Was wußte der Knabe von Hilfe? was wußte er von der Hilfsunfähigkeit eines ganzen Lebens? was wußte er von der Grauensernüchterung des Hilfelosen, der die Hilfe nicht einmal zu nennen vermag, so daß sie ihm für immer versagt ist? oder wußte er um den hilfsunwilligen Meineid und um die Sühne der Auslöschung? oder wollte er eben doch zu neuer Umwendung auffordern, unentrinnbar die schicksalsbestimmte Schein-um-Wendung zum Rausche? fast ward es Wiederkehr des Entsetzens, und ungeachtet seines fiebrigen Durstes verneinte er mit jäher und erschreckter Gebärde: «Keinen Wein, nein, nein, keinen Wein!» Seltsam wiederum und eigentlich wiederum überraschend war daraufhin die Erwiderung des Knaben; zwar hatte er, von der Ablehnung flüchtig getroffen, den Mischkrug sinken lassen, allein er nahm ihn sofort wieder auf und, zwischen den Händen ihn wägend, meinte er mit zufrieden beruhigter, seltsam beruhigender Miene: «Für das Trankopfer bleibt noch immer mehr als genug darin.» Oh, für das Opfer! nun hatte er es ausgesprochen! ja, um das Opfer war es gegangen, um das Opfer ging es! es ging um die Wiederherstellung der Opfereinheit, um die Wiederherstellung der Sinnbildhaftigkeit, in der die Einheit sich spiegelt, es ging um die Wiederüberwindung des Opferrausches, des Blutrausches, des Weinrausches, es ging um das Weltenopfer der eigenen Selbstauslöschung, um die schöpferische Auslöschung des Gewesenen und Geschaffenen, in der er, Opfernder und Opfergabe zugleich, Vater und Kind zugleich, Mensch und Werk zugleich, selber zum Gebet werden soll, ein gekehrt in die vollkommene Wachsamkeit des Vaters und in die vollkommene Kleinheit des Kindes, helfend vor Hilfeverlangen, schattenumwoben und selber dem Schatten verwoben in vollkommener Ausgelöschtheit, auf daß im irdischen Zusammenschluß des Bilderkreises, auf daß im letzten Aufrauschen der Dunkelheitstiefe, verdoppelt aufsteigend in der tierischpflanzlichen Kreatur, das Blut im Weine, der Wein im Blute gespiegelt, das äonenfern Unerahnbare sich echogleich lichtklingend dem Erschaubaren entlöse:
Es ging um die Wiederreinigung des Opfers, und würde er, dem solches auferlegt worden war, würde er versuchen, die keusche Handlung hier in dem furienverseuchten Zimmer zu vollziehen, ja würde er, dem Gräßlichen kaum noch entronnen, hier auch nur einen einzigen Tropfen des Weines berühren, es würde sich dieser gräßlich zu noch gräßlicherem Blute rückverwandeln, unrein bliebe das Opfer, und die Vernichtung des Werkes wäre nichts als eine sinnlosbedeutungslose Manuskriptverbrennung; nein, keusch mußte der Opferplatz sein, keusch die Opfergabe, keusch der Opfernde, Keuschheit in Keuschheit beschlossen, und spendend den lauteren Wein, opfernd in salziger Flut unter den Strahlen des aufgehenden Tagesgestirnes, perlmuttern aufzitternd die Schale frühmorgendlichen Himmels, so sollte es geschehen am Meeresstrande, verzehrt das Gedicht in der bebenden Flamme und doch, war solches Vorhaben nicht verruchtes Wiederaufleben jenes glatten Schönheitsspieles mit Worten und Geschehnissen, das schicksalhaft den Eidbruch des Lebens bestimmt hatte? war die Anordnung von Meeresstrand und Morgendämmerung und Opferflamme nicht eben jenes schlafwandlerische Spiel, in dessen blut- und mordgeschwängerter Unkeuschheit sich die Welt bewegt, sobald sie sich der Schönheit hin gibt? war es nicht das starrmordende Scheinopfer, das darin wieder auferstand, befohlen von den Göttern, sie selber hiezu befohlen, unentrinnbar das Scheinleben in besungener Scheinwirklichkeit, unentrinnbar das scheinwirkliche Zwischenreich der Dichtung? Nein und abernein, ohne Opferanordnungen, ohne Weinausgießung, ohne Schönheitsriten hatte es unverzüglich zu geschehen; er hatte keinen Augenblick zu verlieren, er durfte den Sonnenaufgang unter keinen Umständen ab warten, nein, jetzt mußte er es tun, und mit einer verzweifelten Anstrengung setzte er sich auf: unverzüglich wollte er ins Freie, irgendwohin, wo ein Feuer brannte, er wollte die Last der Manuskriptrollen hinschaffen, vielleicht würde ihm der Knabe dabei helfen, und irgendwo in der Sternennacht sollten des Gedichtes Worte zur Asche werden; die Sonne sollte die Äneis nicht mehr sehen. Dies war sein Auftrag. Er hielt die Augen auf den Manuskriptkoffer geheftet - indes: was war mit dem Koffer geschehen? als wäre er plötzlich in ganz weite Entfernung gerückt, war er zwergig klein geworden, ein Zwergenkoffer, verloren im zwergig gewordenen Hausrat, und obwohl bei alldem das Stück sich nach wie vor auf gleicher Stelle befand, man konnte nicht hingelangen, konnte nicht hinübergreifen. Und außerdem stand der Knabe dazwischen, uneingeschrumpft inmitten all der Einschrumpfung; in seinen Händen die gefüllte Trinkschale. Der sagte nun: «Nimm einen Schluck, nur als Schlaftrunk nimm ihn.» Es war mit all der eifrigen Besorgnis gesagt, die ein unversehens ins Verantwortungsvolle gewachsener Sohn seinem Vater gegenüber hegen mag, freilich auch ein wenig kindisch, ja rührend kindisch, da Verantwortungswille und Verantwortungsfähigkeit nicht übereinstimmten und daher eine kleine, in ihrer Geringschätzigkeit geradezu spaßhafte Überheblichkeit ergaben: ein Schlaftrunk wurde ihm angetragen, als ginge es nicht darum, die Erwachensangst, die des Gottes wie die des Menschen, noch einmal zu besiegen, als wäre nicht die Wachheit jetzt das Notwendigste und Dringlichste, um die Schöpfung noch einmal aufzunehmen! Oder war die Geringschätzung etwa gar berechtigt? war das Einschrumpfen der Äneis zur Zwergenhaftigkeit, war das Einschrumpfen ringsum, das die Gestalt des Knaben unberührt ließ, nicht etwa gar ein Zeichen für sein Recht zur Überheblichkeit? war seine Geringschätzung nicht das Zeichen einer höheren, die aus dem Jenseitigen stammt, einer Geringschätzung, welche anzeigen soll, daß das Opfer überhaupt nicht angenommen werden könne? daß man ihn ein für allemal als unwürdig erklärt hat, priesterväterliches Opferamt anzutreten? mußte er also in seinen Traum eingeschlossen bleiben - verwehrt der Abstieg, verwehrt die Wiederkehr, verriegelt die elfenbeinerne und erst recht die hörnerne Pforte? Und trotzdem! trotzdem gab es noch Hoffnung, oh, trotzdem konnte selbst er noch, er, der Verirrte, zu jener keuschen Begnadung hingeführt werden! Gewiß, unabgebüßt war die Verderbnis geblieben, ungeachtet aller Pein, aber die Vorhölle des Scheintodes hatte ihn entlassen, und vielleicht sollte der Knabe, erwachsen geworden, nun zum richtigen Führer werden, vielleicht war es dieser richtige Führer, der ihn, den Siechen und Schwachen, durch die Gnadenpforte tragen sollte! Oh, wie ein leuchtendes Strahlengefäß wurde die Trinkschale von dem Knaben empor gehalten, und nach ihr streckte er die Hand aus. Allein ehe er noch das Leuchtende ergreifen konnte, war alle Erwachsenheit von der Knabengestalt gewichen; entweder hatte das Eingeschrumpfte ringsum zur früheren Größenordnung zurückgefunden, oder -das war nicht ohne weiteres ausfindbar - es hatte der Knabe sich nun seinerseits ins Zwergige verkleinert: sollte also die Knabengestalt wirklich nicht wachsen dürfen? drohte ihr wirklich das Zwergige? Hilflos und führerlos und allein war er gelassen worden, auf daß er bis zum Schluß allein die Entscheidungspflicht trage, und er durfte den Trunk nicht annehmen: «Ein Schlaftrunk? nein... ich habe genug geschlafen, allzulange; es ist Zeit zum Aufbruch, hohe Zeit aufzustehen...» Mühselig und irdisch war es da wieder; der Knabe wollte nicht nochmals wachsen, wollte ihm keine Hilfe leisten, wollte ihn nicht stützen, weder beim Aufbruch noch beim Opfer, geschweige noch weiter - oh Enttäuschung, oh Angst, oh Bitte um Hilfe! Aber es konnte nur zu einem Zurücksinken in die Kissen werden, zu einem enttäuschtmüden, atemberaubten, stimmlosen Flüstern: «Kein Schlaf mehr.» Doch nun kam, hilfegleich, zum dritten Male eine überraschende Antwort: «Niemand hat so viel gewacht wie du, mein Vater; ruhe nun. Die Ruhe gebührt dir, mein Vater, oh wache nicht mehr.» Leise schlossen sich die Lider unter der Vateranrede, die wie ein Geschenk war, wie ein Lohn für Ausgelöschtheit, Gnadenlohn für eine Wachsamkeit, die gültig geworden, gültig erst jetzt, seitdem ihre Bereitschaft sich zur rückhaltlosen Zerknirschungsbereitschaft, und das wachsame Dienen am Vergangenen und Zukünftigen sich zum Ungeschehen einer freien Demut, zum Gewährenlassen des Jetzt gewandelt hatte: es war der Gnadenlohn steten Neubeginns, der Gnadenlohn, der unendlich wie Sühne vor aller Geburt und jenseits allen Tuns liegt. Denn Opfer und Begnadung sind eines, sie folgen nicht aufeinander, sondern gehen auseinander hervor, und nur derjenige ist würdig Vater genannt zu werden, der begnadet ist hinabzusteigen in den Schattenabgrund, damit er, selber zum Opfer gebracht, die Priesterweihe seines opfernden Amtes empfange, damit er eingegliedert werde in die erhaben unendliche Reihe der Väter, die zu der erhabenen Unzugänglichkeit des Anfangs führt und hier von dem schattenumschart thronenden Ur-Ahn, machtvoll vor Auslöschung, unablässig die Kraft unendlichen Neubeginns erhält, den Segen des menschlichen Seins für immer, segenspendend der Ur-Ahn, der Städtegründer jenseits der Erstarrung, der Namengeber, der das Gesetz gehoben hat, enthoben jeglichem Anfang und jeglichem Ende, enthoben der Geburt, ewig enthoben dem Ablauf. War er wirklich ausersehen, vor das erhabene Antlitz zu treten? konnte ein Knabe, konnte dieser Knabe wirklich die Pforte entriegeln? Als wäre es ein und dasselbe, war der Zweifel an sich selbst sehr sonderbar mit dem an des Knaben Berufung verknüpft, es war ein sonderbar zeitenentbundener Zweifel, und Frage war der Blick, mit dem er aufs neue die jungen Züge durchforschte, Frage war es, als er, auf die bittende Gebärde hin3 sich die Schale reichen ließ und trank: «Wer bist du?» fragte er aufs neue, nachdem er abgesetzt hatte, und die Beharrlichkeit, mit der es in ihm und aus ihm fragte, erstaunte ihn desgleichen aufs neue: «Wer bist du? ich bin dir schon begegnet... es ist lange her.» - «Gib mir den Namen, den du weißt», entgegnete es. Betroffen sann er nach, und er wußte bloß, daß sich der Knabe selber Lysanias genannt hatte, ja dies wußte er gerade noch, und es verdämmerte; es verdämmerte und verdämmerte, er fand den Namen nicht mehr, er fand keinen Namen, nicht einmal den, mit dem einstens seine Mutter ihn gerufen hatte. Und doch war es, als hätte die Mutter ihn eben jetzt gerufen, als riefe sie eben aus diesem entschwindend Unauffindbaren, als riefe sie ihn, daß er in eine Namenlosigkeit einkehre, die im Mütterlichen und jenseits alles Mütterlichen beheimatet ist. Ach, namenlos ist der Mutter das Kind, und immerzu trachtet sie das Kind vor dem Namen zu schützen, nicht nur vor dem falschen, dem unheilbringenden Zufallsnamen, sondern auch, und vielleicht noch mehr, vor dem richtigen, der zufallsenthoben in der unendlichen Ahnenreihe aufbewahrt wird, denn dieser Name, gehoben nur von dem, der selber namenlos hinabgestiegen ist, um in der Wurzelsphäre aller Wesenheit mit der Weihe väterlicher Priesterschaft ausgestattet zu werden, der Name ist im Opfer einbeschlossen und schließt das Opfer in sich ein: aber die Mutter, verhaftet dem Schöpfungsopfer der Geburt, das sie ist, schrickt vor dem Opfer der Wiedergeburt zurück, sie scheut es für das Kind, das sie geboren hat, sie scheut die nochmalige Schöpfung, sie scheut das Unbewältigte, Unbewältigbare, das Unerreichbare, das in der unnahbar abgründigen Wahrheitshelle eines Namens erahnt werden könnte, sie scheut die Wiedergeburt im Namen wie etwas Unkeusches, und sie will das Kind lieber im Namenlosen wissen. Namenlos wird das Sein, namenlos wird es, wo die Mutter ruft, und durchzittert von der Namenlosigkeit solchen Vor-Erwachens, aufatmend in der namenlosen Umhegung, sagte er:
«Ich weiß keinen Namen.» - «Du, mein Vater, du weißt sie alle, du gabst den Dingen ihre Namen; sie sind in deinem Gedicht.» Namen und Namen, die Namen der Menschen, die Namen der Gefilde, die Namen der Landschaften, der Städte und alles Geschaffenen, Heimatnamen, Trostnamen in der Bedrängnis, die Namen der Dinge, geschaffen mit den Dingen, geschaffen vor den Göttern, jene mit der Heiligkeit des Wortes immer wieder auferstehenden Namen, immer wieder gefunden von dem wahrhaft Wachenden, dem Erwecker und göttlichen Gründer! nimmermehr darf der Dichter solche Würde in Anspruch nehmen, ja mehr noch, selbst wenn es letzter, eigentlichster Auftrag der Dichtung wäre, die Namen der Dinge zu heben, ja, selbst wenn es ihr im Aufklang ihrer größten Augenblicke gelungen wäre, einen Blick in das Niemals-Erstarrende der Sprache zu werfen, unter deren Tiefenlicht unberührt und keusch das Wort der Dinge schwebt, die Keuschheit der Namen auf dem Grunde der Dingwelt, sie vermag im Gedicht wohl die Schöpfung im Worte zu verdoppeln, hingegen vermag sie nicht das Verdoppelte wieder zur Einheit zusammenzufassen, sie vermag es nicht, weil die Scheinumkehrung, weil die Ahnung, weil die Schönheit, weil all dies, was sie als Dichtung bestimmt und sie zur Dichtung macht, ausschließlich in der Weltverdopplung statthat, es bleiben Sprachwelt und Dingwelt getrennt, zwiefach die Heimat des Wortes, zwiefach die Heimat des Menschen, zwiefach der Abgrund der Wesenheit, zwiefach aber auch die Keuschheit des Seins und damit verdoppelt zur Unkeuschheit, die gleich einer Wiedergeburt ohne Geburt alle Ahnung wie alle Schönheit durchtränkt und den Keim der Weltenzersprengung in sich trägt, die Ur-Unkeuschheit des Seins, welche von der Mutter gefürchtet wird; unkeusch ist der Mantel der Dichtung, und nimmermehr wird Dichtung zur Gründung, nimmermehr erwacht Dichtung aus ihrem ahnenden Spiel, nimmermehr wird Gedicht zum Gebet, zu dem opfergültigen Wahrheitsgebet, das dem echten Namen der Dinge so sehr innewohnt, daß für den Betenden eingeschlossen vom Opferwort, sich die Weltverdopplung wieder schließt, daß für ihn und nur für ihn Ding und Wort wieder zur Einheit gelangen -, oh, Keuschheit des Gebetes, unerreichbar der Dichtung, und doch, oh doch ihr erreichbar, soferne sie selber geopfert, soferne sie überwunden und vernichtet wird. Und wieder entrang es sich ihm in einem Seufzer, in einem Schrei:«Die Äneis verbrennen!» - «Mein Vater!» Das tiefe Erschrecken, das aus dem Rufe herausklang, empfand er, wohl mit Recht, als Ablehnung seines Vorhabens; unmutig erwiderte er: «Nenne mich nicht Vater; es wacht der Augustus, er wacht über Rom, ihn nenne Vater, nicht mich... nicht mich... der Dichter gehört nicht zu den Wachenden.» - «Du bist Rom.» - «Das träumt jeder Knabe, vielleicht habe auch ich einmal so geträumt... aber ich habe bloß die Namen verwendet, die römischen Namen.» Der Knabe schwieg; dann allerdings tat er etwas Unerwartetes: mit der etwas tolpatschigen Geschicklichkeit eines Bauernjungen schwang er sich, als wäre es Ulmengezweige, an einem Ast des Kandelabers empor, brach einen der erloschenen Kerzenstumpen ab und entzündete ihn an dem Flämmchen der Öllampe -, was wollte er damit? doch ehe sich noch eine Erklärung finden ließ, hatte der Junge den Stumpen mit dem abtropfenden Wachs an einem Teller befestigt, und nun kniete er vor dem Koffer: «Magst du das Gedicht haben? ich will es dir reichen...» War es nicht der Knabe Vergil, der dort kniete? oder der kleine Bruder Flaccus? so hatten sie oft miteinander auf dem Boden gekniet, manchmal im Garten unter der Ulme, manchmal vor einer Spielzeugschachtel -, wer war der Knabe? nun schlugen die Kofferriemen hart zurück, der Lederdeckel sprang mit leisweichem Luftlaut auf, eine Hauchwolke von Papier und Lederduft, eine Hauchwolke längstgeschehenen, weichkratzenden Schreibgeräusches drang blaßheimatlich aus dem aufgeklappten Gehäuse, in dessen Innern, sauber eingeordnet, die Enden der Manuskriptrollen sichtbar wurden, Rolle an Rolle, Gesang an Gesang sauber aneinandergereiht, der vertraute, verführerischberuhigende Anblick der Arbeit. Vorsichtig hob der Knabe einige der Stücke heraus und legte sie auf das Bett: «Lies sie», bat er und schob den Teller mit der Kerze näher, um ihm besseres Licht zu bieten. War er nicht doch im Vaterhause? war es nicht doch der kleine Bruder? warum lebte dann die Mutter nicht mehr, wenn der Flaccus lebte? warum hatte sie dem Kleinen aus Kränkung in den Tod nachfolgen müssen? war es nicht die nämliche Kerze, die damals auf dem Tische in dem verschatteten Zimmer geleuchtet hatte, während draußen, von den Alpen besäumt die weichen mantuanischen Felder lagen und grau der langsame Herbstregen in die Abenddunkelheit fiel? Er sollte lesen -, ach, lesen! war dies noch möglich? war er dazu überhaupt noch imstande? hatte er je lesen, ja auch nur buchstabieren gelernt? zögernd, beinahe ängstlich öffnete er eine der Rollen, zögernd, beinahe ängstlich glättete er das aufgerollte Ende, schüchtern befühlte er das Papier, schüchterner noch die trockenen Schriftzüge, und mit all der Scheu, die einer unantastbaren Opfergabe gilt, ließ er den Finger darüber hingleiten, aber es war beinahe schlechtes Gewissen, weil es wie Wiedererkennen war, ein kleines Wiedererkennen des Handwerks und der einstigen Handwerkslust, darüber hinaus aber ein großes, ein nicht mehr eingestehbares Wiedererkennen, das hinter jedes Erinnern und jedes Vergessen zurückgriff, dorthin, wo es kein Erlernen mehr gab, keine Ausführung mehr, nur noch Planung, Hoffnung und Wunsch; nicht sein Auge las, nur seine Fingerspitzen lasen, sie lasen buchstabenlos, wortlos eine wortlose Sprache, sie lasen das sprachlose Gedicht hinter dem Wortgedicht, und was er las, bestand nicht mehr aus Zeilen, sondern war unendlich ungeheurer Raum von unendlich vielen Richtungen, in dem die Sätze nicht aufeinander folgten, sondern in unendlicher Verkreuzung einander überdeckten und nicht mehr Sätze, sondern Dome der Unausdrückbarkeit waren, der Dom des Lebens, der Schöpfungsdom der Welt, geplant im Vorgewußten: Unausdrückbares las er, unausdrückbare Landschaft und unausdrückbares Geschehen, die entschöpflichte Welt des Schicksals, in der die Schöpfungswelt gleich einem Zufall eingebettet liegt, und wo immer diese geschaffene Welt, die er hatte nachschaffen wollen, hatte nachschaffen müssen, sich nun hier zeigte und zum Ausdruck entwickelte, an all den Stellen, an denen die Satzwellen und Satzkreise sich überschnitten, da zeigte sich kriegfordernd Zwietracht und Blutopfer, da zeigte sich der unlebendige, der erstarrte Krieg, geführt von Menschen, welche Tote waren, da zeigte sich die Götterfehde im Entgöttlichten, da zeigte sich das namenlose Morden im Namenlosen, vollzogen von Schemen, die bloße Namen sind, vollzogen im Auftrag des Schicksals, das die Götter im Bann hält, vollzogen in der Sprache, durch die Sprache, im Auftrag der unendlichsten Sprache, in deren götterbeherrschender Unausdrückbarkeit ewiglich das Schicksal anhebt und sich beschließt. Ihn schauderte. Und obwohl er nicht mit den Augen gelesen hatte, wandte er den Blick von dem Blatte ab wie einer, der nicht mehr weiterlesen will: «Die Sprache vernichten, die Namen vernichten, damit wieder Gnade sei», kam es flüsternd von seinen Lippen, «so hat es die Mutter gewollt... schicksalslos die Gnade ohne Sprache...» - «Die Götter haben dir die Namen geschenkt, und du gabst sie ihnen zurück... lies das Gedicht, lies die Namen, lies sie...» Da mußte er über die Dringlichkeit der nochmaligen Aufforderung beinahe lachen; ja, es belustigte ihn, daß der Knabe nicht begriff, was gemeint war, und vielleicht nicht einmal begreifen durfte, worum es ging: «Lesen? gehört dies auch zu dem Schlaftrunk, kleiner Mundschenk?... nein, wir haben keine Zeit; laß uns auf brechen, komm und hilf mir...» Doch der Knabe - und auch dies war seltsam richtig -machte keinerlei Anstalten ihm aufzuhelfen, und da er es nicht tat, wurde gleichzeitig sehr klar, daß er gar nicht die Berechtigung besaß es zu tun: mochte auch die Zeit stillhalten, mochte auch der Kreis sich runden und das Erflammen mit dem Erlösenden zu Einem werden, mochte auch die mutterumhegte Unterworfenheit des Kindes ununterscheidbar sein von der Unterwerfung in Demut, mochte auch alles Vollendete ewiglich Planung bleiben, ja mochte er sogar niemals, o niemals, sprechen gelernt haben, es reichen Führung und Hilfe nicht über die erste Runde des Kreises hinaus; es war die Stimme des Knaben zum Echo geworden, das wohl noch antwortet, aber als bloßes Echo nichts mehr begreift, ein Vor-Echo, das aus einem Vor-Erwachen stammt, und sie war vorleuchtender Spiegel für die endgültig große, unsäglich erwartete Auslöschung, sie war Vor-Verkündigung für eine Stimme, die das Wort im Wortlosen sein wird, vereinigt das Nochnicht-Gesagte mit dem Nichtmehr-Gesagten im Unausdrückbaren, das im Abgrund aller Sprachräume leuchtet. Unerlernbar war die Sprache, unerlesbar, unerlauschbar. «Nimm die Rollen fort», befahl er, und diesmal gehorchte der Knabe, wenn auch nicht sehr willig, vielmehr mit kindisch enttäuschtem Trotz und einer kleinen Hinterhältigkeit, die ihn die Manuskripte auf den Tisch statt in den Koffer legen ließ. Auch dies war ein wenig belustigend. Und da er nochmals, als wäre es ein letztes Mal, die Züge des Knaben betrachtete, die hellen Augen darin, die sich nunmehr verfinstert hatten, obwohl sie noch immer erwartungsvoll blickten, da war ihm unversehens das vertraute Gesicht merkwürdig fremd geworden, und mit leiser Nachgiebigkeit, gleichsam zum Abschied, sagte er noch einmal: «Lysanias.» Es war ohne Ungeduld.
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