Man hatte diesen Mann im Gefängnis untergebracht, nicht weil der Verdacht irgendeines Verbrechens auf ihm lastete, sondern weil dies die bequemste Art war, über ihn zu verfügen, bis die Stadtbehörde mit den indianischen Häuptlingen über sein Lösegeld verhandelt haben würde. Er nannte sich Roger Chillingworth. Der Kerkermeister, der ihn eingelassen hatte, verweilte noch einen Augenblick und staunte über die augenblickliche Ruhe, die seinem Eintreten folgte. Hester Prynne war plötzlich totenstill geworden, nur das Kind fuhr noch fort zu stöhnen.

„Ich bitte Euch, guter Freund, laßt mich mit der Kranken allein“, sagte der Arzt. „Vertraut mir, Ihr werdet bald Ruhe haben in Eurem Hause. Und ich verspreche Euch, daß sich Frau Prynne der gerechten Autorität gegenüber dann fügsamer erweisen wird, als Ihr sie bisher gefunden habt.“

„Nein – wenn Euer Gnaden das zustande bringen“, antwortete Brackett, „will ich Eure Kunst wahrhaftig loben. Das Weib hat sich gebärdet wie besessen und es hat wenig gefehlt, daß ich ihr den Satan mit der Peitsche ausgetrieben hätte.“

Der Fremde hatte den Raum mit jener ruhigen Gelassenheit betreten, die dem Stande eigentümlich ist, dem er, seiner Aussage nach, angehörte. Sein Benehmen änderte sich auch nicht, als er, nachdem sich der Gefängniswärter zurückgezogen hatte, von Angesicht zu Angesicht der Frau allein gegenüberstand, deren Benehmen engste Beziehungen zwischen ihnen beiden vermuten ließ. Seine erste Sorge galt der Beruhigung des Kindes, das sich schreiend in seiner Wiege wand und dessen Zustand es in der Tat erforderlich machte, alles andere aufzuschieben. Er untersuchte die Kleine genau, dann nahm er aus seiner Brusttasche eine Lederkapsel und öffnete sie. Sie schien verschiedene Arzneien zu enthalten und er mischte eine davon in einem Becher mit Wasser.

„Meine alten Studien der Alchemie“, bemerkte er, „und mein mehr als einjähriger Aufenthalt unter einem Volke, das mit den Heilkräften der Pflanzensäfte wohl vertraut ist, haben aus mir einen besseren Arzt gemacht als manchen, der den Doktorgrad beansprucht. Hier, Weib! Das Kind ist dein – es hat nichts von mir – weder meiner Stimme noch meinem Aussehen nach wird es mich als Vater erkennen. So gib ihm denn mit deiner eigenen Hand diesen Trank ein!“

Hester wies die dargebotene Medizin zurück, mit deutlich ausgeprägter Furcht starrte sie in sein Gesicht.

„Willst du dich an dem unschuldigen Kinde rächen?“ stieß sie hervor.

„Törichtes Weib!“ gab er zurück, halb kühl, halb besänftigend. „Was sollte mich bewegen, diesem in Schande empfangenen, elenden Wurm ein Leid anzutun? Die Arznei ist gut, und wäre es mein eigenes Kind – ja, mein Fleisch und Blut sowohl wie deines! – ich könnte ihm keine bessere geben!“

Da Hester jedoch, in ihrem Zustand keiner vernünftigen Überlegung fähig, immer noch zögerte, nahm er schließlich das Kind in seine Arme und flößte ihm selbst den Trank ein. Und bald bewies dieser seine versprochene Wirksamkeit. Das Stöhnen der Kleinen ließ nach, ihre krampfhaften Zuckungen hörten allmählich auf und schon nach wenigen Augenblicken versank sie, wie es bei kleinen Kindern nach ihrer Befreiung von einem Schmerz gewöhnlich der Fall ist, in einen tiefen, kräftigenden Schlaf.

Nun wandte der Doktor – wie wir ihn wohl mit Recht nennen dürfen – sein ganzes Interesse der Mutter zu. Mit ruhiger und bedächtiger Aufmerksamkeit prüfte er ihren Puls und sah in ihre Augen – ihr Herz zog sich vor diesem Blick schaudernd zurück, so fremd und kalt war er und doch so vertraut. Zufrieden mit seiner Untersuchung, machte er sich schließlich daran, einen neuen Trank zu mischen.

„Hier – trinke es!“ sprach er. „Mag sein, daß es nicht so besänftigend wirkt wie ein schuldloses Gewissen – dies kann ich dir nicht geben. Aber es wird wenigstens den Aufruhr deiner Leidenschaften beruhigen wie Öl, das sich auf die Wogen einer stürmischen See ergießt.“

Er reichte ihr den Becher; sie nahm ihn entgegen und sah ihn mit einem langen, ernsten Blick an. In ihren Augen war nicht gerade Furcht, doch ein banger Zweifel, was wohl seine Absicht sein möge. Dann blickte sie auf ihr schlummerndes Kind.

„Ich habe schon manchesmal an den Tod gedacht“, sagte sie, „– und ihn herbeigewünscht. Vielleicht halte ich sogar Gott um ihn angefleht, wenn ein Weib wie ich es überhaupt wagen dürfte, im Gebet um etwas zu bitten. Doch – wenn wirklich der Tod in diesem Becher wäre, ich bitte dich, bedenke es noch einmal, eh' du ihn mich trinken läßt. Sieh, schon setze ich ihn an meine Lippen – –.“

„Trinke immerhin“, antwortete er mit unveränderter Kälte. „Kennst du mich so wenig, Hester Prynne? Pflegten meine Absichten je so seicht zu sein? Wenn ich wirklich einen Plan der Rache hegte, was könnte ich Besseres tun, als dich leben zu lassen, mit meinen Arzneien jede Gefahr von deinem Lehen abzuwenden – damit diese Schande sich tiefer und immer tiefer in deine Brust einbrenne?“ Bei diesen Worten berührte er den scharlachroten Buchstaben mit seinem Finger und ein sengender Schmerz durchzuckte rotglühend Hesters Brust. Er bemerkte ihre unwillkürliche Gebärde des Schmerzes und lächelte. „Lebe daher und trage dein Schicksal vor den Augen aller Welt – vor den Augen dessen, den du deinen Gatten nanntest – und vor den Augen jenes Kindes dort! Auf daß du leben mögest, leere den Becher bis zur Neige!“

Ohne weiteres Klagen oder Zögern leerte Hester Prynne den Becher und setzte sich auf den Rand des Bettes, in dem das Kind schlief, während der Mann auf dem einzigen Stuhle, der sich im Raum befand, ihr gegenüber Platz nahm. Sie zitterte bei diesen Vorbereitungen, fühlte sie doch, daß er nun, nachdem er ihre physischen Schmerzen gemildert und alles getan hatte, was ihm die Menschlichkeit, seine Grundsätze oder auch eine ausgesuchte Grausamkeit zu tun geboten, zu ihr nur noch als Mann sprechen würde, als der Mann, dem sie den tiefsten und unauslöschlichsten Schimpf angetan hatte.

„Ich frage nicht, Hester, wie noch weshalb du so tief gefallen oder besser auf jenen Schandpfahl emporgestiegen bist, auf dem ich dich fand“, sprach er. „Die Ursache ist nicht schwer zu finden: es war meine eigene Torheit und deine Schwäche! Ich, ein Mann der Wissenschaft, ein Bücherwurm, der seine besten Jahre hingegeben hatte, um den Drang der Erkenntnis zu stillen, dessen Kraft schon im Schwinden war – was hatte ich zu schaffen mit deiner Jugend und Schönheit? Mißgestaltet seit meiner Geburt, wie konnte ich mich so sehr täuschen, daß ich zu hoffen wagte, die Gaben meines Geistes würden meine körperlichen Gebrechen vor den Augen eines jungen Mädchens verbergen? Man nennt mich weise! Wenn Weise je vernünftig wären, sobald es sie selbst betrifft, hätte ich all dies voraussehen können, voraussehen müssen! Als ich aus dem Urwald heraustrat, um mich dieser Ansiedlung zu nähern, hätte ich wissen müssen, daß das erste, was meine Augen erblicken würden, du sein würdest, Hester Prynne, als lebendes Standbild der Schande aufgerichtet vor allem Volke. Nein, von dem Augenblick an, wo wir als verheiratetes Paar mitsammen die Stufen jener alten Kirche herabschritten, hätte ich am Ende unseres Pfades das schmachvolle Feuer dieses scharlachroten Buchstabens brennen sehen müssen!“

„Du weißt“, wandte Hester ein – denn wie bedrückt sie auch war, sie konnte diesen letzten Hinweis auf das Zeichen ihrer Schande nicht ertragen –, „du weißt, daß ich stets offen zu dir war. Ich fühlte keine Liebe, noch täuschte ich welche vor.“

„Ich weiß es“, antwortete er, „es war mein Fehler. Doch bis zu jenem Augenblick meines Lebens hatte ich umsonst gelebt.