Vorne am Bug sang ein Musikantensklave; vermutlich hatte die dort versammelte Gesellschaft, deren Lärm von der Stille des Abends aufgesogen war, den Knaben zu sich beschieden, heimkehrahnend selbst sie, und nach einer kurzen Pause für das Stimmen der Leier sowie nach einem kurzen, kunstgerechten Zuwarten war es aufgeklungen, wurde es herbeigeweht, das namenlose Lied des namenlosen Knaben, mild strahlend das Lied, hauchschwebend wie die Farben eines Regenbogens im Nachthimmel, mild strahlend das Saitenspiel, elfenbeinzart, Menschenwerk das Lied, Menschenwerk das Saitenspiel, aber über den menschlichen Ursprung hinaus menschenentfernt, menschenentlöst, leidenentlöst, Sphärenluft, die sich selber singt. Es wurde dunkler, die Gesichter wurden undeutlicher, die Ufer verblaßten, das Schiff wurde undeutlicher, lediglich die Stimme blieb, sie wurde klarer und beherrschender, als wollte sie das Schiff und den Takt seiner Ruder lenken, vergessen der Ursprung der Stimme und trotzdem lenkende Stimme eines Sklavenknaben; wegweisend war das Lied, ruhend in sich selbst und eben darum wegweisend, eben darum ewigkeitsgeöffnet, denn nur das Ruhende ist zur Wegweisung imstande, nur das Einmalige, das aus dem Fluß der Dinge herausgegriffen, nein, herausgerettet ist, öffnet sich zur Unendlichkeit, nur das Festgehaltene - ach, war ihm selber jemals solch wahrhaft wegweisende Festhaltung gelungen?- nur das wahrhaft Festgehaltene, und sei es nur ein einziger Augenblick aus dem Meere der Jahrmillionen, wird zur zeitlosen Dauer, wird zum richtunggebenden Gesang, wird Führerschaft; oh, ein einziger Lebensaugenblick, geweitet zur Ganzheit, geweitet zum Kreise des Ganzheiterkennens, unendlichkeitsgeöffnet; hoch über dem strahlenden Liede, hoch über der strahlenden Dämmerung atmete der Himmel, dessen klarherbe Herbstessüße seit Jahrhunderttausenden sich unverändert wiederholt hatte und noch Jahrhunderttausende unverändert sich wiederholen wird, einmalig trotzdem in seinem Hier und Jetzt, und seiner Kuppel heller Seidenglanz war von der Stille der anbrechenden Nacht überhaucht.

Das Lied führte, allerdings nicht mehr sehr lange; die Fahrt zwischen den Ufern des Eingangskanals war bald zu Ende, und das Lied erlosch in der allgemeinen Unruhe, die sich an Bord entwickelte, als sich die innere Hafenbucht auftat, schwarzglänzend schon ihr bleierner Spiegel, und die im Fächerhalbkreis um das Becken gelagerte Stadt mit ihrer Lichtermenge, im Dämmernebel sternhimmelgleich schimmernd, sichtbar wurde. Jäh war es warm geworden. Das Geschwader hielt an, um das Schiff des Cäsars an die Spitze zu lassen, und nun - auch dieses Geschehen unter der weichen Unabänderlichkeit des Herbsthimmels hätte als unendliche Einmaligkeit festgehalten werden müssen - begann ein vorsichtiges Manövrieren, um ohne Fährlichkeit zwischen den allseits verankerten Booten, Seglern, Fischkuttern, Tartanen und Transportschiffen sich hindurchzulotsen; je weiter man kam, desto schmäler wurde die freie Fahrrinne, desto gedrängter die Masse der Schiffsleiber ringsum, desto dichter das Gewirr der Maste und der Taue und der gerefften Segel, tot in ihrer Starrheit, lebendig in ihrer Ruhe, ein sonderbar finsteres, verkreuztes und verworrenes Wurzel werk, das düster aus der glänzenden öligdunklen Wasserfläche emporwuchs zu des Himmels unbewegter Abendhelle, ein schwarzes Spinnengewebe aus Holz und Hanf, gespenstisch sich in den Wassern unten spiegelnd, gespenstisch oben durchzuckt von dem wilden Geflacker der zum Willkomm allerwärts auf den Verdecken johlend geschwungenen Fackeln, gespenstisch durchleuchtet von dem Lichterprunk auf dem Hafenplatze: in der Reihe der Hafenhäuser war Fenster um Fenster erleuchtet, bis hinauf zu den Dachgeschossen, erleuchtet war eine Osteria neben der ändern unter den Kolonnaden, quer über den Platz zog sich ein fackeltragendes Doppelspalier von Soldaten, funkelnd die Helme, Mann an Mann, welche offenbar den Weg von der Landungsstelle in die Stadt freizuhalten hatten, fackelbeleuchtet waren die Zollschuppen und Zollämter an den Molen, es war ein funkelnder Riesenraum, vollgestopft mit Menschenleibern, ein funkelnder Riesenbehälter für ein ebenso gewaltiges wie gewalttätiges Warten, erfüllt von einem Rauschen, das Hunderttausende von Füßen schleifend, schlurfend, tretend, scharrend auf dem Steinpflaster erzeugten, eine brodelnde Riesenarena, erfüllt von einem auf- und abschwellenden schwarzen Summen, von einem Tosen der Ungeduld, das aber plötzlich verstummte und in Spannung erstarrte, als das Kaiserschiff, nur noch von einem Dutzend Ruder getrieben, mit sanfter Wendung den Kai erreichte und an der vorbestimmten Stelle - dort erwartet von den Stadtwürdenträgern in der Mitte des militärischen Fackelkarrees - beinahe lautlos anlegte; da freilich war der Augenblick gekommen, den das dumpf brütende Massentier erwartet hatte, um sein Jubelgeheul ausstoßen zu können, und da brach es los, ohne Pause und ohne Ende, sieghaft, erschütternd, ungezügelt, furchteinflößend, großartig, geduckt, sich selbst anbetend in der Person des Einen.

Dies also war die Masse, für die der Cäsar lebte, für die das Imperium geschaffen worden war, für die Gallien hatte erobert werden müssen, für die das Partherreich besiegt, Germanien bekämpft wurde, dies war die Masse, für die des Augustus großer Frieden geschaffen wurde und die für solches Friedens werk wieder zu staatlicher Zucht und Ordnung gebracht werden sollte, zum Glauben an die Götter und zur göttlichmenschlichen Sittlichkeit. Und dies war die Masse, ohne die keine Politik betrieben werden konnte und auf die auch der Augustus sich stützen mußte, soferne er sich zu behaupten wünschte; und natürlich hatte der Augustus keinen ändern Wunsch. Ja, und dies war das Volk, das römische Volk, dessen Geist und dessen Ehre er, Publius Vergilius Maro, er, ein echter Bauernsohn aus Andes bei Mantua, zwar nicht geschildert, wohl aber zu verherrlichen versucht hatte! Verherrlicht und nicht geschildert, das war der Fehler gewesen, oh, und dies hier waren die Italer der Äneis!

Unheil, ein Schwall von Unheil, ein ungeheurer Schwall unsäglichen, unaussprechbaren, unerfaßlichen Unheils brodelte in dem Behälter des Platzes, fünfzigtausend, hunderttausend Münder brüllten das Unheil aus sich heraus, brüllten es einander zu, ohne es zu hören, ohne um das Unheil zu wissen, dennoch gewillt, es in höllischem Gebrüll, in Lärm und Geschrei zu ersticken und zu übertäuben; welch ein Geburtstagsgruß! wußte bloß er allein darum? Steinschwer die Erde, bleischwer die Flut, und hier war der Dämonenkrater des Unheils, aufgerissen von Vulcanus selber, ein Lärmkrater am Rande des poseidonischen Bereiches. Wußte der Augustus nicht, daß dies keine Geburtstagsbegrüßung war, sondern etwas ganz anderes? Ein Gefühl gequältesten Mitleides stieg in ihm auf, eines Mitleides, das ebensowohl dem Octavianus Augustus wie den Menschenmassen hier galt, ebensowohl dem Herrscher wie den Beherrschten, und es war von dem Gefühl einer nicht minder gequälten und eigentlich unerträglichen Verantwortung begleitet, über die er sich kaum Rechenschaft geben konnte, nur noch gerade wissend, daß sie mit einer Last, wie sie der Cäsar auf sich genommen hatte, wenig Ähnlichkeit aufwies, vielmehr eine Verantwortung ganz anderer Art war, denn unerreichbar jeder staatlichen Maßnahme, unerreichbar jeder noch so großen irdischen Gewalt, vielleicht sogar den Göttern unerreichbar war dieses dämmerig brodelnde, unbekannt geheimnisvolle Unheil, und keinerlei Massengeschrei vermochte es zu übertäuben, eher noch die schwache Seelenstimme, welche Gesang heißt und mit des Unheils Ahnung doch auch schon das erweckende Heil verkündet, erkenntnisahnend, erkenntnisträchtig, erkenntnisweisend jedes wahre Lied. Die Verantwortung des Sängers, seine Erkenntnis Verantwortung, die zu tragen, und zu erfüllen er trotzdem für ewig unfähig bleibt -, oh, warum war es ihm nicht erlaubt gewesen, über die Ahnung hinaus vorzudringen hin zum echten Wissen, von dem allein das Heil zu erwarten sein wird?! Warum hatte ihn das Schicksal gezwungen, hierher zurückzukehren?! Hier war nichts als Tod, nichts als Tod und Abertod! Mit entsetzensvoll geöffneten Augen hatte er sich halb aufgerichtet, jetzt fiel er auf das Lager zurück, übermannt von Grauen, von Mitleid, von Jammer, von Verantwortungswillen, von Hilflosigkeit, von Schwäche; nicht Haß war es, was er gegen die Masse empfand, nicht einmal Verachtung, nicht einmal Abneigung, sowenig wie eh und je wollte er sich vom Volke absondern oder gar sich über das Volk erheben, aber es war etwas Neues in Erscheinung getreten, etwas, das er bei all seiner Berührung mit dem Volke niemals hatte zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl überall, wo er gewesen, gleichgültig ob in Neapel oder in Rom oder in Athen, mehr als genug Gelegenheit hierzu gegeben war, und das sich nun hier in Brundisium überraschend aufdrängte, nämlich des Volkes Unheilsabgründigkeit in ihrem ganzen Umfang, des Menschen Absinken zum Großstadtpöbel und damit die Verkehrung des Menschen ins Gegenmenschliche, bewirkt durch die Aushöhlung des Seins, durch des Seins Verwandlung zum bloßen Gierleben der Oberfläche, verlustig seines Wurzelursprunges und von diesem abgeschnitten, so daß nichts anderes mehr als das gefährlich abgelöste Eigenleben eines trüben schieren Außen vorhanden bleibt, unheilschwanger, todesschwanger, oh, schwanger eines geheimnisvoll höllischen Endes. War es dies, was das Schicksal ihn hatte lehren wollen, da er zurückgezwungen worden war in die Vielfalt, zurück in den Kessel grausam aufgewühlter Diesseitigkeit? war dies die Rache für seine frühere Blindheit? Niemals hatte er das Massenunheil in solcher Unmittelbarkeit erfahren; jetzt war er gezwungen, es zu sehen, es zu hören, bis in die letzten Wurzelgründe seines eigenen Seins zu erfahren, denn die Blindheit ist selber ein Teil des Unheils. Wieder und immer wieder erscholl das unfrohe Jubelgebrüll der Selbstbetäubung; Fackeln wurden geschwungen, Befehle durchhallten das Schiff, dumpf flog ein vom Lande her geschleudertes Tau auf die Deckplanken, und das Unheil lärmte, und die Qual lärmte, und der Tod lärmte, es lärmte das unheilsträchtige Geheimnis, unentdeckbar, dennoch unverhüllt überall gegenwärtig. Inmitten des Getrappels vieler eiliger Füße lag er still, seine Hand hielt den einen Henkel des ledernen Manuskriptkoffers fest umklammert, damit ihm dieser nicht etwa entrissen werde, doch müde des Lärmes, müde des Fiebers wie des Hustens, müde der Reise, müde des Kommenden, stellte er sich vor, daß diese Ankunftsstunde leichtlich auch zu seiner Sterbestunde werden könnte, und fast war es ein Wunsch, obwohl oder weil er genau spürte, daß die Zeit hierfür noch nicht gekommen war, ja, fast war es Wunsch, obwohl oder weil es ein verwunderlich verwildertes, verwunderlich lärmendes Sterben gewesen wäre, es erschien ihm nicht unannehmbar und eben fast wünschenswert, denn gezwungen in die Feuerhölle zu schauen, gezwungen sie zu hören, wurde sein Herz zum Wissen um das unterweltlich Schwelende des Untermenschlichen gezwungen.

Nun, so verlockend es gewesen wäre, sich schwindenden Sinnes davontragen zu lassen, um sich so dem Gelärm zu entziehen, sich dem Gejohle der Menge zu verschließen, dem vulkanischen und unterirdischen, das ohne Unterlaß, als wollte es nimmer enden, trägwellig über den Platz herflutete, es war solche Flucht verboten, geschweige denn daß sie bis ins Sterben führen durfte, denn überstark war das Geheiß, jedes kleinste Teilchen der Zeit, jedes kleinste Teilchen des Geschehens festzuhalten und der Erinnerung einzuverleiben, als könnte es mit dieser durch alle Tode hindurch für alle Zeiten auf bewahrt werden; er klammerte sich an das Bewußtsein, er klammerte sich daran mit der Kraft desjenigen, der das Bedeutsamste seines irdischen Lebens nahen fühlt und voller Angst ist, daß er es versäumen könnte, und das Bewußtsein, wachgehalten von der wachen Angst, gehorchte seinem Willen: nichts entging ihm, weder die vorsorglichen Gesten und der leere Zuspruch des glattgesichtigjungen, überaus geschniegelten Hilfsarztes, der auf Befehl des Augustus nun an seiner Seite war, noch die stur befremdeten Gesichter der Träger, die eine Sänfte an Bord gebracht hatten, um ihn, den Kranken und Kraftlosen, wie eine gebrechliche und vornehme Ware abzuholen; er vermerkte alles, er mußte alles festhalten, er vermerkte den eingekerkerten Blick ihrer Augen, er vermerkte die mürrischen Knurrtöne, mit denen die vier Männer sich verständigten, als sie die Last auf die Schultern hoben, er vermerkte den angriffswilden, bösartigen Schweißgeruch ihrer Körper, aber es entging ihm auch nicht, daß sein Mantel liegengeblieben war und von einem recht kindlich aussehenden, dunkellockigen Knaben, der raschen Zusprunges das Kleidungsstück aufgerafft hatte, ihm nun nachgetragen wurde. Freilich war der Mantel weniger wichtig als der Manuskriptkoffer, dessen beide Träger er knapp neben die Sänfte beordert hatte, indes, ein kleines Stück der Wachsamkeit, zu der er sich, gegen alle eindämmerungssüchtigen Müdigkeitsanwandlungen, verpflichtet fühlte und selbst verpflichtete, konnte auch dem Mantel zugute kommen, und er fragte sich, woher der Knabe, der ihm verwunderlich vertraut und bekannt dünkte, wohl aufgetaucht sein mochte, da er ihm während der ganzen Reise nicht aufgefallen war: es war ein etwas unhübscher, bäuerisch tapsiger Bursche, sicherlich kein Sklave, sicherlich keiner der Aufwärter, und wie er dort, sehr jungenhaft, die hellen Augen in dem bräunlichen Gesicht, an der Reling stand, wartend, weil es überall Stauungen gab, warf er von Zeit zu Zeit verstohlen einen Blick zur Sänfte herauf, sanft und belustigt und schüchtern wegschauend, sobald er sich hierbei beobachtet fühlte. Augenspiel? Liebesspiel? sollte er, ein Kranker, da nochmals in das schmerzliche Spiel töricht lieblichen Lebens hineingezogen werden, er, ein Hingestreckter, nochmals hineingezogen in das Spiel der Aufgerichteten? oh, in ihrer Aufgerichtetheit wissen sie nicht, wie sehr der Tod ihren Augen und ihren Gesichtern einverwoben ist, sie lehnen es ab, dies zu wissen, sie wollen nur das Spiel ihrer Anlockungen und ihres Ineinanderverstrickens weiter spielen, das Spiel ihres Vor-Kusses, törichtlieblich Auge ins Auge gesenkt, und sie wissen nicht, daß alles Hinliegen zur Liebe stets auch ein Hinliegen zum Tode ist; aber der unabänderlich Hingestreckte weiß darum, und fast schämt er sich, einstmals selber aufgerichtet einhergeschritten zu sein, einstmals selber - wann war es? war es vor unvordenklichen Zeiten, war es erst vor Monaten? - an dem lieblich dämmerigen, lieblich blinden Lebensspiele teilgenommen zu haben, ja, und fast ist ihm die Verachtung, mit der ihn die Spiel verstrickten bedenken, weil er nunmehr ausgeschlossen ist und hilflos daliegt, fast ist sie ihm wie ein Lob. Denn nicht süße Verlockung ist die Wahrheit des Auges, nein, erst mit seinen Tränen wird es sehend, erst im Leide wird es zum sehenden Auge, erst mit seinen eigenen Tränen wird es von denen der Welt erfüllt, wahrheitserfüllt vom Vergessenheits-Naß allen Seins! Oh, erst im Erwachen unter Tränen wird das Diesseits-Sterben, in dem die Spielverstrickten sich befinden und an dem sie hängen, zum todeserschauenden, alleserschauenden Leben. Und eben darum sollte auch der Knabe - wessen Züge trug er doch? waren es die einer unvordenklichen oder einer jüngsten Vergangenheit? -, ebendarum sollte er lieber den Blick abwenden und nicht ein Spiel fortsetzen wollen, das als Zeitvertreib nicht mehr an der Zeit war; allzu unstimmig war es, daß dieser Blick über die eigene Todesverwobenheit hinwegzulächeln vermochte, allzu unstimmig war es, daß er zu einem Hin gestreckten heraufgesandt wurde, dessen Auge nicht mehr Antwort geben konnte, ach, nicht mehr geben wollte, allzu unstimmig war das Törichte, das Liebliche, das Schmerzliche inmitten einer Lärm- und Feuerhölle, die von blindem Getriebe starrte, menschdurchhetzt, menschheitserschlafft. Drei Brücken waren vom Schiff zum Kai hinüber gelegt worden, die heckseitige den Fahrgästen Vorbehalten, freilich das plötzlich ungeduldig gewordene Gedränge bei weitem nicht aufnehmend, hingegen die zwei anderen für die Waren» und Gepäckentladung bestimmt, und während die hiezu befohlenen Sklaven in langer Schlangenreihe, oftmals wie Hunde paarweise mit Halsringen und Verbindungsketten aneinandergekoppelt, vielfarbenes Volk entwürdigten Blickes, menschlich noch und doch nicht mehr menschlich, nur noch bewegte und gehetzte Kreatürlichkeit, Gestalten in Hemdfetzen oder halbnackt, schweißglänzend im rohen Fackelscheine, oh, entsetzlich, oh, gräßlich, während sie so auf dem mittleren Stege an Bord liefen, um auf dem bugseitigen das Schiff wieder zu verlassen, den Leib unter der Last der Kisten, Säcke und Koffer nahezu rechtwinklig abgebogen, während all das geschah, schwangen die beaufsichtigenden Schiffsmeister, von denen je einer an den Kopfenden der beiden Planken stand, auf gut Glück die kurze Geißel über die vorbeiziehenden Leiber, ohne Wahl und einfach drauflos, hinschlagend mit der sinnlosen, kaum mehr grausamen Grausamkeit uneingeschränkter Macht, bar jedes eigentlichen Zweckes, da die Leute ohnehin hasteten, was ihre Lungen hergaben, kaum mehr wissend, wie ihnen geschah, ja sich nicht einmal mehr duckten, wenn der Riemen aufklatschte, sondern eher noch dazu grinsten; ein kleiner schwarzer Syrer, den es beim Erreichen des Decks gerade getroffen, stopfte gleichmütig und des Striemens auf seinem Rücken nicht achtend, die Lappen zurecht, die er dem Halsring unterlegt hatte, damit es ihm die Schlüsselbeine möglichst wenig aufscheuere, und er feixte bloß, feixte auf zu der emporgehobenen Sänfte: «Komm mal runter, großer König, komm runter, kannst auch mal versuchen, wie's unsereinem schmeckt!» ein nochmaliges Ausholen der Geißel war die Antwort, indes da hatte der Kleine, derselben schon gewärtig, einen flinken Satz getan, die Verbindungskette straffte sich jäh, und der Schlag sauste auf die Achsel des durch den Ruck vorwärts gerissenen Kettengenossen, eines stämmigen, rothaarig filzbärtigen Parthers, der gleichsam erstaunt den Kopf drehte und auf der zugewandten Gesichtshälfte inmitten mißfarbenen Narbengewirres, er war wohl ein Kriegsgefangener, rot und blutig und starrend ein ausgeschossenes, ausgerissenes, ausgestochenes Auge zeigte, starrend und bei aller Blindheit richtig überrascht, denn bevor er noch von der vorwärtsdrängenden, kettenklirrenden Reihe weitergestoßen worden war, hatte es ihm, offenbar weil es schon in einem abging, nochmals um den Kopf gepfiffen und ihm das Ohr mit einem blutigen Schnitt gespalten. Dies alles hatte nur einen kurzen Herzschlag lang gedauert, nichtsdestoweniger lang genug, um den Herzschlag aussetzen zu lassen: schmachvoll war es, hinzublicken und nicht den leisesten Versuch eines Eingreifens zu unternehmen, unfähig und vielleicht sogar unwillig zu solchem Eingreifen, schmachvoll war es selbst noch dieses Geschehen festhalten zu wollen, schmachvoll eine Erinnerung, in die selbst dieses noch für ewig eingeschrieben werden sollte! Erinnerungslos hatte der kleine Syrer gefeixt, erinnerungslos, als gäbe es nichts als eine verwüstete, vergewaltigte Gegenwart, ohne Zukunft und daher auch ohne Vergangenheit, ohne Nachher und darum auch ohne Vorher, als wären die beiden Verketteten niemals Knaben gewesen, spielend in den Gefilden der Jugend, als gäbe es in ihrer Heimat keine Berge, keine Matten, keine Blumen und nicht einmal einen Bach, der des Abends im fernen Tal lauscht und rauscht -, oh, schmachvoll war es, der eigenen Erinnerung nachzuhängen, sich um sie zu bemühen und sie zu pflegen! Oh, Erinnerung, unverlierbare, Erinnerung voll des Weizengewoges, voll der Felder, voll des knisternd rauschenden, kühlwandigen Waldes, voll der Jugendhaine, augentrunken am Morgen, herzenstrunken am Abend, aufzitterndes Grün und verzitterndes Grau, oh, Wissen um die Herkunft und um die Rückkehr, Gepränge der Erinnerung!

Doch gegeißelt der Besiegte, jubelbrüllend der Sieger, steinern der Raum, in dem es geschieht, brennend das Auge, brennend die Blindheit für welch unauffindbares Sein galt es da noch sich wach zu erhalten? für welche Zukunft galt da noch das unsägliche Bemühen um Erinnerung? in welche Zukunft sollte Erinnerung da noch eingehen? gab es da überhaupt noch Zukunft?

Die Brückenplanken wippten steif, als die Sänfte im gemessenen Gleichschritt der Träger darüber hin befördert wurde; unten schwappte bedächtig das schwarze Wasser, eingeengt zwischen dem schwarzen schweren Schiffskörper und der schwarzen schweren Kaimauer, das schwerflüssige glatte Element, sich selbst ausatmend, Unrat ausatmend, Abfälle und Gemüseblätter und verfaulte Melonen, alles was da unten herumsuppte, schlaffe Wellen eines schweren süßlichen Todeshauches, Wellen eines verfaulenden Lebens, des einzigen, das zwischen den Steinen bestehen kann, lebend nur noch in der Hoffnung auf die Wiedergeburt aus seiner Verwesung. So sah es dort unten aus; hier oben hingegen lagen die makellos gearbeiteten, vergoldeten und verzierten Tragstangen der Sänfte auf den Schultern von Lasttieren in Menschengestalt, menschlich gefütterten, menschlich redenden, menschlich schlafenden, menschlich denkenden Lasttieren, und in dem makellos gearbeiteten, geschnitzten Sänftensessel, dessen Lehne und Seitenteile mit goldblechernen Sternen geschmückt waren, ruhte ein makelbehafteter Kranker, in dem die Verwesung bereits lauernd hauste. Dies alles war von äußerster Unstimmigkeit, in all dem barg sich das versteckte Unheil, die Starrheit eines Geschehens, das vollkommener ist als der Mensch, obwohl er selber es ist, der die Mauern baut, der schnitzt und hämmert, den Geißelstrang flicht und Ketten schmiedet. Unmöglich, sich davor zu verschließen, unmöglich war es, zu vergessen. Und was immer man vergessen wollte, in stets erneuter Wirklichkeitsgestalt war es wieder da, kam es wieder zurück, als neue Augen, als neuer Lärm, als neue Geißelhiebe, als neue Starrheit, als neues Unheil, jedes für sich seinen Eigenraum fordernd, eines das andere in furchtbarer Berührung einengend und bezwingend, und doch höchst seltsam und unstimmig alles miteinander verwoben. Unstimmig wie die Berührung der Dinge untereinander war auch der Zeitablauf geworden; die einzelnen Zeitabschnitte wollten nicht mehr zueinander passen: niemals noch war das Jetzt so eindeutig vom Vorher geschieden gewesen; eine tiefeinschneidende Kluft, durch keinen Steg überbrückbar, hatte dieses Jetzt zu etwas Selbständigem gemacht, hatte es von dem Vorher, von der Seereise und allem, was vorangegangen war, unweigerlich abgetrennt, hatte ihn von dem ganzen voran gegangenen Leben abgeschieden, und doch hätte er, im leisen Schaukeln der Sänfte, kaum anzugeben gewußt, ob die Fahrt noch währte, oder ob man sich wirklich schon am Land befand. Über ein Meer von Köpfen schaute er, über einem Meere von Köpfen schwebte er, umgeben von Menschenbrandung, freilich bisher nur an ihrem Rande, da die ersten Versuche zur Überwindung solch wogenden Widerstandes bisher allesamt gescheitert waren. Hier beim Anlegeplatz der Begleitschiffe war die polizeiliche Ordnung eben weit weniger straff als drüben beim Augustusempfang, und mochte es auch einigen Fahrgästen geglückt sein sich mit eiligem Anlauf dorthin durchzuschlagen, so daß sie sich dem feierlichen Zuge, welcher sich innerhalb der Absperrung bildete und den Cäsar in die Stadt und zum Palast hinaufbringen sollte, noch anschließen konnten, so wäre derlei für den Sänftentransport schlechterdings unmöglich gewesen; der kaiserliche Diener, den man der kleinen Eskorte zur Begleitung, zur Führung und sozusagen zur Bewachung beigegeben hatte, war zu bejahrt, zu beleibt, zu weichlich und wohl auch zu gutmütig, um sich zu einem gewaltsamen Durchbruch aufzuraffen, er war machtlos, und weil er machtlos war, mußte er sich auf Klagen gegen die Polizei beschränken, die diese Pöbelansammlungen zuließ und ihm doch wenigstens eine anständige Bedeckung hätte beistellen müssen, und so wurde man schließlich recht ziellos über den Platz hingepufft und fortgetrieben, zeitweise auch bewegungslos eingekeilt, im stockenden Zickzack, einmal dahin, einmal dorthin geschoben und herumgestoßen. Daß der Knabe mitgekommen war, erwies sich da als unverhoffte Erleichterung; als wäre ihm, und dies war äußerst seltsam, von irgendwoher Kenntnis um die Wichtigkeit des Manuskriptkoffers geworden, achtete er darauf, daß dessen Träger sich stets knapp neben der Sänfte hielten, und während er, immerzu selber daneben und den Mantel über die Schulter geworfen, keinerlei Abdrängung zuließ, blinzelte er manchmal mit helldurchsichtigen Augen belustigt und verehrungsvoll herauf. Von den Häuserfronten und aus den Gassen strömte brütende Schwüle entgegen, sie kam in breiten queren Wogen angeflutet, immer wieder von dem nicht endenwollenden Geschrei und Gerufe, vom Summen und Brausen des atmenden Massentieres zerspellt, dennoch unbewegt; Wasseratem, Pflanzenatem, Stadtatem: ein einziger schwerer Brodem des in Steinquadern eingezwängten Lebens und seiner verfaulenden Scheinlebendigkeit, Humus des Seins, verwesungsnah und unermeßlich aufsteigend aus den überhitzten Steinschächten, aufsteigend zu den kühlsteinernen Sternen, mit denen die innerste, zu tiefmilder Schwärze abdunkelnde Himmelsschale sich zu bedecken begann. Aus unerschließbaren Tiefen sprießt das Leben empor, durch das Gestein sich zwängend, sterbend schon auf diesem Wege, sterbend und verwesend und erkaltend schon in seinem Aufsteigen, im Aufsteigen auch schon ein Sich-Verflüchtigen, aber aus unerschließbaren Höhen sinkt das Unabänderliche steinkühl herab, ein sinkender, dunkelleuchtender Hauch, bezwingend mit seiner Berührung, erstarrend zum Gestein der Tiefe, oben wie unten das Steinerne, als wäre es die letzte Wirklichkeit der diesseitigen Welt -, und zwischen solchem Strom und Gegenstrom, zwischen Nacht und Gegennacht, rotglühend unten, klarflimmernd oben, in dieser verdoppelten Nächtlichkeit schwebte er auf seiner Sänfte, als wäre sie eine Barke, eintauchend in die Wellenkämme des Pflanzlich-Tierischen, empor gehoben in den Hauch des Unabänderlich-Kühlen, vorwärtsgetragen zu Meeren von so großer Rätselhaftigkeit und Unbekanntheit, daß es wie Rückkehr war; denn Welle um Welle, die großen Flächen, die sein Kiel bereits durchfurcht hatte, Wellenflächen der Erinnerung, Wellenflächen der Meere, sie waren nicht durchsichtig geworden, nichts in ihnen hatte sich zur Bekanntheit enthüllt, bloß das Rätsel war geblieben, und rätselerfüllt reichte die Vergangenheit über ihre Ufer hin bis in die Gegenwart herein, so daß er inmitten des harzigen Fackelqualmes, inmitten des brütenden Stadtdunstes, inmitten des wildtierhaften, dunkelatmigen Körperbrodems, inmitten des Platzes und seiner Unbekanntheit, unverwischbar unverkennbar des Meeres Geruch und das großunvergängliche Sein des Meeres spürte: hinter ihm lagen die Schiffe, die seltsamen Vögel der Unbekanntheit, noch klingen Kommandoworte von dorther herüber, dann das ruckweise Knarrknirschen einer Holzwinde, dann ein tieftönend singender Beckenschlag, der wie ein letzter Nachhall des ins Meer gesunkenen Tagesgestirnes weitertönt, und dahinter ist der großflächige Wind der See, ist ihre billionenhaft weißgekrönte Unruhe, das Lächeln Poseidons, stets bereit in brüllendes Gelächter umzuschlagen, wenn der Gott seine Pferde antreibt, und hinter der See, aber zugleich sie umschließend, sind die meeresbespülten Länder, sie alle, die er durchschritten hatte, über deren Gestein, über deren Humus er gegangen war, teilnehmend am Pflanzlichen und Menschlichen und Tierischen, verwoben dem allen, ohnmächtig vor so viel Unbekanntheit, unfähig sie zu bewältigen, einverwoben und einverirrt in das Geschehen und in die Dinge, einverwobeneinverirrt in die Länder und in deren Städte, wie sehr ist dies alles versunken und trotzdem nahe, Dinge, Länder, Städte, wie liegen sie alle hinter ihm, um ihn, in ihm, wie sehr sind sie sein eigen, besonnt und schattentief, rauschend und nächtlich, bekannt und rätselhaft, Athen und Mantua und Neapel und Cremona und Mailand und Brundisium, ach, und Andes alles wurde herbeigetragen, es war hier, umbrandet vom Lichterwust des Hafenplatzes, umatmet vom Unatembaren, umgrölt vom Unverständlichen, vereinigt zu einer einzigen Einheit, in der die Ferne mühelos zur Nähe wurde, die Nähe zur Ferne, und ihn, den Darüberhinschwebenden, umgeben von Wildheit zu mühelos schwebender Wachheit werden ließ; das unterweltlich Schwelende vor seinen Augen und in seinem Wissen, wußte er zugleich sein Leben, wußte es vom Strom und Gegenstrom der Nacht getragen, in der sich Vergangenheit und Zukunft kreuzen, er wußte es hier an diesem Verkreuzungspunkt in der feuergetauchten, feuerumflossenen Gegenwart des Uferplatzes, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Meer und Land, er selber in der Mitte des Platzes, als hätte man ihn zum Mittelpunkt seines eigenen Seins, zum Kreuzungspunkt seiner Welten, zu seinem Weltmittelpunkt bringen wollen, schicksalsbestimmt. Doch es war nur Brundisiums Hafenplatz.

Und selbst, wenn es der Weltmittelpunkt gewesen wäre, es wäre erst recht hier kein Bleiben gewesen; immer mehr Volk strömte aus den Gassen, deren Mündungen mit freudigfeurigen Transparenten überwölbt waren, auf den Platz heraus, und immer mehr wurden die Träger nun von der Platzmitte wieder abgedrängt, so daß es überhaupt keine Möglichkeit mehr gab, das Soldatenspalier und den Augustuszug, der sich unter Fanfaren bereits in Bewegung gesetzt hatte, von hier aus zu erreichen. Nicht wenig war da auch noch der Lärm an geschwollen, da ja nun auch die Musik überschrieen, überjohlt, überpfiflen werden mußte, und mit dem steigenden Lärm stieg desgleichen die Gewaltsamkeit und Rücksichtslosigkeit des Schiebens und Drängens, das schier zum Selbstzweck und zur Eigenbelustigung wurde, allein, bei all dieser Gewaltsamkeit, es schien sich die Mühelosigkeit und Leichtigkeit der schwebenden Wachheit, die ihn selber umfangen hielt, dem ganzen Platze mitgeteilt zu haben, gleichsam wie eine zweite Beleuchtung, welche sich zu der ersten, augensichtbaren dazugesellt hat und, ohne an ihrer harten, schattenverflackernden Grellheit etwas zu ändern, sie eher sogar noch vertieft, trotzdem aber einen zweiten Seinszusammenhang in der sichtbaren Dinggegenwart aufdeckt, den traumwachen Seinszusammenhang der Ferne, der jedweder Nähe, selbst der handgreiflichsten und unmittelbarsten, noch innewohnt. Und als sollte diese fernleichte Selbstverständlichkeit eines zweiten Zusammenhanges auch noch bewiesen werden, befand sich der Knabe nun plötzlich an der Spitze der Eskorte, ohne daß man recht gewahr geworden, wann dies geschehen war, und, gleichsam wie im Spiele, leicht eine Fackel schwingend, die er offenbar dem Nächstbesten abgenommen hatte, benützte er sie als Waffe, um damit einen Weg durch die Menge zu bahnen: «Platz für den Vergil!», schrie er dazu den Leuten fröhlich ins Gesicht, «Platz für eueren Dichter!», und wenn die Leute vielleicht auch nur auswichen, weil da einer getragen wurde, der zum Cäsar gehörte, oder weil ihnen die fieberglänzenden Augen in dem gelbdunklen Gesicht des Kranken unheimlich waren, so hatte man es doch dem kleinen Führer zu verdanken, daß ihre Aufmerksamkeit überhaupt erregt und hierdurch ein Vorwärtskommen schlecht und recht ermöglicht wurde.