Doch in dem düsteren Ernst der Menge lag eine so
furchtbare Anklage, daß sie sich förmlich danach sehnte, all diese
unbeweglichen Gesichter in einem Lächeln der Verachtung aufleuchten zu
sehen. Wären sie alle, Männer, Weiber und Kinder, in ein schallendes
Hohngelächter ausgebrochen – Hester Prynne hätte ihnen mit
einem bitteren, verächtlichen Lächeln antworten können. Doch unter der
unerträglichen Last, die sie nun zu ertragen hatte, meinte sie in
manchen Augenblicken, mit aller Kraft ihrer Lungen aufschreien und sich
von ihrem Gerüst hinabstürzen zu müssen, wollte sie nicht wahnsinnig
werden.
Doch es gab auch Augenblicke, in denen das ganze Schauspiel,
dessen Mittelpunkt sie war, vor ihren Augen zu verschwinden schien oder
wenigstens so verblaßte, daß sie nur noch wesenlose Schatten vor sich
sah. Ihr Geist und besonders ihre Erinnerung waren unnatürlich tätig
und brachten immer wieder andere Szenen in ihr Bewußtsein als diesen
holprigen Marktplatz der kleinen Stadt am Rande der Wildnis, andere
Gesichter als diejenigen, die sie unter den Rändern ihrer spitzen Hüte
hervor so unverwandt anstarrten. Erinnerungen an ihre Kindheit und
Schulzeit, an ihre Spiele, an kindlichen Streit und kleine häusliche
Erlebnisse ihrer Mädchenjahre drangen auf sie ein und vermischten sich
mit ernsteren Erlebnissen ihres späteren Lebens, ein Bild so lebendig
wie das andere, als ob sie alle von gleicher Bedeutung wären oder alle
zusammen nur Spiel. Es war eine Instinkthandlung ihres Geistes, sich
durch das Versenken in diese Traumgebilde von der grausamen Last und
Härte der Wirklichkeit zu befreien.
Sei dem wie immer, die Plattform des Prangers war für Hester
Prynne wie ein Aussichtsturm, von dem aus sie den ganzen Weg
überblicken konnte, den sie seit ihrer glücklichen Kindheit
zurückgelegt hatte. Sie blickte zurück in ihren Geburtsort drüben im
alten England und auf ihr Vaterhaus, ein von Armut gezeichnetes,
verfallenes Gebäude aus grauem Stein, doch mit einem halb verwitterten
Wappenschild über der Eingangspforte, das von altem Adel zeugte. Sie
sah das Gesicht ihres Vaters mit seiner kahlen Stirne und dem
ehrwürdigen, weißen Bart, der über die altmodische elisabethanische
Halskrause herabwallte, sie sah auch das Antlitz der Mutter mit dem
Ausdruck sorgsamer, ängstlicher Liebe, den es immer in ihrer Erinnerung
trug und der sich schon oftmals, auch nach der Mutter Tod, der Tochter
als sanfte Mahnung in den Weg gestellt hatte. Sie
erblickte ihr eigenes Gesicht, wie es in mädchenhafter Schönheit aus
dem trüben Spiegelglase leuchtete, in dem sie sich damals zu betrachten
pflegte, und dann gewahrte sie ein anderes Antlitz, die Züge eines
Mannes von vorgeschrittenem Alter, blaß, schmal und durchgeistigt, mit
schwachen Augen, die bei trübem Lampenlicht allzulang über mächtigen
Büchern gesessen waren. Doch diese schwachen Augen hatten eine seltsam
durchdringende Kraft, wenn es die Absicht ihres Besitzers war, in der
menschlichen Seele zu lesen. Die Gestalt dieses klösterlichen Gelehrten
war etwas entstellt – wie Hester Prynnes weibliches
Erinnerungsvermögen nicht vergaß –, er trug die linke Schulter
etwas höher als die rechte.
Und wieder andere Bilder stiegen vor ihr auf: die winkeligen,
engen Straßen, die hohen, grauen Häuser, riesigen Kathedralen und
öffentlichen Gebäude einer Stadt des Festlandes, wo ein neues Leben auf
sie gewartet hatte an der Seite des mißgestalteten Gelehrten. Ein neues
Leben – doch auf absterbendem Boden, wie grünes Moos, das auf
abbröckelndem Mauerwerk wächst. Endlich, nach all diesen wechselnden
Bildern, kam wieder der schmucklose Marktplatz der puritanischen
Ansiedlung zurück, die versammelte Menge, die ihre finsteren Blicke auf
Hester Prynne richtete – ja, auf sie, die hier zur
öffentlichen Schande am Pranger stand, mit einem Kind auf dem Arm und
dem scharlachroten, golddurchwirkten Buchstaben an ihrer Brust!
War es denn möglich? Sie preßte das Kind so heftig an ihre
Brust, daß es aufschrie. Sie richtete ihre Augen nieder auf den
scharlachroten Buchstaben und berührte ihn mit ihrem Finger, um sich zu
überzeugen, ob das Kind und die Schmach denn Wirklichkeit wären.
Ja! – dies war nun ihre Wirklichkeit – alles übrige
war verschwunden.
3.
DAS
ERKENNEN
Von diesem qualvollen Bewußtsein, der
Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit und Verachtung zu sein, wurde
Hester Prynne mit einem Male befreit. Sie bemerkte plötzlich im
Hintergrunde der Menge eine Gestalt, die all ihre Gedanken
unwiderstehlich in Anspruch nahm. Ein Indianer stand dort in seiner
einheimischen Tracht und ihm zur Seite – offenbar in seiner
Begleitung – ein Weißer, dessen Kleidung ein seltsames Gemisch
von bürgerlich-zivilisierter und indianischer Tracht war.
Er war klein von Gestalt und sein Gesicht, obwohl noch nicht
ausgesprochen alt, zeigte tiefe Furchen. Seine Züge trugen unverkennbar
den Stempel beachtenswerter intellektueller Fähigkeiten, wie bei einem
Menschen, dessen geistige Kräfte auch sein körperliches Aussehen
eindeutig bestimmen. Obwohl seine Gestalt durch den anscheinend sorglos
zusammengewürfelten, seltsamen Anzug merkwürdig verhüllt war, bemerkte
Hester Prynne doch deutlich, daß eine seiner Schultern etwas höher war
als die andere. Als ihr dieser kleine Körperfehler bewußt wurde und ihr
Blick daraufhin nochmals auf das schmale, scharfe Gesicht fiel, preßte
sie ihr Kind mit so krampfhafter Gewalt an ihre Brust, daß dieses von
neuem vor Schmerz aufschrie. Doch die Mutter schien es nicht zu hören.
Schon beim Betreten des Marktplatzes hatte der Fremde seinen
Blick auf Hester Prynne gerichtet. Zuerst geschah dies gleichgültig,
wie bei einem Manne, der gewohnt ist, hauptsächlich nach innen zu
schauen, und für den die äußeren Dinge nur von geringem Wert und
Interesse sind, wenn sie nicht gerade zu seinem Inneren in irgendeiner
Beziehung stehen. Sehr bald aber wurde sein Blick scharf und
durchdringend und ein qualvolles Entsetzen verzerrte seine Züge. Sein
Gesicht verdunkelte sich unter dem Eindruck einer überwältigenden
Gemütsbewegung, doch bezwang er diese durch eine Anstrengung seines
Willens so schnell, daß er schon im Augenblick darauf wieder vollkommen
ruhig schien. Die Zuckungen seines Gesichtes wurden fast unmerklich und
versanken schließlich ganz in den Tiefen seines Wesens. Als er nun
plötzlich Hester Prynnes Augen auf sich gerichtet sah und bemerkte, daß
auch sie ihn erkannt hatte, hob er langsam und ruhig seinen Finger,
machte ihr damit ein Zeichen und legte ihn dann an seine Lippen.
Darauf klopfte er einem neben ihm stehenden Bürger auf die
Schulter und fragte ihn mit förmlicher Höflichkeit:
„Ich bitte Euch, werter Herr, wer ist dieses Weib? Und weshalb
ist sie hier der öffentlichen Schande preisgegeben?“
„Ihr müßt wohl fremd sein in dieser Gegend, mein Freund“,
antwortete der Städter, während er neugierig den Mann und den ihn
begleitenden Indianer betrachtete, „sonst würdet Ihr sicherlich von
Hester Prynne gehört haben und ihrem üblen Wandel. Sie hat schändliches
Ärgernis erregt, das kann ich Euch versichern.“
„Ihr vermutet richtig“, antwortete der Mann, „ich bin fremd
hier und war lange auf der Wanderschaft, gegen meinen Willen. Zu Lande
und zur See hatte ich viel Mißgeschick zu erdulden und wurde zuletzt
von den Eingeborenen im Süden gefangengehalten. Nun hat mich dieser
Indianer hierher begleitet, damit ich mich aus meiner Gefangenschaft
loskaufen kann. Erzählt mir daher, wenn es Euch beliebt, mehr von
Hester Prynne – habe ich ihren Namen recht gehört? –
von ihrem Vergehen und weshalb sie nun dort auf jenem Pranger steht!“
„Das will ich, Freund, und ich glaube, es wird Euch nach all
den Fährnissen und der Gefangenschaft in der Wildnis erfreuen, wieder
in einem Lande zu sein, wo das Unrecht verfolgt und angesichts von
Richter und Volk bestraft wird, wie hier bei uns. Jenes Weib, müßt Ihr
wissen, war die Gattin eines gewissen Gelehrten, der, obwohl Engländer
von Geburt, lange Zeit in Amsterdam gelebt hatte, bis er sich vor
geraumer Zeit entschloß, überzufahren und sich hier in Massachusetts
niederzulassen.
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