War das, was er sah, bereits Erkenntnis? war es die Erkenntnis des Traumes? war es bereits das Erwachen? Oh, es war noch diesseits der Grenze, und bebte der Traum an ihr, er hatte sie nicht durchbrochen; unerfaßbar war das Geschaute, es war nicht Erkennen, es war bloß Wissen, Traumwissen, Traumerinnerung, ferne Erinnerung an die niemals gehörte, immer erklingende Stimme des Einst, fernste Erinnerung an das niemals betretene, immer durchwandelte Land der Grenzjenseitigkeit, ferngroß, fernklein, der Ursprung, die Mündung, es war erinnerungsstark die unendliche Annäherung an die Grenze, doch es war noch Gebanntheit und bloß ein Beben, ein pochendes wartendes Leuchten. Und ebendarum, eben in diesem schauenden Wissen, in dieser höchst durchsichtigen Blindheit, die, ohne Erkenntnis zu sein, wie Form der Erkenntnis war, eine durchsichtige Binde vor seinen Augen, ja ebendarum, obwohl eingesunken in die Traumgefilde und von ihrem Emporwachsen überrankt, fand er sehr plötzlich sich auf den Gipfel eines außerordentlich hohen Berges gestellt, gleichsam herbefohlen, daß er über die Grenzen hinschaue, er, ein Erschaurer, dennoch kein Verkünder, hingestellt und gehalten von ehern sanfter Hand, hineingehalten in ein Künftiges, unablässig Gewesenes, umpocht vom Pochen eines Herzens, das, eingeschlossen in ihm, doch als ein Größeres ihn umschloß, atmend vor Wirklichkeit; und von dem Pochen durchpulst, vermochte er die Arme aus des Kristalles Durchsichtigkeit zu lösen und sie aufwärts zu strecken, aufwärts zu den Leuchtkuppeln, in denen die Sterne glänzten und große Sonnen zu kreisen begannen, ein Stern über ihnen allen: hinschaute er über die Gefilde des Traumes, über die Gefilde der Länder, die vorvorbestimmt waren der Schauplatz der Tat zu werden, Schauplatz waren sie seinem Schauen, unberührbar, unbetretbar, dennoch sein eigen von Urbeginn an, hinschaute er, der hier Fest gebannte, der Traumesgebannte, der aus seinem Traum sich nicht scheiden, sich nicht entfernen durfte, hinschaute er über diese für ihn unberührbare, für ihn unbetretbare Landschaft, in die er mit seiner eigenen Traumstrahlung, mit seinem Traumleuchten sich hineinerstreckte, und Landschaft wie Traum überblickend sah er deren gegenseitige Überlagerung, sah er inmitten der Landschaft all die kristallinischen Gebilde, all die Strahlenkuben, Strahlenkreise, Strahlenpyramiden, Strahlenbündel des Traumes, sah er in den Traumesverschränkungen und Traumesunabsehbarkeiten der träumenden Lichtbahnen weithinerstreckt die Landschaft eingebettet, erinnerungsreich, erinnerungsdurchsichtig, erinnerungsaufzaubernd; ja, sie war in den Traum eingebettet mit all ihren Tages- und Nachtzeiten, wechselnd zwischen Helle und Dunkelheit, aufblassend und abblassend unter der zwiefachen Dämmerung des Morgens und Abends, erfüllt von jedweder irdischen Seinsgestalt, erfüllt vom Gewühl aller Wesenheiten, erfüllt vom Gewühl aller irdischen Stimmen, erfüllt von Rausch und von Qual und von Sehnsucht, erfüllt von der geschaffenen und gewordenen Schöpfung, erfüllt von der Stille der Ufer und der zitternden Felder und der vergehenden Gipfelgebirge, einsamkeitstragend die Höhe, stadttragend die Ebenen, friedenserfüllt und kriegserfüllt, erfüllt vom ruhenden Glanz menschlichen Seins und Hausens, erfüllt aber auch vom Knistern und Krachen der Unheilsbrände, endlos, endlos, endlos, alles durchwandelbar, nichts betretbar, Traum und Landschaft ineinandergebettet, ineinanderverglänzt, ineinanderverschattet, gemeinsam im Warten, gemeinsam in der Sehnsucht, gemeinsam in der Erwachensbereitschaft, harrend den zu empfangen, der sie durchschreiten und die Stimme der Erweckung bringen soll. Und auch er wartete, aufgehobenen Armes wartete er mit Traum und Landschaft, er blickte hin über die regungslosen Triften, auf denen regungslos das Vieh weidete, er vernahm die Stummheit der regungslos lodernden Brände, und kein Vogelflug durchzog die Äthergezelte; höher stiegen die Brände im Regungslosen, anschwoll das Getöse der Stimmenmannigfaltigkeit in dem unverbrüchlichen Schweigen, tiefer und tiefer wurde die Sehnsucht, still standen die Sonnen, und das Pochen des Herzens schlug schwerer und schwerer an die Wände der Grenzenlosigkeit im Innen und Außen -, oh, wann war das Ende? wo war das Ende? wann war das Unheil zur Neige geleert? gab es eine unterste Stufe des zunehmenden Schweigens? Und da war es ihm, als ob solch letztes Schweigen nunmehr erreicht sei. Denn er sah die Münder der Menschen, entsetzungsvoll klafften sie einander an, kein Laut entrang sich den trockenen Öffnungen, und keiner verstand mehr den ändern. Sie waren sprachlos vor Schuldbewußtsein, schuldbewußt vor Sprachlosigkeit; es war die letzte Schweigens stufe im Irdischen, es war das letzte Schweigen des Menschen, und es sehend, wollte auch sein Mund sich zum stummen Entsetzensschrei öffnen. Doch es noch sehend, beinahe noch ehe er es gesehen hatte, sah er es schon nicht mehr. Denn in jähester Finsternis verschwunden war das Sichtbare, verschwunden das Traumleuchten, verschwunden die Landschaft, verschwunden die Brände, verschwunden die Menschen, verschwunden die Münder, und es war Nacht, zeitlos, weltlos, tonlos, die leerste Schwärze, die leere Nacht ohne Form, ohne Inhalt; leer und schwarz wurde das Warten, und selbst das Pochen erschwieg, aufgesaugt von der Leerheit. Die Neige des Seins war erreicht. Er stand vor der Grenze, er stand vor der Grenze des Schicksals, vor der Grenze des Zufalls, er • stand vor der Grenze, entleert sein Warten, entleert sein Lauschen, entleert sein Blicken, entleert sein Wissen, aber in solcher Leere und Entleertheit wußte er, daß die Grenze sich öffnen werde. Sehr leise begann es, gleichsam als wollte es ihn nicht erschrecken. Es begann mit dem Flüstern, das er schon einmal gehört hatte, es begann in seinem innersten Ohr, in seiner innersten Seele, in seinem innersten Herzen, und es war zugleich um ihn herum, eindringend in ihn, herstammend aus der äußersten Finsternis, nachteinströmend, nachtausströmend, es war die nämliche stillgroße Gewalt des Tones, der er sich damals in Zerknirschung hatte unterwerfen müssen, es schwoll an wie damals, ihn erfüllend, ihn umhüllend, indes, es war nicht mehr der Zusammenklang vieler Stimmen, es war nicht mehr der Zusammenklang aller Stimmherden, nicht der Zusammenklang der ganzen Stimmenmannigfaltigkeit, sondern weit eher eine einzige, immer mehr sich vereinsamende Stimme, eine Stimme von so großer Einsamkeit, daß sie wie ein einziger Stern in der Dunkelheit blinkte, dennoch ein unsichtbarer, im Unerschaubaren erstrahlend, da der Ruf, je größer und vernehmlicher er anschwoll, wahrlich nicht minder groß vom unhörbar Unerlauschbaren unendlicher Unerforschlichkeit aufgenommen, ja aufgesaugt wurde: was sich vollzog, es geschah außerhalb des Sichtbaren und Hörbaren, es geschah außerhalb jeglicher Sinnenhaftigkeit, es geschah nächtlich und war trotzdem von gewaltig vernehmlicher Helle, es geschah im Wesenlosen und umfaßte trotzdem jedwede Wesensgestalt, oh, es geschah als Gleichgewicht, es geschah in unendlich unwahrnehmbaren Gleichgewichtsordnungen, die sinngebend, inhaltsgebend, formengebend, namengebend, alles Sein und alle Erinnerung umgriffen, das erzene Dröhnen des Meeres ebensosehr wie das silberne Säuseln des Herbstes, den Beckenschlag der Sterne ebensosehr wie das warme Atmen der Herden, den Flötenton des Mondes ebensosehr wie den Tau auf den Sonnenhecken der Kindheit, es war ein Erschauen im Unerschaubaren, ein Erlauschen im Unerlauschbaren; und dunkelheitsumflossen er selber, dunkelheitsumflossen das Gleichgewicht der Weltenvielfalt und der Welteneinheit, in dieser letzten Gleichgewichtssatzung, die allein Wirklichkeit ist und den Zufall aufhebt, in diesem bildlosen Sinnbild jedweden Sinnbildes, in dieser schönheitsentleerten Schönheit hörte er, nein, er hörte nicht, er sah die Stimme, die es bewirkte, und sie war nicht eine der Stimmen, die sich, selber der Welt zugehörig, in das Gefüge der Weltdinge einschieben, um sie aneinander sowie am Worte zum Sinnbild zu machen, sie war nicht weltliche Wahrheit, weder eine der weltlichen Wahrheiten noch deren Gesamtheit, nein, unweltlich-unhörbar-unsichtbar war sie, außerweltlich, sie war das außerweltlich Wahrheitsbewirkende, das außerweltlich Gleichgewichtsbewirkende, sie war das Außen schlechthin, alle Kraft und alle Weite des Außen heranbringend, da sie sich selbst heranbrachte, das Innen umschließend, um vom Innen umschlossen zu werden, das allaufnehmende Gefäß der Sphären; so vernahm er die Stimme, hörte sie sehend, sah sie hörend, die Stimme, in deren Wortschatten für immer die Ruhe und Heimat ist, die Stimme der Zeitlosigkeit und der ewigwährenden Schöpfung, die Richterstimme des Anfangs und des Endes, die Gleichgewichtsstimme außerhalb des Traumes, die Geborgenheitsstimme, und sie war Erz und Kristall und Flötenton in einem, und sie war Donnern und die Übermacht des Schweigens, und sie war alles und ein einziger Laut, befehlend und milde, verzeihend und unterscheidend, ein einziger Blitz, oh, eine unsäglich sanfte Blendung, still vor Endgültigkeit, oh, so offenbarte sie sich, Gnade und Eid zugleich, Offenbarung, doch nicht als Wort, nicht als Sprache, wohl aber als Sinnbild des Wortes, als Sinnbild jeder Sprache, als Sinnbild aller Stimmen, als ihr Urbild, schicksalsüberwindend als heiliger Vateraufruf, sie offenbarte sich im Klangbild des verkündenden Tuns:«Öffne die Augen zur Liebe!»
Ein Tun, und es wurde ihm getan. Er mußte die Augen nicht öffnen, die Milde öffnete sie ihm. Er mußte nicht atmen, es atmete ihn. Sinnbild war es gewesen, aber im Bilde war die Nacht sich selbst wieder zurückgegeben, und im Sinnbild der Stimme kehrte die Stummheit zur Stille ein, als wäre Stille der erste Inhalt, mit dem die leere Form sich wieder neuerfüllen sollte. Und kraft dieser Erfülltheit strömte des Traumes Riehtungsvielfeit wieder zurück in die irdische Räumlichkeit, strömte aus dem Unräumlichen zurück in den Raum, wurde zur strömenden Nacht, wurde selber der Raum, wieder von Nachtzeit durchströmt. Nichts war neben der Stille vernehmbar, nichts vernahm er mehr daneben, nichts in ihm, nichts außer ihm; das Nachtdurchtränkte durchflutete ihn, nachtumgeben war die Stille. Sogar das Ölflämmchen der Ampel war verloschen, gleichsam von der dunklen Sanftheit aufgesogen, damit die alleserfüllende Stille nicht von der kleinen, harten Lichtspitze unterbrochen und gestört werde. Desgleichen war das große Pochen des Traumes im Verlöschen, war im Verebben und verebbte weiter, einschwindend in ein silbernes Rieseln, das im Nirgendwo anhob, im Nirgendwo verlief, und doch von dem Wandbrunnen herstammte. Umspült von Stille, wurde das Unerhaschbare zwischen Vergangenheit und Zukunft wieder zum gegenwartsgroßen Jetzt, und leise pendelte die Waage der Zeit, leise klirrten die Silberketten ihrer Schalen, die leise sich senkend, leise sich hebend, wahrheitswägend Sinnbild um Sinnbild empfingen und entließen, Sinnbild um Sinnbild wägend erschufen; leise klinkte das Verbindende im sanften Strömen wiedererfüllten Seins. Erfüllt von bilderloser Stille, dennoch bilderfüllt. Und die stillheitsgetragene Nacht, die vor seinem geöffneten Auge geschah, wiederaufklingend ihr stillsanfter Glockenton, wiederentfaltet sein Auge, wiederentfaltet er selber, wiederentfaltet die Nacht, sie, die geheimnisvoll blind vor Stille, schattenträchtig und groß und lieblich in wiedergefundener Natürlichkeit dahingetragen wurde, sie trug ihn aufs neue dahin, in ihrem Gezweige, in ihrem Gefieder, in ihren Armen, in ihrem Atem, an ihrer Brust. Er lag. Er lag, er ruhte, er durfte wieder ruhen. Allein, eben weil er ruhte, wußte er auch, daß die Stille des Nachtgeschehens nur Auftakt für anderes war und daher ihrem Ende zugehen mußte: denn nicht nur das Räumliche war aus dem Unräumlichen wieder zusammengeflossen, auch sein Körper war ihm von dorther wieder zugeflutet worden, körperhaft lag er in dem Bette, körperlicher und körperlicher wurde sein Fühlen, körperlich sein Ruhen, und in seinem Ruhen fühlte er, daß das Fieber gewichen war, wohltuend und leicht die kühle, stille Welle eines jeden Nacht-Endes, so weit er sich nur zurückerinnern konnte. Und körperlichirdisch die Stunde des weichenden Fiebers, wurde auch diese Nacht zur fortschreitenden Stunde, die ihrem Rande zueilte, wurde zur Stunde irdischfortschreitender Erfülltheit, irdischfortschreitender Gestaltetheit - irdische Nacht. Noch geschah nichts, ungebrochen hielt die Nachtdunkelheit an, nur die Stille verblaßte, verlor ihre Sattheit, erhielt kaum merkliche Linien eingezeichnet, sehr unsicher, nur einem sehr scharfen Hinhören vernehmlich, die Stille schien sich von ihren äußersten Grenzen her aufzublättern, aufzulockern; dunkelheitsumflossene Schöpfung in sanftem Werden wurde von liebend leiser Hand dem Ungeschehen der Stille eingezeichnet.
Namen um Namen erstand unter dem leisen Nachtaufruf, fügte sich zur Einheit mit dem Gedächtnis, wurde erinnerungsfest, wurde der Schöpfung in Erinnerung teilhaftig. Krähte ein Hahn in der Ferne? bellten die Hunde dort? -, die Postenschritte, als seien auch sie vom Unräumlichen wieder hergegeben worden, machten draußen ihre Runden um den Palast wie vordem, deutlicher rieselte der Wandbrunnen, als hätte er an Wasserreichtum gewonnen, und der Rahmen des Fensters umfing aufs neue die Sternenfülle, in ihrer Mitte glanzflimmernd das Haupt des Schlangenbeschwörers. Atmungserweckt die Stille, atemerfüllt die Nacht, wuchs aus Nacht und Stille das immer Vorhandene, der atmende Weltenschlaf. Aufatmete die Dunkelheit, wurde gestalteter und gestalteter, kreatürlicher und kreatürlicher, irdischer und irdischer, wurde schattenreicher und schattenreicher. Erst gestaltlos, kaum erkennbar, gewissermaßen als Geräuschpunkte, tonzerrissen oder tonvereinzelt, doch dann sich verdichtend und zur Hörform sich versammelnd, näherte sich das Kreatürliche! ein Knarren und ein rumpelndes Ächzen war es, und es rührte von den Bauernkarren her, die in immer enger werdender Reihe angefahren kamen, die Lebensmittel zum Morgenmarkt zu bringen; schlaflangsam bewegte es sich vorwärts, Rumpeln der Räder in den Pflastergeleisen, Knarren der Achsen, knirschendes Anstreifen der Felgen an den Randsteinen, Klicken der Ketten und Geschirre, aber manchmal brummte schnaubenden Atems ein Ochse, manchmal ertönte ein schläfriger Ruf, und manchmal fand sich der schwerweiche Ziehtritt der Tiere zu einem Gleichtakt zusammen, der wie ein atmender Marsch war.
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