Standen ihr nicht auch die Pfade in die Wälder
offen, wo sich die Wildheit ihrer Natur mit einem Volke mischen konnte,
dessen Sitten und Gebräuche jenes Gesetz nicht kannten, das sie
verurteilt hatte? Doch ein rätselhafter Zwang hielt sie fest, ein
Gefühl, unwiderstehlich und unausweichlich wie ein schicksalhaftes
Verhängnis, welches den Menschen immer wieder an den Ort bannt und zu
der Stelle führt, wo er etwas Schweres, Entscheidendes erlebt hat, das
seinem Dasein die bestimmende Farbe aufdrückte. Und je düsterer dieser
Stempel seines Schicksals, um so unwiderstehlicher ist dieser Drang.
So fühlte sich auch Hester Prynne durch ihre Schande mit
diesem Boden verwurzelt. Es war, als ob sie durch eine neue Geburt in
dies Leben und diesen Ort hineingestellt worden wäre, alle anderen
Schauplätze ihres früheren Daseins, selbst das friedliche Dörfchen
drüben in England, wo sie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht
hatte, schienen ihr fremd wie längst abgelegte, ungewohnte Kleider. Es
waren eiserne Ketten, die sie hier festhielten, und ihre innerste Seele
riß sich daran wund – doch zerreißen konnte sie sie nicht.
Mag sein, daß auch noch ein anderes Gefühl sie an diesem Orte
festhielt, obwohl sie dieses wie ein Geheimnis vor sich selbst verbarg,
wenn es sich je aus Ihrem Herzen hervordrängte. Hier lebte und wandelte
jener Mensch, mit dem sie sich durch einen Bund verknüpft fühlte, der
zwar auf Erden nicht anerkannt wurde, der sie jedoch vor den Schranken
des ewigen Gerichtes dereinst zusammenführen würde zu immerwährender
Gemeinsamkeit. Immer und immer wieder rief der Versucher diese
Vorstellung in ihr wach und lachte über die leidenschaftliche und
zugleich verzweifelte Freude, mit der sie sich daran klammerte, um sie
gleich darauf wieder von sich zu stoßen. Was sie schließlich selbst
glaubte und als die Ursache ihres weiteren Verbleibens an diesem Orte
ihrer Schande betrachtete, war halb Wahrheit, halb Selbsttäuschung.
Hier war der Schauplatz ihrer Schuld gewesen, hier wollte sie also
auch – so sagte sie sich – ihre irdische Strafe
verbüßen, um durch die Qual ihrer täglichen Schande ihre Seele
reinzuwaschen und einen Frieden zu gewinnen, der heiliger war als
jener, den sie verloren, weil er so bitter erkämpft war.
Hester Prynne floh daher nicht. Am Rande der Stadt, doch
abseits von den anderen Wohnbauten, stand ein kleines, strohbedecktes
Häuschen. Ein früherer Ansiedler hatte es erbaut, doch bald wieder
aufgegeben, da einerseits der umgebende Boden zu unfruchtbar,
anderseits der Platz doch zu abgelegen war, um noch an dem
wirtschaftlichen Leben der Stadt teilzuhaben, das sich damals bereits
entwickelte. So stand es einsam unmittelbar an der Küste und schaute
mit seinen Fenstern über die Bucht hinweg auf die waldbedeckten, fernen
Hügel im Westen. Eine Gruppe kümmerlicher Bäume, wie sie nur auf der
Halbinsel wuchsen, vermochte die Hütte weniger zu verbergen, als die
Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß hier etwas war, was wohl am besten
überhaupt nicht ans Licht käme.
In dieser kleinen, einsamen Behausung richtete sich nun Hester
mit ihrem Kinde mit Erlaubnis der Obrigkeit, die immer noch ein
wachsames Auge auf sie hielt, wohnlich ein. Ein geheimnisvoller
Schatten von Mißtrauen und Scheu legte sich fast augenblicklich über
den Ort. Kinder, noch zu jung, um zu verstehen, warum diese Frau aus
der Sphäre menschlicher Gemeinschaft ausgeschlossen war, schlichen sich
neugierig heran, um sie bei ihrer Näharbeit am Fenster oder bei ihrer
Arbeit in dem kleinen Garten zu beobachten. Sobald sie aber des
scharlachroten Buchstabens an ihrer Brust ansichtig wurden, flohen sie
in wilder Hast, von seltsamer, unheimlicher Furcht ergriffen, davon.
Obgleich Hester in ihrer einsamen Lage niemanden hatte, der
ihr freundlich beizustehen wagte, brauchte sie doch keinen Mangel zu
fürchten. Sie verstand eine Kunst, die selbst in jener schmucklosen,
äußerlich so nüchternen Zeit vollkommen ausreichte, um sich und ihr
Kind zu ernähren. Es war die Geschicklichkeit ihrer Nadel, die einzige
Kunstfertigkeit, die einer Frau in früherer Zeit zugänglich war. An
ihrer Brust trug sie ja in dem so prächtig verzierten Buchstaben ein
hervorragendes Beispiel ihres Geschmackes und ihres Könnens, dessen
sich wohl selbst die Damen bei Hofe gerne bedient hätten, um die Seide
und das Gold ihrer Roben mit dem edleren Geschmeide menschlichen
Erfindungsgeistes zu schmücken. Hier freilich, in der düsteren
Einfachheit des puritanischen Lebens, gab es nur selten Gelegenheit,
solche Kunstfertigkeit anzuwenden, doch bei gewissen Anlässen mußte
auch die strenge Nüchternheit der Vorväter dem Zeitgeschmacke Rechnung
tragen, der gerade auf diesem Gebiet so hervorragende Leistungen
aufzuweisen hatte. Öffentliche Zeremonien, wie die Ernennung und
Einsetzung der städtischen Obrigkeit und alles, was mit deren Auftreten
vor der Öffentlichkeit zusammenhing, waren von äußerster Pracht und
Feierlichkeit. Breite Halskrausen, sorgfältig gestickte Bänder und
üppig verzierte Handschuhe waren unbedingt notwendige Bestandteile der
Kleidung jener Würdenträger, die daran teilnahmen. Auch anderen durch
Rang oder Reichtum ausgezeichneten Persönlichkeiten war es gestattet,
sie zu tragen, während gleichzeitig den weniger wohlhabenden Schichten
ein solcher Aufwand durch strenge Gesetze untersagt war. Eine weitere
starke Nachfrage nach Hester Prynnes Arbeit herrschte auch bei großen
Leichenbegängnissen, sei es, um die Würde des Verstorbenen besser zu
unterstreichen, sei es auch, um durch mannigfaltige Verwendung von
schwarzem Tuch und weißem Mull den schuldigen Schmerz der Überlebenden
stärker zum Ausdruck zu bringen. Schließlich boten auch Kinderkleidchen
noch eine Möglichkeit für Arbeit und Verdienst, trugen doch die kleinen
Kinder zu besonderen Gelegenheiten damals wahre Staatsroben mit
reichem, kunstvollem Zierat.
Nach und nach kamen Hester Prynnes Handarbeiten – wie
wir heute sagen würden – immer mehr in Mode. Ob aus Mitleid
mit ihr, die ein so elendes Schicksal zu ertragen hatte, ob aus einer
krankhaften Neugierde heraus oder infolge irgendwelcher anderer,
unwägbarer Umstände – Hester hatte jedenfalls so viel
einträgliche Arbeit für ihre Nadel, als sie nur bewerkstelligen konnte.
Vielleicht füllte sie auch wirklich eine Lücke aus und diente einem
Bedürfnisse, das sonst unbefriedigt geblieben wäre. Die Eitelkeit
schien sich selbst demütigen zu wollen, indem sie bei prunkvollen
Gelegenheiten die Gewänder zur Schau trug, die von ihrer sündigen Hand
angefertigt waren. Die Halskrause des Gouverneurs, die Schärpen der
Offiziere und die Kragen der Geistlichen waren Zeugen ihrer
Kunstfertigkeit. Sie schmückte Kinderhäubchen und Totenhemdchen, nur in
einem einzigen Falle wurde ihre Kunst niemals verlangt: wenn es nämlich
galt, den weißen Schleier einer Braut zu schmücken. Diese Ausnahme
bewies in ihrer Unbarmherzigkeit deutlich, daß sie aus der Gemeinschaft
ausgeschlossen war und blieb.
Für sich selbst suchte Hester nicht mehr zu erwerben als die
bescheidenste Notdurft. Ihrem Kinde aber gönnte sie doch ein wenig
Pracht und Überfluß. Während ihre eigene Bekleidung, aus grobem Stoff
und von dunkler Farbe, keinen anderen Zierat aufwies als den
scharlachroten Buchstaben, den zu tragen ihr Schicksal war, zeigten die
Kleidchen ihres Kindes eine geradezu phantastische Erfindungsgabe, die
viel dazu beitrug, das seltsam luftige Wesen zu verstärken, das sich
schon früh in dem kleinen Mädchen zu entwickeln begann.
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