Freilich, es gab Verknäulungen, gegen die weder mit der spitzbübischen Gelassenheit des jungen Mantelträgers, noch mit seinen Fackelbränden etwas auszurichten war, und bei diesen Stockungen nützte auch nichts das unheimliche Aussehen des kranken Mannes, im Gegenteil, jedesmal steigerte sich dann das anfänglich bloß abwehrend gleichgültige Wegschauen zu einem offenen Widerwillen gegen den unheimlichen Anblick, zu einem halb scheuen, halb angriffslustigen Geraune, es wurde zu einer nahezu bedrohlichen Stimmung, für die ein Spaßvogel, ebenso wohlgelaunt wie übelwollend, in dem Rufe: «Ein Zauberer, der Zauberer vom Cäsar!», den richtigen Ausdruck fand. «Versteht sich, du Tölpel», schrie der Junge zurück, «so einen Zauberer hast du überhaupt noch nicht in deinem dummen Leben gesehen; unser größter, unser allergrößter Zauberer ist er!» Ein paar Hände mit aus gestreckten Fingern, die vor dem bösen Blick schützen sollten, flogen auf, und eine weißgeschminkte Hure, blonde Perücke schiefsitzend auf ihrem Schädel, kreischte zur Sänfte hin:«Gib mir einen Liebeszauber!»
- «Ja, zwischen die Beine, und kräftig», ergänzte mit nachahmender Fistelstimme ein gänserichähnlicher, sonnverbrannter Bursche, offenbar ein Matrose, und erwischte mit seinen blautätowierten Armen die vergnügtzärtlich Aufquietschende beidhändig von hinten, «so 'nen Zauber kriegst auch von mir gut und gerne geliefert; den kannst bekommen!» - «Platz für den Zauberer, Platz da!», kommandierte der Junge, puffte mit dem Ellbogen resolut den Gänserich zur Seite und schwenkte, schnellentschlossen und einigermaßen überraschend, nach rechts gegen den Platzrand hin ab; willig folgten die Träger mit dem Manuskriptkoffer, etwas weniger willig der Wächter-Diener, es folgte die Sänfte und die übrigen Sklaven, gleichsam sie alle von unsichtbarer Kette hinter dem Knaben hergezogen. Wohin führte da der Knabe? aus welcher Ferne, aus welcher Erinnerungstiefe war er aufgetaucht? von welcher Vergangenheit, von welcher Zukunft wurde er bestimmt? von welch geheimnisvoller Notwendigkeit? und aus welch vergangenem, zu welch künftigem Geheimnis wurde er selber da getragen? war es nicht weit eher ein ständiges Schweben in unermeßlicher Gegenwart? Um ihn herum waren die Freßmäuler, die Brüllmäuler, die Gesangmäuler, die Staunmäuler, die geöffneten Mäuler in den verschlossenen Gesichtern, sie alle waren geöffnet, waren aufgerissen, zahnbesetzt hinter roten und braunen und blassen Lippen, mit Zunge bewehrt, er sah hinab auf die moosigwolligen Rundköpfe der Tragsklaven, sah von seitwärts ihre Kiefer und die finnige Wangenhaut, er wußte von dem Blute, das in ihnen schlug, von dem Speichel, den sie zu schlucken hatten, und er wußte manches von den Gedanken, die in diesen unge«fügen, ungelenken, ungezügelten Freß- und Muskelmaschinen zwar verloren, dennoch ewiglich unverlierbar, zart und dumpf, durchsichtig und dunkel, sickernd Tropfen um Tropfen, fallen und vergehen, die Tropfen der Seele; er wußte um die Sehnsucht, die selbst in der schmerzlich wüstesten Brunst und Fleischlichkeit nicht zur Ruhe kommt, ihnen allen eingeboren, dem Gänserich ebensosehr wie seiner Hure, unaustilgbare Sehnsucht des Menschen, die sich niemals vernichten, höchstens ins Bösartige und Feindliche abbiegen läßt, dennoch Sehnsucht bleibend. Entrückt, dennoch unaussprechlich nahe, schwebend vor Wachheit, dennoch allem Dumpfen vermengt, sah er die Stumpfheit der samenspritzenden und samentrinkenden, gesichtslosen Leiber, ihre Schwellungen und ihre Gliedhärten, er sah und hörte die Verborgenheiten in dem Auf und Ab ihrer Zufallsbrunst, den wilden, stumpfkriegerischen Jubel ihrer Vereinigungen und das blödweise Verwelken ihres Alterns, und fast war es, als würde ihm dies alles, dieses ganze Wissen durch die Nase zugemittelt werden, eingeatmet mit dem betäubenden Dunst, in dem das Sichtbare und Hörbare eingebettet war, eingeatmet mit dem vielfältigen Dunst der Menschentiere und ihres täglich zusammengesuchten, täglich durch sie hindurchgekauten Futters, indes jetzt, da man sich endlich einen Weg zwischen den Leibern erkämpft hatte, und die Menge, gleich den zum Platzrande hin spärlicher werdenden Lichtern, endlich schütterer wurde, um dunkelheitsversickernd sich schließlich ganz zu verlaufen, wurde ihr Geruch, mochte er auch noch immer nachschwelen, von dem glatten glitzerig-fauligen Gestank der Fischmarktstände abgelöst, die hier den Hafenplatz begrenzten, stillverlassen zu dieser Abendstunde. Süßlich, nicht minder faulig, schlug sich auch noch der Geruch des Obstmarktes hinzu, voll von Gärungshauch, ununterscheidbar geworden der Duft der rötlichen Trauben, der wachsgelben Pflaumen, der goldenen Äpfel, der unterirdisch schwarzen Feigen, vermengt und ununterscheidbar geworden vor gemeinsamer Verwesung, und die Steinplatten des Pflasters glänzten schlüpfrig von feucht Zertretenem und Verschmiertem. Sehr fern war nun der Mittelpunkt des Platzes dahinten, sehr fern die Schiffe am Kai, sehr fern das Meer, sehr fern, wenn auch nicht endgültig verloren; das Menschengeheul dort war nur noch ein fernes Brummen, und von der Fanfarenmusik war nichts mehr zu hören.
Mit großer Sicherheit, als. wie von genauester Ortskenntnis gelenkt, hatte der Knabe seine Gefolgschaft durch das Budenwerk hindurchgesteuert, um nun in das Gebiet der Warenspeicher und Werftanlagen einzudringen, das mit düster unbeleuchteten Gebäuden sich unmittelbar an das Marktgelände anschloß und, in der Dunkelheit kaum erkennbar, höchstens erfühlbar sich von hierab weithin ausdehnte. Und da wechselte nochmals der Geruch: man roch das ganze Schaffen des Landes, man roch die ungeheuren Lebensmittelmengen, die hier vorbereitet waren, vorbereitet zum Austausch innerhalb des Reichsgebietes, immer aber dazu bestimmt, ob da oder dort, sich nach Kauf und Verkauf zuletzt durch die Menschenkörper und deren Eingeweideschlangen hindurchzuschlacken, und man roch die trockene Süße des Getreides, dessen Feimen vor den schwarzen Silos sich häuften, wartend, daß sie hineingeschaufelt würden, man roch die staubige Trockenheit der Kornsäcke, der Weizensäcke, der Hafersäcke, der Dinkelsäcke, man roch die säuerliche Milde der Öltonnen und Ölkufen, und ebenso die beizende Herbheit der Weinlager, die sich die Kais entlang hinerstreckten, man roch die Zimmermanns Werkstätten, die Massen der irgendwo im Dunkeln aufgestapelten Eichenstämme, deren Holz niemals stirbt, man roch ihre Rinde, aber nicht minder den geschmeidigen Widerstand ihres Stammkernes, man roch die zubehauenen Blöcke, in denen noch die Axt steckt, wie sie der Werkmann nach Arbeitsschluß zurückgelassen hat, und neben dem Geruch der schöngehobelten neuen Schiffsplanken, neben dem der Hobelscharten und der Sägespäne, roch man den müden des ausgebrochenen, weißlichgrünen, glitschigmodrigen, muschelbesäten alten Schiffsholzes, das in großen Haufen hier des Verbrennens harrte. Der Kreislauf des Schaffens. Ein unendlicher Friede atmete aus der duftgeschwängerten Arbeitsnächtlichkeit, der Friede eines werkenden Landes, der Friede von Äckern, von Weinbergen, von Wäldern, von Ölhainen, der bäuerliche Friede, aus dem er selber, der Bauernsohn, hervorgegangen war, der Friede seines steten Heimwehs und seiner erdgebundenen, erdzugekehrten, irdischsteten Sehnsucht, der Friede, dem seit jeher sein Gesang gegolten hatte, oh, sein Sehnsuchtsfrieden, unerreichbar. Und als sollte diese Unerreichbarkeit sich auch hier widerspiegeln, als müßte allüberall alles zum Bild seines Selbst werden, war auch dieser Friede hier zwischen den Steinen eingezwängt, war gebändigt und mißbraucht zum Ehrgeiz, zum Nutzen, zur Verkäuflichkeit, zur Hetzjagd, zur Außenweltlichkeit, zur Verknechtung, zum Unfrieden. Innen und Außen sind das nämliche, sind Bild und Gegenbild, und doch noch nicht die Einheit, die das Wissen ist. Überall fand er sich selber, und wenn er alles festhalten mußte, aber auch festhalten konnte, wenn es ihm gelang, die Welten Vielfalt zu erhaschen, zu der es ihn verpflichtet hatte, zu der es ihn drängte, traumwach an sie hingegeben, mühelos ihr angehörend, mühelos sie besitzend, so war dem so, weil sie von Anbeginn an, ja, noch vor allem Erspähen, Erlauschen, Erfühlen, sein Eigen gewesen war, weil Erinnern und Festhalten niemals etwas anderes als selbsterinnertes Eigen-Ich ist, erinnertes Eigen-Einst, ein Einst, in dem er den Wein getrunken, das Holz betastet, das Öl geschmeckt haben mußte, ehe es noch Öl, Wein und Holz gegeben hatte, das ungekannte Wiedererkannte, weil die Fülle der Gesichter und Ungesichter, samt ihrer Brunst, samt ihrer Gier, samt ihrer Fleischlichkeit, samt ihrer habsüchtigen Kälte, samt ihrem tierhaft körperlichen Sein, aber auch samt ihrer großen nächtlichen Sehnsucht, weil sie allesamt, mochte er sie je gesehen haben oder nicht, mochten sie je gelebt haben oder nicht, ihm einverleibt waren von seinem Urbeginn an, als der chaotische Ur-Humus seines eigenen Seins, als seine eigene Fleischlichkeit, als seine eigene Brunst, als seine eigene Gier, als sein eigenes Ungesicht, aber auch als seine eigene Sehnsucht: und hatte sich seine Sehnsucht im Verlaufe seiner irdischen Wanderung auch sehr gewandelt und sich dem Erkennen zugekehrt, so sehr, daß sie zuletzt, schmerzlicher und schmerzlicher geworden, kaum mehr Sehnsucht, ja, kaum mehr Sehnsucht nach der Sehnsucht zu nennen war, und war dies auch vom Schicksal vorbestimmt gewesen, von Anbeginn an, als ein Hinausgetriebensein und als eine Abgeschiedenheit, unheilsträchtig jenes, heilsbeglückend dieses, beides jedoch fast untragbar für ein menschliches Wesen, es war trotzdem geblieben, unverlierbar das Eingeborene, unverlierbar des Seins Ur-Humus, der Boden des Erkennens und Wiedererkennens, aus dem die Erinnerung gespeist wird und zu dem sie zurückkehrt, Schutz vor Glück wie Unglück, Schutz vor dem Untragbaren, eine letzte Sehnsucht, so sehr Sehnsucht, daß sie schier körperlich in jedem Streben nach Erinnerungstiefe, und sei es die erkenntnisreifste, ein für allemal und für ewig mitschwingt. Wahrlich, es war eine körperliche Sehnsucht und unauslöschbar. Er hielt die Finger ineinanderverkrampft, er spürte den Ring, der sich hart in Haut und Fleischflachsen drückte, er spürte steinhart die Knochen seiner Hand, er spürte sein Blut, er spürte die Erinnerungstiefe seines Körpers, die Schattentiefe der Fernvergangenheit einsgeworden mit ihrem gegenwartsnahen, gegenwartserhellenden Leuchten, und er erinnerte sich der Knabenzeit in Andes, er erinnerte sich des Hauses, der Stallungen, der Speicher, der Bäume, er erinnerte sich der hellen Augen in dem immer lachbereiten, stets ein wenig sonnverbrannten Gesicht der Mutter, die dunkellockig im Hause schaffte - oh, sie hieß Maja, und kein Name hätte sommerlicher klingen können, keinen gab es, der besser zu ihr gepaßt hätte -, und er erinnerte sich, wie sie mit ihrem fröhlichen Gewerk alles um sie herum erwärmte, unerschütterlich in ihrer heiteren Unermüdlichkeit, auch wenn sie dem Großvater, der in der Stube saß, ständig zu Diensten sein mußte, ständig von ihm zu irgendeiner Handreichung gerufen wurde, oder wenn sie, nicht weniger häufig, den Alten und sein wütendes, markerschütterndes, kindererschreckendes Geschrei zu beschwichtigen hatte, dieses beschwichtigungssüchtige Geschrei, das anzustimmen er bei keiner Gelegenheit unterließ, besonders wenn Vieh- und Getreidepreise zur Frage standen und er, der halb freigebige, halb knauserige, weißhaarige Magus Polla unfehlbar, ob Kauf oder Verkauf, sich von den Händlern übertölpelt glaubte; ach, wie erinnerungsstark war dieser Lärm, wie erinnerungsmild die Ruhe, die dann immer wieder von der Mutter mit einer beinahe belustigten Fröhlichkeit dem Hause zurückgegeben worden war, und er erinnerte sich des Vaters, der erst mit der Heirat zum richtigen Bauern hatte werden können und dessen einstmaliger Töpferberuf dem Sohn gering gedeucht hatte, obwohl es sehr schön gewesen war den abendlichen Erzählungen von der Arbeit an den bauchigen Weinfässern und edelgeschwungenen Ölkrügen, die der Vater verfertigt hatte, zu lauschen, den Erzählungen von dem lehmformenden Daumen, von den Spachteln und von der surrenden Drehscheibe, und von der Kunst des Brennens, schönen Erzählungen, unterbrochen von manchem alten Töpferlied. Oh, Gesichter der Zeit, verharrend in der Zeit, oh, Gesicht der Mutter, erinnert als Jugendgesicht und dann immer verflüchtigt und vertieft, so daß es im Tode schon jenseits alles Gesichtlichen, ja fast wie ewige Landschaft gewesen war, oh, Gesicht des Vaters, unerinnert am Anfang und dann immer weiter gewachsen ins Lebensmenschliche, ins Ebenbildhafte, bis es im Tode zum unverlierbaren. Menschenantlitz geworden war, gebildet aus hartem, braunsteifem Lehm, gütig stark im letzten Lächeln, unvergeßbar. Oh, nichts vermag zur Wirklichkeit zu reifen, das nicht in der Erinnerung verwurzelt ist, oh, nichts ist dem Menschen erfaßbar, das ihm nicht von Anfang an beigegeben wäre, überschattet von den Gesichtern seiner Jugend. Denn immer steht die Seele an ihrem Anfang, sie steht zur Erwachensgröße ihres Anfanges, selbst das Ende hat für sie die Würde des Beginns; kein Lied geht verloren, das je die Saiten ihrer Leier berührt, und zu ewig erneuter Bereitschaft aufgetan, bewahrt sie in sich jegliches Tönen, mit dem sie je aufgeklungen. Unvergänglich ist es, stets kommt es wieder, auch hier war es wieder vorhanden, und er sog die Luft ein, um den kühlen Geruch der irdenen Krüge und der aufgestapelten Tonnen, der leicht und schwarz manchmal aus den geöffneten Schuppentüren herausquoll, zu erhaschen und in seine wehen Lungen einzuatmen. Hernach mußte er freilich husten, als hätte er etwas Unzuträgliches oder Verbotenes getan. Die Nagelschuhe der Träger trabten indessen weiter, sie klappten auf Steinboden, knirschten auf Kiesboden, die Fackel des jungen Führers, der mitunter sich umwandte, um zu der Sänfte heraufzulächeln, glimmte und leuchtete voran, man kam jetzt recht tüchtig ins Marschieren und recht rasch vorwärts, zu rasch für den im bequemeren Hofdienst ergrauten und beleibt gewordenen, bejahrten Diener, der nun hintendrein nach watschelte und vernehmlichst seufzte; es ragte das Gewirr der Magazins- und Silodächer mit vielerlei Formen teils spitz, teils flach, teils schwachschräg zum sterndichten, wenn auch noch nicht vollnächtlichen Himmel empor, Krane und Gestänge warfen drohende Schatten unter dem vorüberziehenden Lichte, man kam an leeren und beladenen Karren vorbei, ein paar Ratten kreuzten den Weg, ein Nachtfalter verirrte sich auf die Sänftenlehne und blieb daran haften; sachte wollte sich neuerlich Müdigkeit und Schlaf melden, sechs Beine hatte der Falter und sehr viele, wenn nicht gar unbestimmbar viele das Trägergespann, dem die Sänfte, dem er selber mitsamt dem Falter als vornehmgebrechliche Warenlast anvertraut war, schon wollte er sich um wenden, um vielleicht doch noch die Anzahl der hinter ihm befindlichen Tragsklaven sowie die ihrer Beine feststellen zu können, allein, ehe er noch dies bewerkstelligen konnte, war man in einen engen Durchlaß zwischen zwei Schuppen gelangt, und gleich danach stand man höchst überraschenderweise wieder vor den Stadthäusern, stand vor dem Eingang einer ziemlich steil ansteigenden, sehr schmalen, sehr verwitterten, sehr wäschebehangenen Mietskasernengasse: tatsächlich, man stand, denn der Knabe hatte die Träger, die ja sonst wahrscheinlich weitergetrottet wären - und tatsächlich, nun waren es ihrer wieder nur vier wie ehedem - kurzerhand in ihrem Marsche aufgehalten, und gerade diese plötzliche Unterbrechung, vereint mit dem unerwarteten Anblick, wirkte wie Wiedersehensfreude, wirkte derart überraschend und verblüffend, daß sie allesamt, Herr und Diener und Sklave, laut herauslachten, um so mehr, als der Knabe, angefeuert von ihrem Lachen, sich leicht verbeugte und mit einer stolzen Weisegeste zum Einzug in die Gasse einlud.
Es gab aber eigentlich wenig Anlaß zur Heiterkeit; am allerwenigsten wurde ein solcher von diesem Gassenschlunde geboten. Dunkel lag der flachstufige Stiegenweg da, bevölkert mit allerhand Schattenhaftem, vor allem mit Rudeln von Kindern, welche trotz der vorgerückten Stunde treppauf und treppab tollten, schattenhaft zweifüßig, und zu denen sich, bei näherer Sicht, dann auch noch Vierfüßiges gesellte, da überall längs der Mauern, mehr oder minder kurz angeseilt, Ziegen angepflockt waren; schwarz blickten die glaslosen und zumeist auch lädenlosen Fenster in den Schlund, schwarz die kellerigen, dunkelhöhligen Verkaufsgewölbe, aus denen allerhand billiges Gefeilsche herausschnatterte, das Gefeilsche der Armut, das Gefeilsche für die Bedürfnisse der nächsten Stunden, kaum des nächsten Tages, während daneben die klopfende, schnarrende, klempernde, kleinkümmerliche Handwerkerarbeit, von Schatten bedient, für Schatten bestimmt, dünn lärmend vonstatten ging und augenscheinlich zu ihrer Ausführung überhaupt keines Lichtes mehr benötigte, denn selbst wo der Schein einer Ölfunzel oder eines Kerzenstumpens sich hervorwagte, blieben die Menschen im Schatten verkrochen. Alltagsleben im elendsten Elendsgange, unabhängig von jedem äußeren Ereignis, vollzog sich hier, vollzog sich schier zeitlos, als wäre das Kaiserfest meilenweit von dieser Gasse entfernt, als wüßten ihre Bewohner nichts von dem, was in anderen Stadtteilen sich zutrug, und so bedeutete der auftauchende Sänftenzug nichts Staunenerregendes, wohl aber unliebsamste oder richtiger feindseligste Störung. Es begann koboldhaft, nämlich mit den Kindern, ja, sogar mit den Ziegen, da sowohl die einen wie die anderen den Trägern zwischen die Beine gerieten und nicht auswichen, meckernd die Vierfüßler, kreischend die kleinen Zweifüßler, die aus allen Schattenwinkeln hervorbrachen, um sich dann wieder darein zu verstecken; es begann damit, daß sie dem jungen Führer, freilich erfolglos vor seiner wilden Wehrhaftigkeit, die Fackel entreißen wollten, indes, dies wäre nicht das Ärgste gewesen, und wenn auch langsam, man kam trotzdem vorwärts - Stufe um Stufe ging es die Elendsgasse hinan -, nein, nicht diese Behelligungen waren arg, sondern die Weiber waren es, sie waren das Ärgste, sie, diese aus den Fenstern heraus gelehnten Weiber, brustzerquetscht auf den Brüstungen, herabbaumelnd schlangengleich ihre nackten Arme mit den züngelnden Händen daran, und waren es auch nur irr keifende Schimpfworte, in die ihr Geschwätz umkippte, sowie sie des Zuges ansichtig wurden, es war zugleich ein keifendes Irresein, groß wie jedes Irresein, übersteigert zur Anklage, übersteigert zur Wahrheit, da es Schimpf war. Und hier nun, wo Haus um Haus bestialischen Fäkaliengestank aus dem geöffneten Tormaul entließ, hier in diesem verwitterten Wohnkanal, durch den er auf hocherhobener Sänfte getragen wurde, so daß er in die ärmlichen Stuben blicken konnte, blicken mußte, getroffen von den wütend und sinnlos ihm ins Gesicht geschleuderten Verwünschungen der Weiber, getroffen vom Gegreine der auf Fetzen und Lumpen gebetteten, nirgends fehlenden kränklichen Säuglinge, getroffen vom Qualm, der an den rissigen Wänden befestigten Kienspäne, getroffen von der dunstigen Abgestandenheit der Kochstellen und ihrer verschmorten, altverschmierten Eisenpfannen, getroffen von dem Grauensbild der da in den schwarzen Lochbehausungen allenthalben herumhockenden, nahezu unbekleideten, mummelnden Greise, hier begann Verzweiflung ihn zu überkommen, und hier zwischen den Höhlen des Ungeziefers, hier vor dieser äußersten Verkommenheit und elendigsten Verwesung, hier vor dieser tiefst irdischen Verkerkerung, vor dieser Stelle bösartig kreißender Geburt und bösartig krepierenden Todes, des Lebens Ein- und Ausgang verwoben zu engster Verschwisterung, finstere Ahnung das eine wie das andere, namenlos das eine wie das andere im Schattentraum zeitlosen Übels, hier in dieser namenlosesten Nächtlichkeit und Unzucht, hier mußte er zum erstenmal das Gesicht verhüllen, mußte es tun unter dem keifenden Jubelgelächter der Weiber, mußte es zur gewollten Blindheit tun, während er hinangetragen wurde, Stufe um Stufe, über die Treppe der Elendsgasse -
«Lümmel, du Sänftenlümmel!», «Glaubt, er ist was Besseres als unsereins!»,«Geldsack auf dem Thron»,«Hätt'st kein Geld, möcht'st laufen!», «Läßt sich zur Arbeit tragen!», gellten die Weiber -
sinnlos war der Hagel der Schimpfworte, der auf ihn niederprasselte, sinnlos, sinnlos, sinnlos, dennoch berechtigt, dennoch Mahnung, dennoch Wahrheit, dennoch zur Wahrheit übersteigerter Irrsinn, und jede Schmähung riß ein Stück Überheblichkeit von seiner Seele, so daß sie nackt wurde, so nackt wie die Säuglinge, so nackt wie die Greise auf ihren Lumpen, nackt vor Finsternis, nackt vor Erinnerungslosigkeit, nackt vor Schuld, eingegangen in die flutende Nacktheit des Ununterscheidbaren -
Stufe um Stufe ging es durch die Elendsgasse, auf jedem Treppenabsatz stockend -
Flut der nackten Geschöpflichkeit, die über die atmende Erde hin ausgebreitet ist, hingebreitet unter dem atmenden Himmel der Tag- und Nachtwandlung, umschlossen von den unveränderlichen Ufern der Jahrmillionen, der breit sich hinwälzende, nackte Herdenstrom des Lebens, aufsickernd aus dem Humus des Seins, immer wieder darin einsickernd, die unentrinnbare Verbundenheit alles Kreatürlichen -:
«Wenn du verreckt bist, stinkst du wie jeder andere!», «Leichenträger, schmeißt ihn runter, laßt ihn fallen den Leichnam!» -
Zeitberge und Zeittäler, oh, Myriaden Geschöpfe, die von den Äonen darüber hinweggetragen worden waren, die immerfort aufs neue darüber hinweggetragen werden im Dämmerstrom, im unendlichen Strom ihrer Gesamtheit, und keines von ihnen, das nicht gemeint hätte, das nicht meinen würde, für ewig zu schweben als ewige Seele im Zeitlosen, in zeitloser Freiheit freischwebend, abgesondert von dem Strome, abgelöst aus dem Gewühl, unabstürzbar, kein Geschöpf mehr, nur noch eine einsam bis zu den Sternen emporgewachsene, emporgerankte durchsichtige Blume, abgelöst und abgesondert, das Herz zitternd wie eine durchsichtige Blüte auf unsichtbar gewordenem Geranke -
hingetragen durch die Schmähungen der Elendsgasse, Stufe um Stufe -oh, um dieses Wahngebilde der Zeitlosigkeit geht es, und auch sein Leben, emporgeschossen aus dem chaotischen Humus des nächtlich Unbenannten, emporgewachsen aus dem Gestrüpp des Kreatürlichen, emporgerankt in unzähligen Windungen, da und dort anhaftend, an Unreinem und an Reinem, an Vergänglichem und Unvergänglichem, an Dingen, an Besitz, an Menschen und abermals Menschen, an Worten und an Landschaften, dieses immer wieder verachtete und immer wieder gelebte Leben, er hatte Mißbrauch damit getrieben, er hatte es mißbraucht, um sich selbst zu übersteigen, um sich über sich selbst hinauszuheben, über jede Grenze hinaus, über alle Zeitlichkeit hinaus, als gäbe es für ihn keinen Absturz, als hätte er nicht zurückzukehren in die Zeit, in die irdische Verkerkerung, zurück ins Kreatürliche, als gähnte für ihn nicht der Abgrund -«Säugling!», «Windelnässer!», «Kacker!», «Bist schlimm gewesen, mußt heimgetragen werden!», «Kriegst eine Spritze, aufs Töpfchen gesetzt!», regnete das Lachen allenthalben aus den Fenstern -
es hallte die Gasse vom Hohne der Weiber, aber es war ihnen nicht zu entkommen; nur ganz langsam, Stufe um Stufe, ging es vorwärts -
doch waren es überhaupt noch die Stimmen der Weiber, die da mit gerechtem Hohn ihn beschimpften und seinen fruchtlosen Wahn aufdeckten? war das, was hier gellte, nicht stärker als die Stimmen irdischer Weiber, als die Stimmen irdischer Menschen, als die Stimmen irdischer Irrsinnsgeschöpfe? oh, es war die Zeit selber, welche ihn höhnend rief, die unabänderlich dahinflutende Zeit mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Stimmen und mit der ganzen saugenden Kraft, die ihr und nur ihr innewohnt, sie hatte sich in den Stimmen der Weiber verkörpert, auf daß durch deren Schimpfworte sein Name ausgelöscht werde, er aber, entkleidet des Namens, entkleidet seiner Seele, entkleidet jeglichen Liedes, entkleidet der liedhaften Zeitlosigkeit seines Herzens, zurückfalle ins nächtlich Unsagbare und in den Humus des Seins, erniedrigt zu jener bittersten Scham, die der letzte Rest eines erloschenen Gedächtnisses ist -
wissende Stimmen der Zeit, ihr Wissen um die Unentrinnbarkeit und um die unentrinnbaren Fänge des Schicksals! Oh, sie wußten, daß auch er dem Unabänderlichen nicht hatte entrinnen können, daß es ein Schiff gab, das er, allem Wahn zu Trotz, hatte besteigen müssen und das ihn zurückgetragen hatte, schicksalshaft; oh, sie wußten um den Strom des Kreatürlichen, der nackt zwischen nackten Ufern, berandet von deren Ur-Lehm träge seinen Weg nimmt, von keinem Schiff befahren, von keinem Pflanzenwuchs besäumt, durchsichtiger Wahn beides, dennoch Wirklichkeit als Schicksal, die unsichtbare Wirklichkeit des Wahnes, und sie wußten, daß jeder schicksalsvorbezeichnet wieder in den Strom tauchen muß und daß er die Stelle seines Wiedereintauchens nicht von jener zu unterscheiden vermag, aus der aufzutauchen er einstens gewähnt hatte, denn die Rückkehr hat den Schicksalskreis zu schließen -
«Wir holen dich schon noch, du Schwanz, du Hängeschwanz!», keifte es -
und doch nur Weiberstimmen, höhnend, als wäre er eben nichts anderes als ein unfolgsames Kind gewesen, das eine trügerische Freiheit gesucht hat und sich nun nach Hause zurückstehlen wollte, mehr noch, das man auf umständlichen und sogar gefährlichen Umwegen hatte zurückbringen müssen, so daß es schon ob solchen Unheilsweges, ja schon allein deshalb ausgescholten werden mußte; aber war es auch Keifen, die schweren Stimmen der Mütter, erfüllt von Zeitdunkelheit, sie wußten, daß der Kreis des Schicksalsweges den Abgrund des Nichts umschließt, sie wußten von all den Verzweifelten, all den Verirrten, all den Ermatteten, die unweigerlich in den Abgrund der Mitte stürzen, sobald sie gezwungen sind den Weg vorzeitig abzubrechen - oh, war nicht ein jeder hierzu gezwungen? vermochte jemals einer wirklich den Weg auszuschreiten? und angstvollst schwang in dem wütenden Schelten unsäglich der ewige Mutterwunsch mit, es möge jegliches Kind für immer so nackt bleiben, wie es geboren worden ist, nackt einverkerkert in seine erste Geborgenheit, eingebettet in den dahinflutenden Zeiten der Erde, eingebettet im Strom der Geschöpflichkeit, sanft emporgehoben und sanft wieder darein verschwindend, gleichsam ohne Schicksal -
«Du Nackter, du Nackter, du ganz Nackter!» -unentrinnbar die Mutter -, was hatte den Führerknaben bewogen, diesen Weg zu wählen? wird er nun nicht versagen? gebannt vom Mutterrufe stockte der Zug, als sollte er sich niemals mehr weiterbewegen, stockte in gräßlichem Warten, doch dann, nochmals losgelöst, ging es trotzdem weiter, Stufe um Stufe, die Elendsgasse hinanklimmend -
-: reichte also die Mutterkraft der Stimmen doch nicht aus,
um für ewig zu binden? war ihr Wissen so mangelhaft, war es so lückenhaft, daß sie den Gebannten doch wieder freigeben mußten? oh, Schwäche der Mutter, die selber Geburt ist und daher von der Wiedergeburt nichts weiß, nichts um sie wissen will, unfähig zu erfassen, daß Geburt, um gültig zu sein, nach Wiedergeburt verlangt, daß aber beides, Geburt wie Wiedergeburt, nimmermehr geschehen könnte, geschähe neben beiden nicht das Nichts, stünde nicht das Nichts ewiglich und unabänderlich als letzte Zeugung hinter ihnen, ja, daß erst aus diesem unlöslichen Zusammenhang von Sein und Nicht-Sein in schweigend raunender Verschwisterung wesensgroß die Zeitlosigkeit aufzustrahlen beginnt, die Freiheit der Menschenseele, untrügerisch ihr Ewigkeitslied, kein Wahngebilde, keine Überheblichkeit, wohl aber unverhöhnbar das Schicksal des Menschen, die furchtbare Herrlichkeit des menschlichen Loses -
oh, es ist das Gottesschicksal des Menschen und es ist das menschlich Erschaubare im Schicksal der Götter, es ist ihrer beider unabänderliche Bestimmung, stets aufs neue zum Wege der Wiedergeburt gelenkt zu werden, es ist ihrer beider untilgbare Schicksalshoffnung, nochmals den Kreis ausschreiten zu dürfen, damit das Nachher zum Vorher werde und jeder Punkt des Weges alle Vergangenheit und alle Zukunft in sich vereinige, stillhaltend im Liede gegenwärtiger Einmaligkeit, tragend den Augenblick der vollkommenen Freiheit, den Augenblick der Gott-Werdung, dieses Zeit-Nichts eines Augenblickes, von dem aus trotzdem das All wie eine einzig zeitlose Erinnerung umfaßt wird -
tobende Gasse des Unheils, die kein Ende nehmen wollte, vielleicht kein Ende nehmen durfte, ehe sie nicht ihr Letztes an Schimpf und Sünde und Fluch hergegeben haben würde, und immer langsamer, Stufe um Stufe, ging es durch sie hindurch -die Aufdeckung der nackten Schuld, das Irresein der nackten Wahrheit -
oh, unabänderliches Menschenschicksal des Gottes, herabsteigen zu müssen, herabsteigen in die irdische Verkerkerung, ins Böse, ins Sündige, auf daß zuerst im Irdischen sich das Unheil erschöpfe, auf daß zuerst im Irdischen sich der Kreislauf vollende und immer enger sich um die Unerforschlichkeit des Nichts schließe, um den unerforschlichen Seinsgrund der Geburt, der einstmals zu dem der Wiedergeburt aller Schöpfung sich verwandeln wird, sobald Gott und Mensch ihre Aufgabe erfüllt haben werden -
oh, unabänderliche Schicksalspflicht des Menschen, dem Gotte willig den Weg zu ebnen, den Weg der Unverhöhnbarkeit, den Weg der zeitlosen Wiedergeburt, in deren Erstrebung sich Gott und Mensch vereinigen, entlassen der Mutter -
aber hier war die Elendsgasse, durch die es Stufe um Stufe hinanging, hier war die Furchtbarkeit der Verwünschung, die Furchtbarkeit des berechtigten Hohnes, herausgespieen aus dem Elend, oh, und er, elendsgeblendet, verwünschungsgeblendet, ja er, verhüllten Hauptes, er mußte es dennoch hören. Warum war er hierher geführt worden? sollte ihm gezeigt werden, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, den Kreis zu schließen? daß er seinen Lebensbogen nur immer weiter und weiter ins Übermäßige ausgespannt hatte, das Nichts der Mitte vergrößernd, statt es zu verkleinern? daß er sich mit solcher Schein-Unendlichkeit, mit solcher Schein-Zeitlosigkeit, mit solcher Schein-Absonderung nur immer mehr vom Ziele der Wiedergeburt entfernt hatte, daß er in wachsendem Maße absturzgefährdeter geworden? war dies hier jetzt Warnung? oder schon Drohung? oder war es wirklich schon der endgültige Absturz? Bloße Schein-Göttlichkeit war der Gipfel seiner überweiterten Bahn gewesen, wahnhaft überweitert zu Jubel und Rausch, zur Erlebnisgröße der Macht und des Ruhmes, überweitert hierzu durch das, was er wahnhaft sein Dichten und seine Erkenntnis genannt hatte, wähnend, er bräuchte nur alles festzuhalten, um die Erinnerungsstärke niemalsendender Gegenwart zu ergattern, die niemalsendende Stete göttlicher Kindheit, und nun erwies sich eben dies als kindische Scheingöttlichkeit, als unzüchtige Göttlichkeitsanmaßung, ausgeliefert jedwedem Gelächter, dem nackten Gelächter der Weiber, dem Gelächter der betrogen-unbetrügbaren Mütter, deren Obhut zu entrinnen er zu schwach gewesen war, am schwächlichsten aber in seinem kindischen Götterspiel. Oh, nichts ist der Nacktheit des Gelächters entgegenzusetzen, kein Gegengelächter vermag dem Hohn standzuhalten, nichts bleibt übrig, als davor die eigene Nacktheit zu verhüllen, die Nacktheit des eigenen Antlitzes, und mit verhülltem Antlitz lag er in dem Tragsessel, verhüllt auch dann noch, als man schließlich doch, allen Aufenthalten zu Trotz, Stufe um Stufe sich vorwärtsschiebend, wahrlich wider alles Erwarten, aus dem höllischen Gassenschlund, aus der höllischen Lachenswildnis entlassen wurde, und ein ruhigeres Wiegen der Sänfte verriet, daß man wieder auf ebenerem Wege sich fortbewegte.
Freilich ging die Fortbewegung deshalb noch nicht wesentlich geschwinder vor sich; wiederum rückte man bloß Schritt für Schritt vorwärts, vielleicht sogar noch langsamer als vorher, wenn auch, wie deutlich spürbar, nicht mehr infolge böswilliger Hindernisse, sondern weil hier, merkbar am Menschengemurmel, merkbar am Menschengeruch, merkbar an der dickdunstiger werdenden Menschenwärme, sich das Gedränge neuerdings gesteigert hatte und offenbar sich noch weiter steigerte. Allein, obwohl dem Hörbereich der Elendsgasse entronnen, er glaubte die keifendgellenden Schimpfreden nach wie vor in seinem Ohre zu spüren, ja fast dünkte ihm, als wären sie ihm eigens nachgefolgt, erinnyengleich ihn als Jagdwild zu hetzen und zu quälen, nicht minder aber, um sich mit. dem ringsum aufkeimenden, rasch anschwellenden Massenlärm, der die wiedererreichte Nähe des Kaiserfestes anzeigte, zu vereinigen, auf daß die Hetzqual, einvermählt all diesem Jubellärm, all diesem Machtlärm, all diesem Rauschlärm, unverringert weiterwirke, und während ihm dies inne wurde, unabwehrbar die Stimmenmasse des Innen und Außen, so sehr unabwehrbar, daß ihn deren grelle Qual schier zum Vergehen brachte, wurde mit gleicher Unabwendbarkeit auch das Licht so unerträglich lärmend, so unerträglich grell, daß es scharf durch die noch geschlossenen Lider drang und diese zu einem Aufblinzeln nötigte, dessen zuerst widerwilliges Zögern sich allerdings sehr bald zu großgeöffnetem Entsetzen weitete: unterweltsfeurig strahlte es ihm entgegen, strahlte vom Ausgang der mäßig breiten Straße her, durch die sich, Kopf an Kopf, die Menschenmenge vorwärtsschob, entsetzenerregend grell strahlte es ihm von dorther in die Augen, strahlte wie ein magischer Lichtquell, der alles, was sich da bewegte, in ein schier zwangsläufigselbsttätiges Hinströmen verwandelte, beinahe hätte man meinen können, daß sogar auch die Sänfte selbsttätig mitschwamm, gleichsam mitgeschwemmt, kaum mehr, daß sie getragen wurde, und mit jedem Schritt, mit jedem Vorwärts gleiten ward die Macht jener geheimnisvollen, unheilsträchtigen, sinnlosgroßartigen Anziehungskraft deutlicher fühlbar, wurde furchtbarer, wurde dringlicher, wurde eindringlicher, wurde herznah und herznäher, anwachsend und anwachsend, um endlich mit einem Schlag sich zur Gänze zu enthüllen, enthüllt in dem Augenblick, da die Sänfte, geschoben, gezogen, getragen, hoch in ihrem schwimmenden Schweben, auf einmal an der Straßenausmündung sich befand, denn jählings wurde nun hier, feuerumkränzt und lärmumringt, bar jedes Lichtschattens, bar jedes Lautschattens, in schattenloser Licht- und Lärmblendung, schimmerstrahlend der kaiserliche Palast sichtbar, halb Stadthaus und halb Festung, in vulkanisch unterweltlichem Leuchten emporgehoben aus der Mitte eines schildförmig aufgebuckelten, fast kreisrunden Platzes, und dieser Platz war eine einzige Flut zusammengeballter Geschöpflichkeit, war zusammengeballter, formgewordener, formwerdender, brodelnder Menschenhumus, war eine Flut glosender Augen und glosender Blicke, die allesamt inbrünstig steif, gleichsam jeglichen anderen Inhaltes verlustig, auf das eineinzige, schattenlos glühende Ziel gerichtet waren, eine menschliche Feuerflut, gierig an dieser Feuerküste zu lecken.
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