schon flink an der Seite ihrer Mutter einherlaufen
und selbst einen noch längeren Weg mühelos hätte zurücklegen können,
war sie doch stets vom Morgen bis zum Abend in Bewegung. Zwar verlangte
sie manchmal aus bloßer Laune, auf den Arm genommen zu werden, ebenso
plötzlich aber wollte sie dann auch wieder hinunter und trippelte und
stolperte behende auf dem grasigen Wege vor ihrer Mutter einher. Wir
haben von der reichen, auffallenden Schönheit des Kindes bereits
gesprochen, die aus seinem blühenden Gesichtchen, seinen tiefen,
glänzenden Augen und dem weichen, dunklen Haare aufleuchtete. Sein
ganzes Wesen war von Feuer und Leben erfüllt, als wäre es unmittelbar
einer leidenschaftlichen Aufwallung des Gefühles entsprossen. Dazu trug
es ein rotes Samtkleidchen von eigenartigem Schnitt und so kunstvoller,
reicher Verzierung, daß ein weniger blühendes Köpfchen darin blaß und
unscheinbar erschienen wäre. Perles einmalige Schönheit aber wurde
dadurch nur noch mehr hervorgehoben und unterstrichen, so daß sie
fürwahr das leuchtendste Flämmchen war, das je auf dieser Welt erglühte.
Das Merkwürdigste jedoch an diesem Prachtkleidchen und an der
ganzen Erscheinung des Kindes war die Tatsache, daß sich jeder
Beschauer unwillkürlich und unvermeidlich dadurch an jenes Zeichen
erinnert fühlte, das Hester Prynne zu ewiger Schmach an ihrer Brust
trug. Hier war der scharlachrote Buchstabe in anderer Form, ein
lebendig gewordenes Mal der Schande! Die Mutter selbst hatte in
stundenlangem, krankhaftem Bemühen jene Ähnlichkeit zwischen dem
Gegenstand ihrer Liebe und dem Zeichen ihrer Schmach zu
veranschaulichen gesucht – war denn das Kind nicht tatsächlich
das eine wie das andere zugleich? Und so war es nur eine Folge dieser
inneren Wesensgleichheit, daß Perle auch in ihrer äußeren Erscheinung
ein Abbild des scharlachroten Buchstabens zu sein schien.
Als die beiden Wanderer die Straßen der Stadt betraten,
unterbrachen selbst die Kinder dort ihre freudlosen, kleinen Spiele und
blickten den beiden überrascht nach.
„Seht doch“, riefen sie einander zu, „da geht das Weib mit dem
scharlachroten Buchstaben! Und ein lebendiger roter Buchstabe läuft
stolz neben ihr her! Kommt! Auf! Wir wollen sie mit Schmutz bewerfen!“
Doch Perle, von solchen Drohungen keineswegs eingeschüchtert,
zog ihre Stirne in Falten, stampfte mit ihrem Fuße und ballte ihre
Händchen zu zorniger Abwehr. Dann stürzte sie plötzlich, kreischend und
tobend wie ein Racheengel, mitten in die Schar hinein, so daß diese,
von heilloser Furcht ergriffen, schleunigst das Weite suchte.
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