Soweit seine Pflichten es gestatteten, hielt er sich auf schattigen Nebenpfaden und blieb einfach und kindhaft. Trat er dann aber bei Gelegenheit hervor, dann strömte eine solche Frische, Klarheit und Reinheit der Gedanken aus seinen Worten, daß seine Zuhörer sich wie von einem Engel angesprochen fühlten.

Dies war der junge Mann, auf den Pastor Wilson und der Gouverneur nun so offen die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt hatten, indem sie ihn aufforderten, vor aller Ohren in das Geheimnis jener Frauenseele zu dringen, das selbst auf dem Pranger noch unantastbar war. Die peinliche Lage, in der er sich befand, trieb ihm das Blut aus den Wangen und ließ seine Lippen beben.

„Sprecht zu dem Weibe, Bruder!“ wiederholte Pastor Wilson. „Es geht um das Heil ihrer Seele und daher auch um Eures, dessen Obhut sie empfohlen ist. Ermahnt sie, die Wahrheit zu bekennen!“

Pastor Dimmesdale senkte seine Augen wie zu einem stillen Gebet, dann trat er vor.

„Hester Prynne“, begann er, während er sich über den Balkon herabbeugte und ihr fest in die Augen blickte, „du hörst diese Worte und siehst die Verantwortung, die auf mir lastet. Wenn du fühlst, daß es dem Frieden deiner Seele dient und deine irdische Strafe dadurch mehr zu deiner Erlösung beiträgt, dann sprich ihn aus, den Namen deines Mitschuldigen und Mitleidenden! Schweig nicht aus falschem Mitleid und Zärtlichkeit für ihn, denn glaube mir, sollte er auch von einem hohen Platze herabsteigen müssen, um neben dir auf dem Schandpfahle zu stehen, es wäre besser für ihn, als sein schuldbeladenes Herz sein Leben lang zu verbergen. Was kann dein Schweigen ihm nützen, als daß es ihn zwingt, seine Sünde noch durch Heuchelei zu vergrößern? Der Himmel hat dir diese öffentliche Schmach gewährt, daß du dadurch über das Böse in dir und den äußeren Schmerz triumphieren mögest. Bedenke es wohl, deinem Mitschuldigen diesen bitteren, doch heilsamen Kelch vorzuenthalten, den du nun leeren mußt, während er nicht den Mut besitzt, ihn zu ergreifen!“

Die tiefe, wohltuende Stimme des jungen Pastors zitterte und klang wie gebrochen. Das Mitgefühl, das er so offen zum Ausdruck brachte, erweckte mehr noch als die Worte selbst in den Herzen der Zuhörer einen Strom warmer Teilnahme. Selbst das Kind an Hesters Brust schien diesen Einfluß zu empfinden, denn es richtete seinen bisher unsteten Blick nach oben und streckte mit einem halb frohen, halb kläglichen Laut seine Händchen nach Pastor Dimmesdale aus. So übermächtig wirkten die Worte des Predigers nach, daß die Menge nichts anderes glauben konnte, als daß Hester Prynne nun den Namen des Schuldigen aussprechen werde, wenn nicht dieser selbst, auf welch hohem oder niederem Platz er auch stehen mochte, von einer inneren, unwiderstehlichen Gewalt getrieben, das Schandgerüst besteigen würde.

Doch Hester Prynne schüttelte ihren Kopf.

„Weib, versuche nicht die Geduld des Himmels!“ rief Pastor Wilson zornig aus. „Dein Kind selbst hat seine Stimme erhoben und den Rat bekräftigt, den du hörtest. Nenne den Namen! Dies allein und deine Reue vermögen vielleicht, den scharlachroten Buchstaben der Schande wieder von deiner Brust zu nehmen!“

„Niemals!“ antwortete Hester Prynne, während ihr Blick in die tiefen, bekümmerten Augen des jungen Geistlichen tauchte. „Zu tief ist das Zeichen in mir eingebrannt, als daß Ihr es wieder von mir nehmen könntet – Oh, könnte ich doch auch seine Pein ihm von der Seele nehmen!“

„Sprich, Weib!“ rief kalt und streng eine andere Stimme aus der Menge der Zuschauer. „Sprich und gib deinem Kinde einen Vater!“

„Ich will nicht sprechen!“ antwortete Hester, zu Tode erblassend, denn sie hatte die Stimme nur zu gut erkannt. „Mein Kind muß sich einen himmlischen Vater suchen, einen irdischen wird es nie kennen!“

„Sie will nicht sprechen!“ murmelte Pastor Dimmesdale. Über den Balkon gelehnt und mit der Hand auf seinem Herzen, hatte er den Erfolg seiner Ansprache abgewartet. Nun holte er tief Atem und trat zurück. „Welch wunderbare Kraft eines Frauenherzens! Sie will nicht sprechen!“

Als der älteste Geistliche einsehen mußte, daß die Sünderin in ihrer Verstocktheit beharrte, ergriff er das Wort zu einer eindringlichen Predigt, die er wohl vorbereitet hatte. Immer wieder wies er dabei auf das scharlachrote Symbol an Hesters Brust hin und mit solchem Nachdruck verweilte er während der ganzen; Predigt bei diesem Zeichen der Schande, daß dieses in der Vorstellung der Zuhörer aufs neue ein Gegenstand des Entsetzens und Abscheus wurde und sein flammendes Rot direkt von den Gluten der Hölle entzündet zu sein schien.

Unterdessen stand Hester Prynne auf ihrem Gerüst mit starren Augen und einem Ausdruck müder, hoffnungsloser Gleichgültigkeit. Sie hatte an diesem Morgen alles ertragen, was menschliche Natur zu ertragen vermag. Da sie jedoch nicht von solcher Gemütsart war, die aus allzu tiefem Leid in einer Ohnmacht Erleichterung findet, konnte sich ihr Geist nur hinter einer steinernen Wand von Gefühllosigkeit retten, während ihr Körper empfindungslos weiterlebte. In diesem Zustande donnerte die Stimme des Predigers erbarmungslos, doch völlig unbeachtet an ihr Ohr. So näherte sich die Prüfung ihrem Ende. Das Kind erfüllte die Luft mit kläglichem Weinen, mechanisch versuchte sie es zu beruhigen, doch schien sie kaum an seinen Schmerzen teilzunehmen.

Mit demselben harten, wie versteinerten Ausdruck wurde Hester Prynne dann ins Gefängnis zurückgeführt. Das eisenbeschlagene Tor schloß sich hinter ihr und verbarg sie endlich vor den Blicken der Menge. Diejenigen aber, die ihr bis zuletzt nachblickten, flüsterten noch einander zu, daß der scharlachrote Buchstabe in den dunklen Gängen aufgeleuchtet habe wie von höllischem Feuer.

4.
DIE UNTERREDUNG

Nach ihrer Rückkehr ins Gefängnis befand sich Hester Prynne in einem solchen Zustand nervöser Erregung, daß sie dauernder Beobachtung bedurfte, damit sie nicht sich selbst oder dem armen Kinde in ihrer grenzenlosen Verzweiflung ein Unheil zufüge. Als jedoch dann die Nacht hereinbrach und es sich immer noch als unmöglich erwies, sie zu beschwichtigen, hielt es Meister Brackett, der Gefängniswärter, für das beste, einen Arzt herbeizurufen, der glücklicherweise gerade zur Hand war. Er beschrieb ihn als einen Mann von großem Können in allen Zweigen gelehrter Arzneikunst, doch ebenso vertraut mit allem, was die eingeborenen Stämme über die Heilkraft der Kräuter und Wurzeln wußten, die in den Wäldern wuchsen.

Es war auch tatsächlich höchst notwendig, ärztliche Hilfe zu Rate zu ziehen, nicht nur für Hester selbst, sondern dringender noch für das Kind, welches mit seiner Nahrung aus der mütterlichen Brust zugleich auch alle Unruhe, Angst und Verzweiflung in sich hineingetrunken zu haben schien, die das Gemüt der Mutter erfüllte. Nun krümmte es sich in schmerzhaften Krämpfen und sein kleiner Körper war ein eindringliches Sinnbild der unsäglichen Qual, die Hester Prynne den ganzen Tag über erduldet hatte.

Dem Kerkermeister auf dem Fuße folgend, erschien jene kleine, hagere Gestalt in dem düsteren Gemache, deren Anwesenheit unter der Menge für Hester eine so furchtbare Überraschung gewesen war.