Außer diesem kleinen Aufwand für die Bekleidung ihres Kindes verwandte Hester alles, was sie entbehren konnte, als Almosen für Notleidende und Arme, obwohl diese oft lange nicht so elend waren wie sie selbst und nicht selten die Hand, welche ihnen Speise gab, noch schmähten. Oft verbrachte sie auch ihre Zeit damit, für die Armen derbe Kleidungsstücke zu nähen, während sie diese Stunden doch viel besser ihrer Kunst hätte widmen können.

Es ist wahrscheinlich, daß diese Beschäftigung Hester Prynne eine Art selbstauferlegter Buße war, brachte sie doch bei dieser rauhen Arbeit ein wirkliches Opfer an Freude, die ihr die Ausübung ihrer Kunstfertigkeit sonst gewährt hätte. Ihre Natur war von einer sinnlichen Empfänglichkeit für üppige, reiche Schönheit, die ihr das Leben sonst nirgends gewährte als in ihrer eigenen Kunstfertigkeit, wie ja viele Frauen aus der Geschicklichkeit und Zierlichkeit ihrer Nadelarbeit ein Vergnügen schöpfen, das dem anderen Geschlecht unverständlich bleibt. Für Hester bedeutete dies zugleich in gewissem Sinne eine Befriedigung und Beschwichtigung ihres leidenschaftlichen Gemütes, doch gab es auch Augenblicke, wo sie – wie vor jeder anderen Freude – davor wie in scheuer Furcht zurückschreckte, als dürfe sie ihrer Seele eine solche Freude nicht gewähren. Freilich war diese krankhafte Reizbarkeit ihres Gewissens weniger ein Zeichen der Bußfertigkeit, als der Unklarheit und Aufgewühltheit ihrer gequälten Seele.

So hatte also Hester Prynne doch noch eine Aufgabe, der sie ihr Leben widmen konnte. Die Welt konnte ihre seltene Fähigkeit und natürliche Tatkraft nicht von sich stoßen, wenngleich sie sie mit einem Zeichen gebrandmarkt hatte, das einem weiblichen Herzen unerträglicher sein mußte als das Brandmal Kains. Ihr ganzer Verkehr mit den Bewohnern der Stadt zeigte deutlich, daß sie nicht mehr zu ihnen gehörte. Jede Geste, jedes Wort, selbst das Schweigen derer, mit denen sie in Ausübung ihrer Tätigkeit zu tun hatte, war ein Ausdruck ihrer völligen Verstoßenheit aus der menschlichen Gemeinschaft. Sie war so allein, als lebte sie in einer eigenen Sphäre und wäre durch andere Kräfte und Sinne mit dieser Welt verbunden als die übrigen Menschen. Sie lebte jenseits der Gesetze menschlicher Gemeinsamkeit und doch in ihrer nächsten Nähe, wie ein Geist, der die vertrauten Stätten seines früheren Lebens heimsucht und doch ausgeschlossen bleibt von Freude wie von Leid. Gelänge es ihm je, sich sichtbar oder bemerkbar zu machen, er würde nur Schrecken und Entsetzen hervorrufen.

Solche Gefühle, vermischt mit bitterer Verachtung, bildeten die einzige Art der Anteilnahme der Menschen an Hester Prynnes Dasein. Es war kein zartfühlendes Zeitalter. Obgleich sie selbst ihre Stellung nur zu gut kannte und keine Gefahr lief, sie je zu vergessen, wurde sie ihr doch immer wieder mit neuer, beißender Qual ins Bewußtsein gebracht. Oft stießen die Armen, denen sie eine Wohltat erweisen wollte, ihre helfende Hand voll Verachtung zurück. Oft träufelten ihr auch die Damen der Gesellschaft, mit denen sie bei ihrer Arbeit zu tun hatte, neue Bitterkeit ins Herz, vermischt mit jener versteckten Bosheit, deren nur haßerfüllte Weiber fähig sind, oder es traf sie ein roher Ausdruck wie ein Keulenschlag auf die schmerzende Wunde. Doch Hester hatte gelernt, sich zu beherrschen. Auf alle diese Angriffe blieb sie stumm, nur eine tiefe Röte stieg in ihre sonst blassen Wangen und versank erst nach einigen Augenblicken wieder in der Tiefe ihrer Brust. Mit übermenschlicher Geduld ertrug sie alles – doch unterließ sie es, für ihre Spötter zu beten, damit nicht die Worte des Gebetes sich unwillkürlich in ihrem Munde in einen Fluch verwandelten.

Unausgesetzt und auf tausenderlei Art wirkte das Urteil, das puritanische Findigkeit für sie ersonnen hatte, nach. Geistliche blieben auf der Straße stehen, um Worte der Ermahnung an sie zu richten, bis sich eine hohnlächelnde, finster blickende Schar um das unglückliche Weib versammelte. Betrat sie am Sonntag eine Kirche, um teilzuhaben an der Gnade und Barmherzigkeit des allmächtigen Vaters, so fand sie nicht selten, daß sie selbst Gegenstand der Predigt war. Vor Kindern hatte sie eine förmliche Angst, denn diese, die von ihren Eltern wohl die Vorstellung gewonnen hatten, daß der stummen Frauengestalt, die so scheu und allein oder höchstens in Begleitung ihres kleinen Kindes durch die Straßen eilte, etwas Grausiges, Verbrecherisches anhaften müsse, folgten ihr stets in einiger Entfernung schreiend durch die Straßen und ihre schrillen Stimmen stießen ein Schimpfwort aus, dessen Sinn sie zwar nicht verstanden, das aber dem unglücklichen Weib dafür nur um so gräßlicher ins Herz schnitt. Wie weit mußte ihre Schande verbreitet sein, daß alle, alle davon wußten! Es hätte sie nicht tiefer treffen können, wenn selbst die Blätter der Bäume es geflüstert, das Brausen des Sturmes es in alle Welt hinausgeschrien hätte! Eine besondere Qual bereitete jedesmal der neugierige Blick eines Fremden auf das Zeichen an ihrer Brust. Kaum vermochte sie zu widerstehen, es mit ihrer Hand zu verbergen, doch tat sie es nicht. Von Morgen bis zum Abend, unaufhörlich hatte Hester Prynne das Gefühl, als starre ein spöttisches Auge auf ihre Brust, die dennoch gegen die Pein nicht unempfindlicher wurde, im Gegenteil, das tägliche Maß an Bitterkeit und Scham schien ihre Empfindlichkeit nur noch zu vermehret!.

Manchmal jedoch, einmal in vielen Tagen oder auch Monaten, fühlte sie einen Blick, einen menschlichen Blick auf jenem Zeichen ruhen, der ihr einen Augenblick lang Erleichterung brachte. Es war, als ob die Hälfte ihrer Qual von ihr genommen würde. Doch im nächsten Augenblick schon kam alles mit doppeltem Schmerz zurück und ein Gefühl neuer Schuld lastete auf ihr. Hatte sie denn allein gesündigt? –

Die schwere Last ihres Schicksals blieb nicht ohne Auswirkung auf ihr Gemüt. Auf ihren einsamen Wegen durch die kleine Welt, die ihr verblieben, schien es ihr manchmal – und war es auch nur ein Spiel ihrer Phantasie, so war es doch zu mächtig, um unterdrückt werden zu können –, als würde mit dem scharlachroten Buchstaben ein neuer Sinn verliehen, eine seltsame, geheime Kenntnis der verborgenen Sünden im Herzen anderer Menschen. Sie schauderte vor dieser Erkenntnis zurück – und konnte doch nicht anders, als daran zu glauben. Die Offenbarungen, die sich ihr aufdrängten, erfüllten sie mit Grauen und Entsetzen. War denn der äußere Schein von Reinheit nichts als Lüge? War es möglich, daß, wenn je die Wahrheit ans Licht käme, manch scharlachroter Buchstabe die Brust anderer Menschen zieren würde? In all ihrem Elend war nichts so peinvoll für sie, wie dieses sich aufdrängende, dunkle Wissen um die Schuld so vieler anderer Menschen. Die Gelegenheiten, bei denen jenes seltsame Gefühl in ihr lebendig wurde, verwirrten sie vollkommen: oft war ihr, als poche das rote Zeichen an ihrer Brust voll mitfühlenden Einverständnisses, wenn sie einem ehrwürdigen Geistlichen oder Richter der Stadt begegnete, der von seinen Zeitgenossen als wahres Muster der Gerechtigkeit und Frömmigkeit betrachtet und verehrt wurde. Blickte sie dann erschreckt und erstaunt auf, dann sah sie freilich nichts als die Gestalt jenes Würdenträgers an sich vorüberschreiten.