Und man darf keinesfalls folgern, das Volk in seiner Gesamtheit sei schlecht, denn meine Gestalten sind nicht schlecht, sie sind nur unwissend und durch die Umwelt von schwerer Arbeit und Elend, in der sie leben, verdorben. Nur müßte man meine Romane lesen, sie verstehen, klar ihre Gesamtheit sehen, bevor man die fertigen, grotesken und gehässigen Urteile fällt, die über meine Person und über meine Werke im Umlauf sind. Ach, wenn man wüßte, wie sehr sich meine Freunde über die verblüffende Legende erheitern, mit der man die Menge belustigt! Wenn man wüßte, wie sehr der Blutsäufer, der blutdürstige Romanschriftsteller ein biederer Bürger ist, ein Mann des Studiums und der Kunst, der brav in seinem Winkel lebt und dessen einziger Ehrgeiz es ist, ein Werk zu hinterlassen, das so umfassend und so lebendig wie nur möglich ist. Ich verleugne keine Erzählung, ich arbeite und stelle es der Zeit und der Redlichkeit der Allgemeinheit anheim, mich endlich unter dem Wust der angehäuften Dummheiten zu entdecken.
Emile Zola
Paris, den 1. Januar 1877
Kapitel I
Gervaise hatte bis zwei Uhr morgens auf Lantier gewartet. Durch und durch fröstelnd, weil sie in der scharfen Luft am Fenster in der Unterjacke verharrt hatte, war sie dann, quer über das Bett hingeworfen, fiebernd und mit tränenüberströmten Wangen eingeschlafen. Seit acht Tagen schickte er sie, wenn sie aus dem »Veau à deux têtes«1 kamen, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen, mit den Kindern schlafen und erschien erst spät in der Nacht wieder, wobei er erzählte, er habe Arbeit gesucht. Während sie an diesem Abend nach seiner Heimkehr ausspähte, glaubte sie gesehen zu haben, wie er in das Tanzlokal »Grand Balcon«2 ging, dessen zehn flammende Fenster das schwarze Strömen der äußeren Boulevards mit der breiten Fläche einer Feuersbrunst erhellten. Und hinter ihm hatte sie die kleine Adèle bemerkt, eine Poliererin, die im selben Restaurant wie die Lantiers zu Abend aß und die mit schlenkernden Händen in fünf oder sechs Schritt Abstand hinterdrein gekommen war, als habe sie gerade seinen Arm losgelassen, damit sie nicht zusammen unter der grellen Helligkeit der Lampenglocken an der Tür vorbeigingen.
Als Gervaise gegen fünf Uhr, steif geworden und mit zerschlagenem Kreuz, erwachte, brach sie in Schluchzen aus. Lantier war nicht heimgekommen. Zum erstenmal schlief er nicht zu Hause. Sie blieb auf dem Bettrand unter dem verschossenen bemalten Leinwandfetzen sitzen, der von der mit einer Schnur an der Decke befestigten Stange herabfiel. Und langsam blickte sie sich mit ihren tränenumflorten Augen in dem elenden möblierten Zimmer um, das mit einer Nußbaumkommode, in der eine Schublade fehlte, drei Strohgeflechtstühlen und einem kleinen, schmierigen Tisch, auf dem ein angestoßener Wasserkrug herumstand, ausgestattet war. Für die Kinder hatte man ein eisernes Bett hineingestellt, das die Kommode versperrte und zwei Drittel des Raumes einnahm. Gervaises und Lantiers Koffer, der weit geöffnet in einer Ecke stand, zeigte seine leeren Flanken und ganz hinten einen alten Männerhut, der unter schmutzigen Hemden und Socken vergraben war, während auf den Lehnen der Möbel längs der Wände ein zerlöcherter Schal und eine vom Dreck zerfressene Hose hingen, der letzte Plunder, den die Kleiderhändler nicht haben wollten. Mitten auf dem Kamin lag zwischen zwei nicht zusammenpassenden Zinkleuchtern ein Bündel zartrosa Pfandscheine. Es war das feine Zimmer des Hotels, das Zimmer im ersten Stock, das auf den Boulevard hinausging.
Die beiden Kinder indessen schliefen, Seite an Seite auf demselben Kopfkissen liegend. Claude, der acht Jahre alt war, hatte seine Händchen nach oben aus der Decke herausgestreckt und atmete mit langsamen Zügen, während der erst vier Jahre alte Etienne lächelte und einen Arm um den Hals seines Bruders geschlungen hatte. Als ihre Mutter ihren in Tränen schwimmenden Blick auf ihnen ruhen ließ, überkam sie ein neuer Weinkrampf, sie preßte ein Taschentuch auf ihren Mund, um die leichten Schreie zu ersticken, die ihr entfuhren. Und ohne daran zu denken, ihre heruntergefallenen Pantoffeln wieder anzuziehen, kehrte sie barfuß zum Fenster zurück, wo sie, auf die Ellbogen gestützt, wie in der Nacht ihr Warten wiederaufnahm und in der Ferne die Bürgersteige musterte. Das Hotel lag am Boulevard de la Chapelle, links von der Barrière Poissonnière. Es war ein zweistöckiges baufälliges Gebäude, das bis zum zweiten Stock dunkelrot angestrichen war und vom Regen verfaulte Fensterläden hatte.
Oberhalb einer Laterne mit sternförmig gesprungenen Scheiben gelang es einem, zwischen den beiden Fenstern in großen gelben Buchstaben, von deren Gips der Schimmel Stücke vertilgt hatte, »Hotel Boncœur, Besitzer Marsoullier« zu lesen.
Gervaise, der die Laterne im Wege war, reckte sich in die Höhe, sie preßte ihr Taschentuch noch immer auf die Lippen. Sie schaute nach rechts in Richtung des Boulevard de Rochechouart, wo Gruppen von Fleischern mit blutigen Schürzen vor den Schlachthäusern standen; und der frische Wind trug zuweilen Gestank herüber, einen wilden Geruch nach hingemetzelten Tieren. Sie schaute nach links, überflog dabei das lange Band einer breiten Straße und verweilte fast gegenüber von ihr auf der weißen Masse des damals im Bau befindlichen Hospitals Lariboisière3. Langsam folgte sie von einem Ende des Horizonts zum anderen der Stadtzollmauer, hinter der sie nachts manchmal Schreie von Ermordeten hörte.
1 comment