Es war ihm unangenehm, so vorgerufen und von allen Augen angestaunt zu werden, als habe er Gott weiß was getan, und er hätte sich am liebsten in die Erde, oder noch weit lieber: ins Wasser verkrochen. Aber das ging nun einmal nicht.

Der Rektor hielt eine Rede, von der er wenig verstand, da er nicht zuhörte. Dann mußte Franz vortreten vor die andern Schüler und die Herren in schwarzen Röcken hin, und er fühlte, daß er rot wurde, als ihm die kleine, braune Bronze-Medaille an die Brust gesteckt wurde. Aber trotz aller Unbehaglichkeit durchdrang ihn doch in diesem Augenblicke ein Gefühl großer Gehobenheit, etwa ähnlich dem, das er empfand, wenn er ganz allein draußen in seinem Elemente schwamm und fühlte, wie er es beherrschte. Und dies Gefühl mußte sich in seinen Augen widerspiegeln, mit denen er jetzt aufschaute zu dem sonst so gefürchteten Rektor. Denn als dieser den Ausdruck stummer Begeisterung in den blauen, ehrlichen Augen des Knaben sah, ihm so ungewohnt bei seinen kühlen, früh lebensklugen Berliner Kindern, legte er noch einmal seine Hand auf den kurzgeschorenen Kopf vor ihm, und sich etwas niederbeugend, fügte er seinen Worten noch hinzu:—Du wirst gewiß einmal ein sehr tüchtiger Schwimmer werden…

Da aber antwortete Franz mit einer seiner sonstigen Schwerfälligkeit ganz fremden Plötzlichkeit und Schlagfertigkeit—und wieder stand das seltsame Leuchten in seinen Augen—:

—Der bin ich schon!

Der Rektor lächelte.

—Aber ja. Sonst hättest du dir das da nicht verdient. Ich meinte auch nur, daß du dich noch weiter ausbilden kannst; das willst du doch gewiß?

Franz war wieder der alte, und er antwortete mit seiner eben zu der Einsegnung eingelernten Verbeugung, die das einzige war, was ihm von der ganzen Geschichte "dieser heiligen Handlung" geblieben war:

—Jawohl, Herr Rektor!

Die Feierlichkeit war zu Ende und keiner froher darüber, als Franz, der sofort nach der Volksbadeanstalt stürzte und sie gerade noch lange genug offen fand, um im Wasser für eine halbe Stunde zu vergessen, was auf der Erde um ihn vorging.

Acht Tage vorher war er eingesegnet worden, und so waren die beiden größten äußeren Ereignisse seiner bisherigen kindlichen Jugend zusammengefallen.

Die Einsegnung selbst hafte ihn ganz kalt gelassen und er hatte mit dem besten Willen nicht die üblichen Tränen hervorquetschen können, die bei dieser Gelegenheit erwartet wurden. Aber die Verleihung der Medaille hatte ihn doch etwas innerlich erregt, da die andern so viel Wesens davon machten und ihn anstaunten, wo er ging und stand. Den tiefsten Eindruck machte es ihm, daß sein Name in den Zeitungen stand, und als an einem Abend dieser Woche der Onkel Sattlermeister aus der kleinen Markusstraße in dem elterlichen Keller erschien und mit dröhnender Stimme bei verschiedenen Weißen die Notiz im "Lokal-Anzeiger" über seinen Neffen vorlas, da war dieser fast so glücklich, wie einige Tage später, als derselbe Onkel ihn "zur Einsegnung" mit einer silbernen Taschenuhr beschenkte.

Jetzt war er von der Schule endgültig frei, die er im letzten Jahre geradezu gehaßt hatte. Er war nun darauf angewiesen, auf eigenen Füßen zu stehen, Geld zu verdienen, um seinen Eltern ein Kostgeld zu zahlen, mit einem Wort: sich durchs Leben zu schlagen, so gut es ging.

Für einen bestimmten Beruf, konnte er sich noch nicht entscheiden. Die besseren Berufsarten, die der Mechaniker, Ingenieure usw., bei denen ein Lehrgeld in der Höhe von mehreren hundert Mark zu bezahlen war, waren überhaupt ausgeschlossen, da sein Vater nie in der Lage gewesen wäre, auch nur hundert Mark auf einmal für einen seiner Söhne aufzutreiben. Aber auch die Lehrstellen, bei denen ein Lehrgeld nicht gefordert wurde, die nur die drei- oder vierjährige Verpflichtung unentgeltlicher Kraft verlangten oder nach einiger Zeit und sogar von Anfang an ein kleines, von Jahr zu Jahr um etwas höher werdendes Gehalt bewilligten, waren ihm versagt, denn jetzt wo er vierzehn Jahre alt geworden war, erklärten die Eltern, ihn nur bei sich behalten zu können, wenn er wöchentlich seinen Beitrag für Wohnung und Essen beisteuerte.

Alle seine Brüder hatten das getan, bevor sie sich selbständig gemacht, das heißt geheiratet hatten oder in die Fremde gegangen waren, und Franz wäre der letzte unter ihnen gewesen, der nicht eingesehen hätte, wie berechtigt die Forderung war. Die Familie Felder hatte immer zusammengehalten und gesucht, sich das Leben gegenseitig zu erleichtern; daß es so schwer war, nahmen alle als eine unabänderliche Notwendigkeit, und Franz machte keine Ausnahme, wenn er nicht darüber nachdachte, warum es eigentlich für sie alle so schwer war…

Er ging ohne Zaudern daran, sich Arbeit zu suchen. Er schreckte vor keiner zurück. Im Winter war er Laufbursche und Austräger in verschiedenen Geschäften, hatte dann eine Stelle als Bote in einem großen Zigaretten-Importgeschäft, zu dem er in einer auffallenden Uniform und in einer Mütze mit Aufschrift gehen mußte; und im darauffolgenden Sommer zog er für eine Papeteriewarenhandlung mit einem Karren und einem Hunde, meist allein, zuweilen aber auch mit einem zweiten Jungen, vom Morgen bis zum Abend in der ganzen Umgegend von Berlin herum um Waren abzuliefern. So brachte er es fertig, während dieses ganzen Jahres nie weniger als zehn Mark die Woche zu verdienen, und meistens noch etwas mehr, bis zu dreizehn und selbst vierzehn, die Trinkgelder eingerechnet.

8

Alles, was er an Geld und Zeit erübrigen konnte, gehörte bis auf die letzte Minute und den letzten Pfennig seiner ersten Liebe: dem Wasser!—

Immer brachte er es fertig, auf seinen Geschäftsgängen—und mußte er sich noch so sehr vorher und nachher beeilen—so viel an Zeit zu erübrigen, daß er in das zunächst gelegene Schwimmbad eilen konnte auf ein kurzes, oder, wenn es irgend anging, auf ein langes Bad. Im Sommer fast täglich: da befand er sich meist in den Vororten von Berlin, und statt der wenigen Winter-Schwimmbäder der Stadt fand er überall ein Sommerbad. Und mochte er in Reinickendorf oder Steglitz, am Plötzensee oder in Rixdorf sein—im Sommer wenigstens durfte kein Tag vergehen, an dem er nicht in die Fluten tauchen konnte, die sein Element waren. Er verzichtete auf die Mittagsruhe unter einem Baum auf dem Felde; er überredete seinen Kameraden, mit dem Wagen eine halbe Stunde auf ihn zu warten, und versuchte es auf alle Weise— selbst durch Bestechung mit einem Sechser oder mit einem Glas Bier; er stellte den Wagen bei Bekannten, die er überall machte, für eine Stunde unter, nur um auf sein Vergnügen nicht verzichten zu müssen. Sonst so schwerfällig, wurde er schlau in der Anwendung der Mittel, die ihn zu seinem Ziele führen konnten: seinem täglichen Bade.

Übrigens fand er im Sommer meist Zeit. Bei diesen weiten, tagelangen Fahrten konnte sein Fortbleiben vom Geschäft aus nur selten so genau kontrolliert werden, wie im Winter; wenn er abends, und mochte es auch schon spät sein, mit dem leeren Wagen nach Hause kam und nur alle Bestellungen abgeliefert waren, war der Chef zufrieden, um so mehr, als Franz sehr zuverlässig und ehrlich war, so daß ihm oft große Summen zur Einkassierung anvertraut wurden.

Auch die paar Groschen für das Bad fand er immer. Sie waren seine einzige Ausgabe. Er hatte sonst kein Bedürfnis und verzichtete lieber auf sein Glas Bier, als auf sein Bad. Er konnte hungern und dursten— und oft genug tat er beides—: aber sein Vergnügen ließ er sich nicht nehmen. Auch war es ja ein so billiges Vergnügen. Da er sich immer noch in vielen Fällen auf ein Kinderbillet durchschmuggelte, so kostete ihm sein Hallenbad nicht mehr als zwanzig, sein Sommerbad meist aber nur zehn Pfennig. Das konnte er sich schon leisten. Nur sprach er nicht mehr so viel von seinem Vergnügen. Die Mutter hätte selbst über die kleine Ausgabe geklagt, und seine Freunde verstanden seine Leidenschaft doch nicht so, wie er sie fühlte.