War es schon so weit? zerknirscht war sein Denken, soweit es noch statthatte, tierhaft war sein Tun, soweit noch etwas geschah, und im Unhörbaren stand blind das Gelächter; er war plötzlich und ohne irgendwelche Überlegung in dks Bett geraten, und erbärmlich in dieses eingeduckt, zugeschnürt die Kehle, trockene Kälte in allen Gliedern, bewußtlos anheimgegeben der schwarzunsichtbaren, über der Zerknirschung und dem Tierhaften verdoppelt ausgebreiteten Übermacht, bewußtlos anheimgegeben einem Bereiche jenseits der Furcht, jenseits des Schreckens, jenseits des Entsetzens, jenseits des Todes, dennoch einem neuen Aufbrechen von Furcht, Schrecken, Entsetzen, Tod preisgegeben, das Grauen im Unerfühlbaren erfühlend, im Unerkennbaren erkennend, war er fallen gelassen, dennoch gehalten, noch immer gehalten, hinein gehalten in den Leerheitsraum des Grauens, oh, er war hineingehalten in das Grauen und zugleich vom Grauen erfüllt: Anfangserinnerung und Enderinnerung berührten einander, sie beide verirrt eingeschlossene Einsamkeit im Lebensdickicht, im Stimmendickicht, im Bilderdickicht, im Erinnerungsdickicht, niemals erloschen der Anfang, mochte er von noch so vielen Jahren verschattet sein, niemals erloschen die Erinnerung des versprengten Herdentieres, die Erinnerung des Ur-Grauens, die einzige, welche geblieben war, und alle anderen waren wie Abwandlungen dieser grauenvoll einzigen, die auf jedem Ast des Erinnerungsgestrüpps saß, höhnisch kichernd, höhnisch lachend ob der unbeweglichen Eingeschlossenheit des im Dickicht unrettbar Verirrten, selber ihn umschließend, selber das Dickicht, selber die Undurchdringlichkeit; unbewegt war die Erinnerungsfahrt, die Fahrt des unaufhörlichen Anfanges und des unaufhörlichen Endes, die Fahrt durch den Gedächtnis-Unraum, die Fahrt durch den Unraum der stillstehenden Verirrtheit, durch den Unraum des unerinnerbaren Scheinlebens, unbewegt ging sie dahin, die sausende Fahrt durch alle Abwandlungen des Unraumes, unentrinnbar von ihnen begleitet und von ihnen eingehüllt, unräumlich in ihrem Scheinstillstand, unräumlich in ihrer Scheinbewegung, immer aber in der Unräumlichkeit des Grauens, weil es der unentrinnbare, der immer vorhandene, der niemals verlassene Kerker bleiernen Scheintodes ist, in dem grauenumgeben das Scheinleben des Menschen sich abspielt -, er war hineingehalten in den Unraum des Scheintodes. Und obwohl er still lag und nicht um die Breite eines Fingers sich in irgendeiner Richtung bewegte, und auch das Zimmer um ihn herum sich nicht im geringsten veränderte, war ihm, als ob er vorwärts getragen würde, ja, er wurde vorwärtsgetragen, vorwärtsgezogen ins Unsichtbare und vom Unsichtbaren, von seinem Vorwissen, von seiner Vorerinnerung, es huschte die Erinnerungsmannigfaltigkeit ihm voraus, als könnte sie ihn vorwärtslocken, als könnte und sollte die Fahrt hierdurch beschleunigt werden, er wurde vorwärtsgetragen von dem Grauen, in das eingehüllt er lag, vorwärtsgetragen zu dem Grauensziele, das am Anfang steht, und das Zimmer schwebte mit ihm, unverändert und dabei fahrtartig verformt, zeiterstarrt und dabei fortwährend sich verändernd. Starr lösten sich die Amoretten aus dem Fries und verblieben trotzdem darin, aus Malerei und Tünche lösten sich Akanthusblätter, menschengesichtig geworden und den Stengel zur gekrampften Adlerkralle ausgewachsen, sie wehten neben dem Bette dahin, die Fänge schließend und öffnend, als wollten sie deren Griffstärke erproben, es wuchsen ihnen Bärte aus dem Blattgesicht und wurden wieder darein verschluckt, sie wehten dahin im Unbewegten, oftmals sich überschlagend, oftmals wie in einem Wirbel der Unbewegtheit sich drehend, es wurden ihrer mehr und mehr, weit mehr als die Wandmalerei hergab, mochte sich diese auch ständig erneuern, sie entflatterten der Malerei, sie entflatterten der nackten Wand, sie entflatterten dem Nirgendwo, ausgespien von den kaltbrodelnden Vulkanen des Nichts, die überall auf brachen, im Sichtbaren wie im Unsichtbaren, im Innen wie im Außen, sie waren Vulkanlava, hauchiger Schutt des Vorentstehens und des Verfalles, mannigfaltiger und mannigfaltiger werdend, je mehr ihrer wurden, aus der Leerheit entstandene und entstehende Formen, die sich außerdem während ihres Dahingaukelns ineinander iund auseinander verwandelten, ungestaltetes und ungestaltbares Zeug, Blattwehendes und Schmetterlings wehendes, vieles pfeilartig, vieles gabelschwänzig, vieles mit langen Peitschenschwänzen, vieles so durchsichtig, daß es bloß unsichtbarstumm gleich schweigenden Schreckensrufen umherflog, manches dagegen bloß harmlos und einem blöddurchsichtigen Lächeln gleichend, das sonnenstäubchenhaft vervielfacht, mückenhaft unbekümmert leer umherschwärmte, den Kandelaber in des Raumes Mitte umtanzte, an den erloschenen Kerzen nippte, freilich sofort wieder durch Nachstürmendes, Nachsausendes, Nachtanzendes verdrängt und weitergedrängt, das Hohlgedränge der Gestaltlosigkeit, in dem neben Gesicht und Ungesicht, neben zwiegestalteten Szyllen und seltsamen Robben und gesträubten Hydren, neben blutig einhersausenden, blutig umbänderten Köpfen zerflattert zerschlängelten Haares, sich allerlei Verwachsenes tummelte, sausend allerlei Bekörpertes und Befußtes, allerlei Behuftes, kleinverkümmerte oder unfertige Zentauren und Zentaurenreste, geflügelte und ungeflügelte; es barst der orkusgeschwängerte Raum vor Fratzengetier, Krötiges und Eidechsiges und Hundspfötiges tauchte auf, Gewürm unbestimmbarer Beinzahl, beinlos, einbeinig, zweibeinig, dreibeinig, hundertbeinig, oftmals zappelschrittig im Bodenlosen, oftmals beingestreckthölzern, steifgestreckt dahinsegelnd, oftmals eng aneinandergepreßt, als wollten sie sich, bei aller Geschlechtslosigkeit, fliegend begatten, oftmals einander pfeilgeschwinde durchdringend, als wären sie durchlässiger Äther, als wären sie Äthergeschöpfe, äthergeboren und äthergetragen, wahrhaftig, das waren sie, da ihr übereinanderkollerndes, übereinanderkriechendes, übereinanderpurzelndes Fliegegewühl, obwohl sie einander verdeckten und überdeckten, bis zu den letzten Grenzen des mit ihnen vollgepackten Raumes und bis in die letzten Einzelheiten mühelos vom Blicke erhascht und erfaßt werden konnte, oh, sie waren das ätherbeschuppte, ätherbefiederte Äthergezücht aus dem Vulkan der Äonen, stoßweise emporgeworfen, sturzartig, flutartig, immer wieder verdampfend, immer wieder verflüchtigt, so daß immer wieder der Raum leer wurde, sphärenleer und leer wie das Weltall, nur noch durchtrabt von einem einsamen Roß, das gesträubter Mähne hoch in der Luft vorüberstampfte, nur noch durchschwebt von einem einsamen Mannstorso, dessen flachdurchsichtiges Gesicht, bettwärts gekehrt, sich zu einem leeren höhnischen Spiegellachen verzerrte, ehe es von der neuanschwellenden Ungezieferflut des Grauens wieder überschwemmt wurde -, und keines dieser Geschöpfe atmete, denn in der Vorgeborgenheit gibt es keinen Atem; zur Furienkammer war das Gemach geworden, und es bot Raum für das ganze Grauengeschehen, obschon dieses unaufhaltsam weiter wuchs: es brauchte sich die Zimmerdecke nicht zu heben, obschon der Kandelaber sich zum riesigen Baume entfaltet hatte, die Kerzenhalter unmäßig ausgestreckt zu uralt ragendem Gezweig dumpfschattender Ulme, und im Gelaube, Blatt für Blatt, gleißnerisch die Träume saßen, dichtgedrängt wie Tautropfen, es brauchten die Wände sich nicht zu weiten, obschon zwischen ihnen alle Städte der Welt lagen, sie alle brennend, die Städte der fernsten Vergangenheit und der fernsten Zukunft, menschenfauchende, menschenzerquälte Städte, namensferne Städte, die er trotzdem erkannte, die Städte Ägyptens und Assyriens und Palästinas und Indiens, die Städte der entthronten, ohnmächtig gewordenen Götter, gestürzt die Säulen ihrer Tempel, gesprengt ihre Mauern, zerbrochen ihre Turmhäuser, geborsten das Steinpflaster ihrer Straßen, und es reichte die Kleinheit des Gemaches für alle Weltgröße aus, obschon Stadt und Feld und Himmel und Wald sich in keiner Weise verkleinert hatte, vielmehr alles, groß und klein in einem, sich in einer beinahe übermächtigen Bedeutungsschwere und Bedeutungsgleichheit zeigte, bedeutungsgleich zulassend, daß unter dem Ulmengezweige, als sei der Laubschatten hochziehendes Gewittergewölk, sich in unübersehbarer Größe fürchterlich der Städte größte und verfluchteste aufbaute, inmitten ewig wiederkehrender Zerstörung das gedemütigte Rom, durch dessen Gassen beuteschnuppernd die Wölfe strichen, ihre Stadt wieder in Besitz zu nehmen, es umschloß das Zimmer den Erdkreis, und der Erdkreis umschloß das Zimmer, es umschlossen die Städte einander, und keine war außen und keine war innen, schwebend sie alle, indes, hoch darüber, hoch über den Vulkanen, hoch über der Versteinerung, hoch über dem Gelaube, abgesondert von allem, im übergewaltig grauen Gewölbe des Himmels, zornklirrend unbewegten Erzfittichs, blinkend und sausend wie Stahlgebilde, lautlos die Haßvögel ihre schweren großen Kreise über den Ländern der Greuel zogen, feiggrimmig bereit mit jubelwütig geöffneten Fängen herabzustoßen, um die Krallen in die blutigen Felder des Landmannes und in die blutenden Herzen zu schlagen, eingeweidehackend, eingeweidefressend sich einzuordnen in den Zug der Schmetterlinge und der Wölfe neben dem Bette, fliehend mit ihnen zu den Gestaden der Schutzlosigkeit und Trostlosigkeit, zu den Gestaden der Feuerkrater und der Drachenpflanzen, niemals gekannt, niemals benannt, immer gewußt, die Schlangengestade der Tierheit. Welche Vulkane der Vorschöpfung mußten sich da noch öffnen? welch neues Ungetier würden sie noch ausspeien? war nicht ohnehin schon alles zur letzten Nacktheit geöffnet? wohnte in dem Tierischen ringsum nicht ohnehin schon das Höchstmaß alles ausdenkbaren Entsetzens? Öder wies die Durchsichtigkeit der Angst zu neuem Angstwissen hin, zu neuer, noch tieferer Angst, zu neuer Unerahnbarkeit auf noch tieferen Urebenen? Alles war geöffnet, nichts war mehr festzuhalten, nichts mehr durfte festgehalten werden, nur das scheinbewegte Hinfliegen blieb, beharrlich blieb das verdämmerte Graulicht kalter Richtungslosigkeit, in der keine Ferne und keine Nähe, kein Oben und kein Unten sich zeigt, doch er, mitfliegend mit dem Zuge des Ungetiers, fliegend mit ihm durch das kalte Licht, fliegend durch das Richtungslose, er war umklammert und gehalten, er war von einer körperlos fliegenden Pflanzenhand mit ungezügelten, unzügelbaren Fingern gehalten, und er erkannte den Scheintod, die graue Starrheit, durch deren Unraum er dahingetragen wurde: eisiges Grauen ohne Sinnbildhaftigkeit waren die Bilder, die um ihn flössen, das Geschwänzte ohne Tierhaftigkeit, klaffenden Rachens ohne zu beißen, gezückter Kralle ohne zu fangen, gesträubten Gefieders ohne zuzustoßen, giftspritzend ohne zu treffen, schweifschlagend, schweifringelnd, Durchsichtiges, das über Durchsichtiges herfällt, lediglich in stummer Drohung und trotzdem furchtbarer als jedes Heulen und jedes Zupacken; das Grauen selber war durchsichtig geworden, der Wesensgrund der Grauensblöße hatte sich aufgetan, und in ihrem tiefsten Grunde, in ihrer tiefsten Brunnentiefe lag die zum Kreise geschlossene Schlange der Zeit, eisig das rieselnde Nichts umschließend. Ja, es war das starre Grauen des Scheintodes, und das Tiergesicht, kaum mehr ein Gesicht, nur noch Durchsichtigkeit des Pflanzlichen, stengelentsprossen, stengelverwoben, versträngt in Schweifstengeln, gebändigt von Schlangenstengeln, emporgeschossen aus einem unermeßlichen, unauffindbaren Wurzel-Unten, emporgeschossen aus der Einheit unermeßlichen Wurzelgeflechtes, dessen Untierhaftigkeit sich ihm einverleibt, das Tiergesicht entblößte sich zum Grauen der Eigenschaftslosigkeit, gespeist vom Nichts der Mitte. Keine Angst vor dem Tode konnte sich mit dieser grauenvollsten messen, denn sie war das Grauen vor dem Scheintod, umgeben vom Untertierischen, Hintertierischen, keine Angst vor Verwundung oder vor Schmerz oder vor Erstickung reichte an dieses erstickende Grauen heran, dessen eigene Unfaßbarkeit nichts mehr festhalten ließ, weil in der noch nicht geschöpften Schöpfung, in ihrem Un-Atem, in ihrer Atemnot sich nichts festhalten läßt; die Atemnot der unvollendeten, der ungeschöpften Schöpfung war es, ihre schiere Durchsichtigkeit, in der Tier, Pflanze, Mensch, sie allesamt durchsichtig, einander bis zur Gleichheit ähneln und infolge ihres atemlosen Entsetzens, infolge ihrer ungelösten und unlösbaren Gebundenheit an das Nichts, ungelebt und doch voll Drang nach gesondertem Sein, infolge solch höchster Gleichheit und solch höchster Feindschaft einander ersticken, sie allesamt erfüllt von der Grauensangst des Tieres, das die eigenschaftslose Tierheit an sich im eigenen Unsein erkennt, oh, die Erstickungsangst des Alls! Oh, hatte sie nicht stets bestanden? war er jemals von ihr wahrhaft frei gewesen?! War es nicht immer nur ein vergebliches Wehren gegen den Grauenssturm gewesen?! Oh, Nacht für Nacht war es vor sich gegangen, in Jahren und Aber-Jahren, jugendfern und gestrignah, Nacht für Nacht hatte er in eitler Selbsttäuschung vermeint dem Sterben zu lauschen, und doch war es bloß Abwehr des Scheintodgrauens gewesen, Abwehr der Scheintodbilder, die sich Nacht für Nacht gemeldet hatten, und von denen er nichts hatte wissen wollen, die zu sehen er abgelehnt hatte, und die trotzdem geblieben waren -

- oh, wer mochte schlafen, wenn Troja brennt! wieder und wieder! und es schäumet die Meerflut, zerwühlt von gezogenen Rudern, zerschnitten von den furchenziehenden Schiffen, vom Stoß ihrer dreizähnigen Schnäbel...

- unverscheuchbar waren die Bilder geblieben, Nacht für Nacht hatte ihn das Grauen durch das Schweigen der gespenstererfüllten Krater getragen, durch die Unerinnerung der Vorerschaffenheit, durch die zur unmittelbaren Nähe umgestülpte Äonenferne wiederpreis gegebenen Seins, durch die gelähmten Ödfelder aller Verlassenheiten, verlassen von allem Menschlichen und allem Dinglichen, wieder preisgegeben die Schöpfung. Nacht für Nacht war er an die unerschütterlich kaltzwingende Unwirklichkeit herangeführt worden, an das unwirklich Wirkliche, das allen Göttern vorangeht, alle Götter überdauert und der Götter Ohnmacht besiegelt, er war der Moira ansichtig geworden, der unhold und dreileibig Wartenden, in deren Bildern sich alle Gestalten des Scheintodes abwandeln, und er hatte die Augen vor ihrer gelähmt-lähmenden gewaltlosen Gewalt schließen wollen, blindsüchtig in der Verirrung, taub gegen den funkenkichernden Hohn des Nichts, dem der hilflos Ernüchterte trotzdem nicht zu entgehen vermag, taub gegen das vorschöpflich flache Schicksalslachen, das ihm das Nichtzu-Bewältigende des Unbenennbaren, Ununterscheidbaren, Ungeformten aufweist und ihn zur Zerknirschung auffordert, oh, so war es gewesen, das unausgesetzt Drohungsträchtige, das unausgesetzt Abgewehrte; es waren die Jahre wie eine einzige hinflutende Nacht, bilddurchströmt, bildumgaukelt, bildgetragen im Grauensstillstand, und das, was sich Nacht für Nacht angekündigt hatte, das Unausbleibliche, Unausweichliche, es war nun nicht mehr abzuwehren, es war der Grauenskrampf scheintoter Hingeworfenheit, in der er sargumfangen, grabumfangen liegen wird, hingestreckt zur stillstehenden Fahrt, er, einsam und ohne Beistand, ohne Fürbitte, ohne Hilfe, ohne Gnade, ohne Licht, ohne Ewigkeit, umgeben von den unerschütterlich steinernen Gruftplatten, die sich zu keiner Auferstehung mehr öffnen werden. Oh, die Gruft! auch sie war in dem engen Zimmer anwesend, auch sie war vom Ulmengezweige berührt, auch sie war von den Furien umtanzt, vom Furienhohn umwittert, oh, sie war Hohn ihrer selbst, auch sie Hohn der Selbsttäuschung, von der er nicht hatte ablassen wollen, Hohn seiner kindischen Hoffnung, mit der er sich vorgelogen hatte, es werde die stille Unveränderlichkeit der neapolitanischen Bucht, es werde des Meeres heitere Sonnengröße, des Meeres unermeßliches Heimatsglänzen, es werde solche Landschaftskraft leise sich des Sterbens annehmen und es zu der niemals gesungenen, niemals ersingbaren Musik umwandeln, die das Leben, lauschend und erlauscht für immer, zum Tode erwecken soll, oh, Hohn und Aber-Hohn, da das Gebäude im unräumlich Landschaftslosen nun stand, da sich nichts dahinter auftat, kein Meer, keine Küste, kein Gefilde, kein Berg, kein Stein, nicht einmal des Urlehms Ungeformtheit, nichts, nur unerfaßbare Kahlheit, unerfaßlich dräuend im Nichts, ein nacktes Hohngebäude, lediglich umgeben von derselbigen unablässig schwebenden Flutung, in der er mitsamt den Fratzengeschöpfen ringsum schwebte und hingeschwebt wurde, eingehüllt und schwimmend getragen von dem atemlos-unatembaren, untrinkbar-dursthaften Ätherglast, der nicht Luft und nicht Wasser ist, von dem durchsichtigen Qualmhauch aller Angstfeuer, von diesem Unatem aller Vorgeschöpflichkeit, der wie trockenes Rieseln zwischen den Fingern verweht, und in eben diesem schaurig tiergesättigten, schaurig tiergebärenden, schaurig tierverrieselnden ätherischen Element - aufsaugend den, der ins Tierhafte zurückgefallen ist - hockten Halbvögel auf dem Dachgesimse, schaurige Gruftvögel, fischäugige Scheinvögel in dichter Reihe, eulenköpfiges, gansschnäbliches, schweinsbäuchiges Graugefiedertes mit Füßen, welche schwimmhautbewehrte Menschenhände waren, aus dem Landschaftslosen hergekommene Hockvögel, deren Flug keiner Landschaft galt. So saßen sie dort in der Grauenskahlheit, glotzend und einganeinandergeschmiegt, so stand, von ihnen umbändert, die Gruft, ebensowohl noch im Erker hierinnen, wie draußen in unerreichbarster Zielferne. Alles war übereinandergelagert, die Kahlheit des Unhimmels überdeckte sich mit den Rundbögen der Erkerfenster, beides wölbte sich über die Gruft, beides war vom Unraum durchwoben, dennoch durchschimmert von der Samtschwärze des ganzen sterndurchwirkten Himmelsrundes, und ulmendurchwachsen waren die Weltgewölbe in einer unermeßlichen Vergrößerung aller Abstände und Entfernungen, die zugleich deren unermeßlichste Verkleinerung war; das Landschaftslose durchdrang die Landschaft und wurde von der Landschaft durchdrungen, der Unraum durchdrang den Raum und wurde vom Raume durchdrungen, sinnbildhaft im Sinnbildlosen, gleich wie das Tierhafte den Scheintod durchdringt und von ihm durchdrungen wird: erloschen waren die Sinnbilder des Lebens, erloschen die sinnerfüllt-sinnvollen Tierbilder des Himmels, sie waren erkaltet unter der sie überdeckenden Kahlheit, indes, die Sinnbilder des Todes waren geblieben, wenn auch nur im Sinnbildlosen der unausdrückbaren, unerdenkbaren, unerahnbaren Vorschöpfung, sie waren geblieben in den wesenhaft ausdrucklosen Tierfratzen, in diesen Grauensbildern, die aus dem Scheintod herauskrochen, gleichsam unmittelbar der Leerheit entstammend, das Nichts im Nichts spiegelnd und gespiegelt, Bild und Gegenbild vereinigt von der Ausdrucksvernichtung jener tiefsten Ur-Einsamkeit, die niemals erfaßbar, immer gewußt, immer gefürchtet, in der Äonentiefe der Zeiten und des kreatürlich Tierischen webt; der Kreis des Sinnbildhaften schließt sich im Ausdrucklosen, schließt sich dort, wo im verbindungsentblößt Unerschaffenen der Sphärendurchdringung sich die leere Äonenferne zur sichtbarnahen leeren Tierfratze umstülpt, als wäre das Wissensbild der Ur-Einsamkeit durch den ganzen unendlichen Bilderkreis hindurchgetragen worden, von Spiegelung zu Spiegelung, um am Ende aller Enden im Bildlosen sich zur letzten Nacktheit zu enthüllen, und in dieser Enthüllung, in diesem stummdröhnenden Durchbruch der Unerschaffung und ihrer Einsamkeit, hervorbrechend mit all der Bösartigkeit, welche die hilflos verwehte Angriffslust der leeren Tierfratze ausmacht, wurde das Unheil kenntlich, das hinter allem Geschaffenen und Unerschaffenen, das hinter der Vorschöpfung und hinter allen Einsamkeitsfernen erahnt wird, ahnungsdrohend aufgebrochen im Unheil des Scheintodes, ahnungsvoll dartuend, daß alle Wege der Umkehrung, daß alle Wege der Erstarrung, des Spieles und des Rausches unweigerlich zum Tierhaften führen, daß alle Wege der Schönheit unweigerlich im Grauensfratzigen enden. Und auf dem Dache der Gruft, die den Tod zur Schönheit hatte umgestalten wollen, saß die Kette der Unheilsvögel. Ringsum brannten die Städte des Erdkreises in landschaftsloser Landschaft, gestürzt ihre Mauern, zerrissen und zerborsten ihre Steinquadern, blutrauchend der Verwesungsdunst auf den Gefilden, ringsum tobte die gottlosgottsucherische Opferungssucht, gehäuft Scheinopfer und Scheinopfer im Opferungsrausch, ringsum tobten die Opferwütigen, den Nebenmenschen erschlagend, um auf ihn den eigenen Scheintod abzuwälzen, des Nachbars Haus zertrümmernd und in Brand steckend, um den Gott ins eigene Haus zu locken, unheilswütig, unheilsjauchzend tobte es, Opfer, Mord, Brand, Steinzertrümmerung dem Gotte zu Ehren, der es selber so will, da er das eigene Grauen, das eigene Wissen um das Schicksal übertäuben muß und lachenslüstern, vernichtungslüstern hiezu der Menschen Zwietracht entfesselt hat, die Rauschzwietracht, die Opferzwietracht, an der er, ohnmächtig geworden, teilnimmt und die ihm wohlgefällig ist, Gott und Mensch von der gleichen vernichtungswütigen Angst gejagt und abergejagt, von der Angst vor der Versteinerung in der steinernen Einsamkeit des Scheintodes, von der Erstarrungsangst, stillstandsgejagt das mordspielerische Göttergejohle, das menschliche Mordspiel, der Nichtsvulkan der Seele, und dahinflutend im flutenden Un-Element standen die Feuer still; aschenlos brannten die Städte, es wippten die Flammen wie steifgereckte Zungen, wie aufgerichtete Geißeln, sie schlugen aus keiner Tiefe empor, ja unter der aufgerissenen, aufgefetzten, zum Ausbruch ihrer selbst aufgeblätterten Oberfläche gab es keine zweite Oberfläche und noch viel weniger irgendeine Tiefe, es waren die Flammen nichts anderes als diese starraufgewühlte Oberfläche selber, und sie waren umtost von dem starrbrüllenden Gestrüpp der gelähmten Stimmen, deren Schreie nur noch gräßlich huschende, fangartige Schatten sind, sie waren umtost vom stummen Dröhnen der im Stiche gelassenen, der wieder preis gegebenen zersprengten Schöpfung: ringsum wuchsen starr neue Bauwerke aus den Trümmern, sie wuchsen empor ins graufahle Licht, ins Un-Licht der lichtlosen Fahlheit, wuchsen aus der Leere und waren trotzdem schon vorher und immer vorhanden gewesen, hoffnungslos seit jeher errichtet zur Verherrlichung des Dauermordes, zur Verewigung und Aufbewahrung des Unheils, die Bauten des Scheinlebens, die Bauten des Scheintodes, den Grundstein mit Blut übergossen, steinern auf dem Leben lastend, und kein Blut reicht hin, das Unheilserrichtete, das Unheilsummauernde, das Unheilsversteinerte in das Gesetz und in den Schöpfungsgang einzufügen, keinerlei Beschwörung reicht hin, eideserneuernd die eisige Schlange zerbersten zu lassen; stärker als die Schöpfung bleibt die Vorschöpfung, scheintot bleibt die Ungeschöpflichkeit, die den Kreislauf der Schöpfung unterbricht, die sich der Schöpfung entzogen hat und sich ihr entgegenstellt, die Ungeschöpflichkeit an sich, die ausschließlich sich selber verewigen will, die sich selber zum Denkmal setzt und sich selber zur Gruft macht, sie bleibt sprachberaubt und schuldbewußt und dem Atem entsunken, sie bleibt ungeachtet ihrer steinernen Denkmalhaftigkeit unverewigt und ohne Dauer, sie ist - da sie das Erschaffene von sich abgeschüttelt hat - zum Grabe ohne Wiedergeburt geworden. Da ward der Dom des Un-Raumes, der Dom des Un-Himmels selber zu einer einzigen Grufthöhle, eingebettet in den Schlangenringen der Himmelseingeweide, eingebettet in dem von den Göttern verschmähten, humustragenden Gekröse der Vor Schöpfung, in der das Schicksal zuckt und zeitverachtend sich verkündet; in diese Höhle wurde er hineingetragen, als wäre es Rückkehr, dorthin ging die Fahrt, und obwohl ausgestoßen aus den Himmeln, er selber schlangendurchwachsen, er lag dennoch eingebettet in den Himmelseingeweiden. Welch eine Umkehrung des Innen und Außen! welch fürchterliche Umstülpung! Ringsum brannten die Gruftstraßen und die Gruftstädte der totenbewohnten Erde, ringsum starrte die steinerne Zwecklosigkeit menschlichen Rasens, menschlichen Siegesjubels, menschlichen Opferrausches, ringsum standen steif die zündungskalten irdischen Flammen, und es war die Entschöpflichung des Menschen, die Schöpfungsentthronung des Gottes, steinern umbleckt vom sterbensentblößten Schöpfungstode -, in Angstzwietracht verwirrt der Götter Ratschluß, nach dessen Willen es hatte geschehen müssen. Denn Schöpfung verlangt nach immerwährender Auferstehung; nur in immerwährender Auferstehung vollzieht sich Schöpfung, und nur solange Schöpfung besteht, nicht einen Augenblick länger, findet Auferstehung statt, oh, nur dasjenige ist Geschöpf, darf Geschöpf genannt werden, nur dasjenige, das immer wieder hinabsteigt zu den Flammen der Wiedergeburt, unablässig bemüht, daß das Unbesiegte nicht neuerlich aufquelle, daß das vormütterlich Unerschaffene nicht, neuerlich auf breche zu steinerner Stummheit, oh, Geschöpf ist das Schöpfungsschaffende, das im Hinabsteigen sich selbst zum Opfer bringt, rückhaltlos und umwendungsbefreit, bar jeder Umkehrung zum Rausche, ja mehr noch, bar jeder Umkehrung zu irgendeinem Erkennen oder Wiedererkennen, abtuend jedwede kreatürliche Angst, abtuend auch den letzten kreatürlichen Wunsch, oh, wir sind bloß dann Geschöpf der Schöpfung, wenn wir das Kreatürliche gänzlich von uns abstreifen, wenn wir sogar der Erkenntnis, der kreatürlichen wie der außerkreatürlichen, uns zu entäußern gelernt haben, wenn wir uns aufraffen, demütig unsere letzte Zerknirschung auf uns zu nehmen, wenn wir unsere eigene Gruft zu zerstören vermögen! Und da ihm dieses innewurde, schwer und traumesferne, als läge er im Traume und als flüstere eine Stimme aus zweitem Traume in den ersten hinein, als werde der Götter Angst, der Götter Rache, der Götter Ohnmacht noch einmal durchbrochen, als übten sie noch einmal und vielleicht zum ersten Male mildtätige Barmherzigkeit, als stammte jenes geheimnisvoll wortlose Flüstern unmittelbar aus der noch einmal durchbrochenen Grauensfurcht der Götter und raunte ihm Mut zu, Mut zur Auslöschung, Mut zur Kleinheit, Mut zur Anheimgegebenheit, Mut zur Preisgabe an die Zerknirschung, da war in dieser flüsternden Wortlosigkeit, die wie Sprache außerhalb der Sprache war, eine noch engere Sinnverdichtung vernehmbar, wortloses Wort aus noch entfernterem Traume, als jener zweite es gewesen war, ein noch leiseres, noch dringlicheres Flüstern, unerfaßbar, dennoch zur Tat aufrufend, huschend und verklingend, dennoch härtester Befehl, unabweislich gebietend, daß alles, was dem Scheinleben gedient und es ausgemacht hatte, so sehr verschwinden müsse, daß es niemals gewesen war, aufgehend im Ungeschehenen, verfallen dem Nichts, abgeschieden von jeder Erinnerung, abgeschieden von jeder Erkenntnis, niedergezwungen alles Gewesene im Menschlichen wie im Dinglichen, oh, es war ' das Gebot, alles Getane zu vernichten, alles, was er je geschrieben und gedichtet hatte, zu verbrennen, oh, alle seine Schriften mußten verbrannt werden, alle und auch die Äneis; so hörte er es im Unhörbaren, doch ehe er der Gebanntheit sich entwand, mit der er zu dem Gebäudesims hinstarrte, zu der regungslos dort hockenden Scheinvogelreihe, da rann es wie eine unmerkliche Welle dort über das entfärbte Gefieder, fließend und ätherisch wehend, eine Welle und noch eine, und plötzlich, gleichsam in einer Gischt von Lautlosigkeit, war der Schwarm aufgeflogen, gleichsam unfliegend emporgehoben und ins Unsichtbare zerstäubt, so daß der vertraute Dachkranz für einen Augenblick sichtbar wurde, allerdings nur für diesen einzigen, denn in dem nächsten krachte das Gebäude in sich zusammen, nicht minder lautlos wie der Flügelschlag der Entflohenen, nicht minder ätherverwandelt ins Unsichtbare, ins saugende Nichts zerstäubt. Und da ihm dieses innewurde, da begann auch die Lautlosigkeit sich zu wandeln, und sie wandelte sich zur Stille: das Unbewegliche wurde zur Ruhe, die regungslose Fahrt seines eigenen Dahingetragenwerdens kam zu irdischem Stillstand, die Gespenster -das Pflanzen- wie das Tiergestaltige und zum Schluß noch eine einzelne flammenhaarige Dämonin durchsichtig bleichen Leibes und mit wehendem Schopf - begleiteten ihn nicht mehr, sondern glitten an ihm vorbei, sie glitten dorthin, wo die Gruft versunken war, sie sanken ihr nach, eines nach dem anderen, aufgenommen von dem leerdämmernden Schattenkrater, und hatte ihm dieser noch soeben wie ein drohendes Gegenauge, dennoch sein eigenes, gräßlich entgegen gestarrt, letztdrohend die gräßliche Leere, sie wurde, nachdem sich auch die letzte der Harpyien in ihr aufgelöst hatte, desgleichen von der Auflösung ergriffen, die saugende Kraft wurde zum allaufnehmenden Frieden, wurde zur Tiefe, wurde zum Auge der irdischen Nacht, zum Traumesauge schwer und groß von Äthertränen, grau- und schwarzsamten auf ihm ruhend, gewichtlos ihn umfangend, traumesenthoben im Träumen, geöffnet zur Wiederkehr, die wiederaufgetane Nacht, und in der tiefsten Tiefe ihres Blickes flimmerte aufs neue die kleine gelbe Flammenspitze des Öllämpchens, schüchtern blinkend - oh, ein Stern der Nähe -leuchtend in dem mondlos gewordenen, nächtlich ruhenden Gelaß, das in wiedergewonnener Milde und Schlafbereitschaft, kaum mehr erkennbar der Fries, dunkelgeworden die Wandflächen, nur noch irdischvertrauten Hausrat barg, als wäre es niemals anders gewesen; es war Rückkehr, trotzdem nicht Heimkehr, es war Bekanntheit, trotzdem ohne Erinnerung, es war mildes Wiederaufleben, und trotzdem, vielleicht noch milder, ein Ausgelöscht-Werden, es war Befreiung und Einkerkerung, unbeschreiblich einsverflossen in ganz mildem Erlöschen, wundersam werdend vor Hinnahme. Leise rieselte der Wandbrunnen, das Dunkel wurde zu leiser Feuchtigkeit, und obschon nirgendwo sonst sich etwas regte, es entstummte das Stumme, es entstarrte das Starre, weicher und lebendiger wurde aufs neue die Zeit, entlassen der scheintoten Mondsprödigkeit und aufs neue bewegungsgeöffnet, so daß er, gleichfalls der Starre entlöst, sich langsam, wenn auch noch mit äußerster Mühseligkeit, wieder aufzurichten vermochte; die Handflächen mit gespreizten Fingern in die Matratze gestemmt, den zwischen hochgezogenen Schultern etwas eingesunkenen, vor Anstrengung etwas zitternden, fieberheißen Kopf ein wenig vorgestreckt, lauschte er ins Leise hinein, und sein Lauschen galt ebensosehr der wiedergekehrten, von keinem Fieber aufzuhebenden Milde des Lebensstromes wie der kaum aufgetauchten, kaum erhaschten, kaum mehr erhaschbaren Traumesstimme, jenem flüsternden Traumbefehl, der ihm die Vernichtung seiner Schriften geheißen hatte und den er nun wahrhaft hören wollte, hören mußte, auf daß er der Rettung gewisser werden dürfe: unausführbar war das verborgene Gebot, sosehr er es zu hören und zu befolgen wünschte, unausführbar blieb es, ehe nicht das Wort zu der flüsternden Wortlosigkeit gefunden worden war, und in dem geheimnisvoll groß ihn umraunenden Unbestimmbaren webte zwingend das Gebot, zum Worte zurückzufinden; noch immer standen die Schweigenswände um ihn, doch nun waren sie nicht mehr Drohung, oh, noch immer hielt der Schrecken an, doch es war Schrecken ohne Furcht, war Furchtlosigkeit im Schrecken, oh, noch immer waren die äußersten und innersten Grenzen ineinander gewendet, doch er spürte, wie sein Lauschen sie auflöste und verband, freilich nicht zur früheren Erkennensordnung, freilich nicht zu der Menschenordnung, zur Tierordnung, zur Dingordnung, nicht zu der Weltenordnung, in der er sich einstmals bewegt hatte und die, ausgelöscht mit seinem ausgelöschten Gedächtnis, nicht mehr bestand, niemals mehr bestehen wird, und es war auch kaum die Einheit der Schönheit, nicht der verschimmernden Weltenschönheit Einheit, die sich damit auftat, nein, auch sie war es nicht, wohl aber die eines klingenden Flutens im Unerahnbaren, nachteinströmend, nachtausströmend, es war die eines unerinnerten Erinnerns an ein Stillehalten, in dem das Unvollendbare sich vollendet, verbunden zur Schöpfungssehnsucht letzter Ur-Einsamkeit im unaussprechbar Unerreichbaren, in einem unerahnbar neuen Gedächtnis von sehr großer Reinheit und Keuschheit, und das, was sein Lauschen vernahm, war in dem sehnsüchtigen Fluten enthalten, stammte aus der äußersten Finsternis und klang zugleich in seinem innersten Ohre auf, in seinem innersten Herzen, in seiner innersten Seele, wortlos in ihm, wortlos um ihn, die heischende und zerknirschende stillgroße Gewalt verdoppelt raunenden Ur-Grundes, ihn haltend und ihn erfüllend, je tiefer er ihr lauschte, allein es war sehr bald auch kein Raunen und kein Flüstern mehr, sondern weit eher ein ungeheures Dröhnen, freilich eines, das durch so viele Schichten des Erlebens und Nichtmehr-Erlebens und Nochnicht-Erlebens, durch so viele Schichten der Erinnerung und der Unerinnerung, durch so viele Schichten der Finsternis herbeigetragen wurde, daß es nicht einmal Flüsterstärke erreichte, nein, es war kein Flüstern, nein, es war der Zusammenklang unzähliger Stimmen, mehr noch, es war der Zusammenklang aller Stimmherden, aufklingend aus allen Räumen und Unräumen der Zeit, singend und erzen und dröhnend vor Geborgenheit und Verborgenheit, furchtbar vor Milde, tröstlich vor Trauer, unerreichbar vor Sehnsucht, unerbittlich, unwiderlegbar, unabänderlich trotz der großen Entfernung, befehlender und befehlender werdend, verlockender und verlockender singend, je kleiner sein Ich herab sich demütigte, je mehr es seinen Widerstand aufgab, je mehr es dem Klang sich öffnete, je mehr es daran verzweifelte die Stimmengröße wahrhaft zu erfassen, je mehr sein Wissen um die eigene Unwürdigkeit wuchs; also bezwungen von der ehernen Übermacht, bezwungen von ihrer Sanftheit, bezwungen zur Unterwerfung und zum Verlangen nach Unterwerfung, bezwungen zur Angst um das Werk, das ihm entrissen werden sollte, bezwungen zu dem Wunsche nach dem Urteilsspruch, der solches befehlen wird, bezwungen zur Angst wie zur Hoffnung, bezwungen zur Auslöschung und Selbstauslöschung um des Lebens willen, eingekerkert und befreit in der Größe seiner Kleinheit, wissend-unwissend unter der Gewalt der unformbar ersehnten Stimmenallheit, vermochte er endlich das Längstgewußte, Längsterlittene, Längstvernommene zu erhaschen, und es entrang sich ihm wie ein winziger, unzulänglicher, niemals ausreichender Ausdruck für das äonengroß Unausdrückbare, entrang sich ihm in einem Atemzug, in einem Seufzer, in einem Schrei: «Die Äneis verbrennen!»

Hatten sich Worte in seinem Munde geformt? er wußte es kaum, er wußte es nicht und war trotzdem nicht erstaunt, als ein Widerhall kam, fast eine Antwort: «Du riefst?!», so tönte es zart und vertraut, fast heimatlich aus einem Nirgendwo, unerahnbar nahe oder unerahnbar fern. Der Klang schwebte im Ununterscheidbaren, wenn auch nicht im Unendlichen, wenn auch nicht im ersehnten Raume der Stimmen-Allheit, ja für einen Augenblick meinte er Plotia, meinte er die schwebende Dunkelheit ihrer Stimme zu hören, als hätte er sie in der wiederbefriedeten, wiederbetauten, wiederversammelten Nacht erwarten dürfen und sogar erwarten müssen, allerdings, um mit womöglich noch größerer Selbstverständlichkeit und im nächsten Augenblick schon zu erkennen, daß es die Stimme des Knaben gewesen war, und die unverwunderte Selbstverständlichkeit, mit der er dessen Wiederkehr hinnahm, trug ihn so ruhigen Flusses zwischen den irdischen Ufern dahin, unbekümmert geradezu, unbekümmert um Freude oder Enttäuschung, trug ihn in so leichter Irdischkeit, daß er sehr besorgt wurde, er könnte durch ein Hinschauen oder eine Kopfwendung dieses Fließen unterbrechen; geschlossenen Auges lag er, und er rührte sich nicht. Und er wußte auch nicht, wie lange dies so währte. Aber dann war es ihm, als formten sich wieder Worte in seinem Mund und als sagte er: «Warum bist du zurückgekommen? ich will dich nicht mehr hören.» Wiederum wußte er nicht, ob er es laut ausgesprochen hatte, und er wußte auch nicht, ob der Knabe sich wirklich im Zimmer befand, ob eine Antwort zu erwarten war oder nicht; es war ein schwebendes Warten, fast als würde irgendwo eine Leier gestimmt, ehe das Lied aufklingt, und wiederum klang es ganz nahe, unverwunderlich nahe, trotzdem ganz ferne, gleichsam vom Meere her, mondverweht und ganz leise glitzernd: «Stoße mich nicht fort.» - «Doch», erwiderte er, «du verstellst mir den Weg, ich will die andere Stimme hören, du bist nur eine Scheinstimme, ich muß zu der ändern hinfinden.» - «Ich war dein Weg, ich bin dein Weg», sagte es hierauf, «ich bin das Mitklingen, das zu dir gehört, von Anfang an und über jeden Tod hinaus, für ewiglich.»

Das war wie Versuchung, war voll süßer Verlockung, war voller Einfachheit und voller Traum, ein Traumrufen, auf daß er sich noch einmal zurückwende, Echo aus dem Kinderland. Und die leise, fernnah heimatliche, leidenentlösende Knabenstimme fuhr fort: «Ewig ist der Widerhall deines Gedichtes.» Da sagte er: «Nein, ich will den Widerhall meiner Stimme nicht mehr hören; ich erwarte die Stimme, die außerhalb der meinen ist.» -«Du kannst das Mitklingen der Herzen nicht mehr zum Schweigen bringen; ihr Widerhall ist bei dir, unabänderlich wie dein Schatten.» Es war Versuchung, und ihm war befohlen, sie abzulehnen: «Ich will nicht mehr ich sein; ich will in der tiefsten Schattenlosigkeit meines Herzens und in seiner tiefsten Einsamkeit verschwinden, und dahin muß mein Gedicht mir vorausgehen.» Es erfolgte keine Antwort, es wehte wie Traum aus dem Unsichtbaren, traumeslang, traumeskurz, und schließlich hörte er: «Hoffnung will Mithoffnung, und selbst die Einsamkeit deines Herzens ist die einstige Hoffnung deines Anfanges.»

- «Mag sein», gab er zu, «doch es ist Hoffnung auf die Stimme, welche mir Beistand sein wird in der Einsamkeit meines Sterbens; wird sie mir versagt, so bin ich ohne Zuspruch, für immer ohne Trost.» Wieder dauerte es unbestimmt lange, bis die Entgegnung kam: «Niemals mehr kannst du einsam sein, nie und nimmermehr, denn was aus dir geklungen hat, war größer als du selber, ist größer als deine Einsamkeit, und du kannst es auch nicht mehr vernichten; oh, Vergil, in dem Gesang deiner Einsamkeit sind alle Stimmen, sind alle Welten, sie sind bei dir samt ihrem Widerklang, und sie haben für immerdar deine Einsamkeit durchbrochen, für immerdar mit allem Künftigen verwoben, da deine Stimme, Vergil, von Anbeginn die Stimme des Gottes war.» Ach, so war es einstmals vorgeträumt gewesen, in einem Irgendwann, das im Vergangenheitslosen lag, es war Rückwendung zu einer Vorverheißung, die er sich einstmals selber gestellt hatte und die nunmehr wie Erfüllung war, leidenentlösend und hoffnungsfroh in ihrer Selbstverständlichkeit, nichtsdestoweniger trügerische Hoffnung, die spielerische Hoffnung eines Knaben, eines Kindes, die sich in Selbsttäuschung verflüchtigt. Und unvermittelt fragte er: «Wer bist du? wie heißt du?» - «Ich bin Lysanias», antwortete es, diesmal unverkennbar nähergerückt und aus genauerer Richtung, etwa von dorther, wo sich die Eingangstüre befinden mußte. «Lysanias?», wiederholte er, als hätte er nicht recht verstanden und als hätte er eigentlich einen ändern Namen erwartet, «Lysanias...», und regungslos daliegend, den Namen vor sich hinmurmelnd, war er bei aller Selbstverständlichkeit des Geschehens nun doch verwundert, nicht nur über die sonderbare Unstimmigkeit des Namens, sondern auch darüber, daß er nach dem Namen gefragt hatte: war er nicht einstmals gewillt gewesen, den kleinen Nachtgefährten in der schwebenden Namenlosigkeit zu belassen, aus der er zu ihm gekommen war? hatte er ihn nicht darum in die Namenlosigkeit zurückgeschickt? Und verwundert fragte er weiter: «Ich habe dich doch fortgeschickt... warum bist du nicht gegangen?» - «Ich bin ja auch gegangen», klang es zurück, nunmehr völlig nahe und mit der vertraut heitern, ein bißchen dörfischen Knabenstimme, hinter deren Bescheidenheit drollig eine kleine Bauernschlauheit sich versteckte, hinterhältig eine nächste Frage abwartend. Ohne sich dessen bewußt zu werden, ging er darauf ein: «So, du bist gegangen... bist aber trotzdem hier.» - «Du hast mir nicht verboten, vor deiner Türe zu warten... und jetzt hast du gerufen.» Das war wahr und doch nicht ganz wahr, Lüge schimmerte hindurch, wenn auch nur kleine und kindliche Lüge, dennoch wie ein Widerhall der großen, von der sein eigenes Leben durchzogen gewesen war, Echo jener schlauen und mehr als schlauen Scheinwahrheit, die sich ans Wort hält und der wirklichen Wirklichkeit niemals gerecht wird, Scheinwahrheit, seit jeher geübt, ach, schon von dem Kinde, da es von der Übertölpelung des Todes zu träumen begonnen hatte; Wahrheit und Lüge, Rufen und Nicht-Rufen, Nähe und Ferne verflossen ineinander, sie verflossen ineinander, wie sie es seit jeher getan hatten; sehr unverständlich wurde es, daß der Knabe hinter der Türe gewacht haben sollte, während gleichzeitig, ja wie für alle Ewigkeit bestimmt, Entsetzenumwittertes auf der Gasse unter dem Fenster sich zugetragen hatte, die Unholde dort dahingetorkelt waren; ach, unverständlich war es, unverständlich blieb es, unbegreiflich als eine Gleichzeitigkeit, welche stattgehabt hatte und trotzdem weiter andauerte, als eine zweite Wirklichkeit ohne Ablauf, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, und eben damit auch in die neugewonnene Irdischkeit hineinreichend, fast als eine Scheinwirklichkeit unter falschem Namen, bar des Jenseitsgewinnes, der allem Verluste innewohnt; und das Bangen vor solcher Rätselhaftigkeit des Schicksalsablaufes, das Bangen vor dem Lachen, das schicksalszersprengend dort erschollen war, das Bangen vor dem Namenlosen und vor der Nötigung nach dem Namen zu fragen, der stets aufs neue sich als zufälliger und unrichtiger erweisen muß, oh, das Bangen vor dem Rätsel des Wiedererkennens, es wurde zur Abwehr der Gleichzeitigkeit, wurde zur Flucht vor dem Gewesenen und Stattgehabten, wurde zur Flucht in die Eindeutigkeit des Jetzt, zur Flucht ins körperlich Unmittelbare, da er die Augen aufschlug; drüben im Fenstergewände lagen noch die Streifen des abgewanderten Mondlichtes, schattenumwandet war der Raum geschlossen, und wenn es auch noch immer nicht ratsam schien, die Regungslosigkeit zu stören und den Kopf zu wenden, so war es doch sicher, daß dort vor den verschatteten Umrissen der Türe - sandte man blinzelnd den schrägen Blick hin - sich zart und kaum wahrnehmbar die Gestalt des Jungen abzeichnete; all dies war schwebende, seltsam schwebende, seltsam leichtgewordene irdische Gegenwart, enthoben jeglicher Gleichzeitigkeit, vergangenheitsenthoben, zukunftsenthoben im Hier und Jetzt, namenlose Irdischkeit ohne Namen: bis hierher hatte der Knabe ihn geführt -, wollte er ihn nun etwa zurückführen, da er ungerufen sich wiedergemeldet hatte, ungerufen und unter seltsam fremdem Namen? die Führung im Irdischen war zu Ende, im zukunftslos Irdischen bedurfte es keiner Führung mehr, und gab es noch führenden Beistand, so war es nicht mehr des Knaben Amt, ihm solchen zu spenden, denn nur die gerufene Hilfe ist wirksam, und wer die Hilfe nicht zu nennen vermag, dem kann sie auch nicht gewährt werden. Und als die Knabengestalt sich von der Schattentüre abzulösen begann, wehrte er, wie zur Bekräftigung, nochmals ab: «Ich habe nicht nach deiner Hilfe gerufen... du irrst, ich habe nicht gerufen...», und leiser setzte er hinzu, «Lysanias.»

Der Angesprochene, uneingeschüchtert von der Abwehr, war aus dem Hintergrundsdunkel in den stillen Lichtkreis des Öllämpchens getreten; auf die Nennung seines Namens hin öffnete sich das traumdämmernde Jungengesicht zu einem hellunbefangenen, zutraulichen Lächeln: «Hilfe dir? Hilfe dem Helfenden? Du gibst Hilfe, selbst wenn du Hilfe verlangtest... lasse mich doch nur den Wein dir mischen»; und er hantierte bereits am Anrichtetisch.