Und sie durchwühlte die entlegenen Winkel, die finsteren, vor Feuchtigkeit und Schmutz schwarzen Ecken voller Angst, Lantiers Leiche, den Bauch von Messerstichen durchbohrt, dort zu entdecken. Als sie über dieses graue und endlose Gemäuer hinwegblickte, das die Stadt mit einer öden Einfassung umgab, gewahrte sie einen weiten Lichtschein, einen Sonnenstaub, der schon von dem morgendlichen Grollen von Paris erfüllt war. Aber immer wieder schweifte sie mit vorgestrecktem Hals zur Barrière Poissonnière zurück und betäubte sich damit, die ununterbrochene Woge von Menschen, Tieren und Karren, die von den Anhöhen des Montmartre und von La Chapelle herabwallte, zwischen den beiden gedrungenen Zollhäuschen hindurchfließen zu sehen. Dort war ein Herdengetrampel, eine Menge, die durch jähe Stockungen in Lachen auf dem Fahrdamm ausgebreitet wurde, ein endloser Vorbeimarsch von Arbeitern, die mit ihrem Handwerkszeug auf dem Rücken und ihrem Brot unter dem Arm zur Arbeit gingen. Und das Gewühl ergoß sich nach Paris hinein, wo es unaufhörlich versank. Als Gervaise mitten unter all diesen Leuten Lantier zu erkennen glaubte, beugte sie sich, auf die Gefahr hin, hinauszufallen, noch weiter vor; dann preßte sie ihr Taschentuch fester auf den Mund, um ihren Schmerz gleichsam in sich hineinzudrücken.
Eine junge heitere Stimme bewirkte, daß sie vom Fenster wegtrat.
»Ihr Mann ist wohl nicht da, Madame Lantier?«
»Allerdings nicht, Herr Coupeau«, antwortete sie und bemühte sich zu lächeln.
Es war ein Bauklempner, der ganz oben im Hotel ein Gelaß zu zehn Francs bewohnte. Er hatte seinen Beutel über die Schulter geworfen. Da er den Schlüssel in der Tür steckend gefunden hatte, war er als Freund hereingekommen.
»Sie wissen ja«, fuhr er fort, »ich arbeite jetzt da im Hospital ... Ein schöner Mai, nicht wahr? Ganz hübsch frisch heute früh.« Und er betrachtete Gervaises von den Tränen gerötetes Gesicht. Als er sah, daß das Bett nicht aufgedeckt war, schüttelte er sacht den Kopf; dann kam er bis an das Bettchen der Kinder, die immer noch mit ihren rosigen, pausbäckigen Gesichtern schliefen, und senkte die Stimme: »Na, ihr Mann ist unvernünftig, nicht wahr? – Grämen Sie sich nicht, Madame Lantier. Er beschäftigt sich viel mit Politik; als man neulich für Eugène Sue4 – einen tüchtigen Kerl, wie es scheint – gestimmt hat, war er wie ein Verrückter. Vielleicht hat er die Nacht auch mit Freunden zusammen verbracht und über diesen Lumpen Bonaparte5 geschimpft.«
»Nein, nein«, murmelte sie mühsam, »das, was Sie glauben, ist es nicht. Ich weiß, wo mein Mann ist ... Mein Gott, wir haben unseren Kummer wie alle Welt!«
Coupeau zwinkerte mit den Augen, um zu zeigen, daß er nicht auf diese Lüge hereinfalle. Und er brach auf, nachdem er ihr angeboten hatte, ihre Milch zu holen, falls sie nicht weggehen wolle: sie sei eine schöne und rechtschaffene Frau, sie könne auf ihn rechnen, wenn sie einmal in Not sein sollte.
Sobald er sich entfernt hatte, stellte sich Gervaise wieder ans Fenster.
An der Zollschranke ging das Herdengetrampel in der Morgenkälte weiter. Man erkannte die Schlosser an ihren blauen Jacken, die Maurer an ihren weißen Leinenhosen und die Maler an ihren Überziehern, unter denen lange Kittel hervorsahen. Von weitem wahrte diese Menge eine gipsartige Verwischtheit, einen neutralen Ton, in dem verschossenes Blau und schmutziges Grau vorherrschten. Ab und zu blieb ein Arbeiter stehen und zündete seine Pfeife wieder an, während rings um ihn die anderen stets weitergingen ohne ein Lachen, ohne ein an einen Kumpel gerichtetes Wort, die Wangen erdfahl, das Gesicht hingestreckt nach Paris, das sie einen nach dem anderen durch die gähnende Rue du FaubourgPoissonnière verschlang. An den beiden Ecken der Rue des Poissonniers verlangsamten unterdessen an der Tür der beiden Weinhändler, die ihre Fensterläden abnahmen, Männer den Schritt; und bevor sie eintraten, blieben sie mit schiefen Blicken auf Paris und schlaffen Armen am Rande des Bürgersteiges stehen, schon gewonnen für einen Tag des Bummelns. Vor den Schanktischen spendierten Gruppen unter sich Lagen, vergaßen dort im Stehen die Zeit, füllten die Räume, spuckten, husteten und spülten sich mit hintergekippten Gläschen die Kehle.
Gervaise spähte nach links in der Straße nach Vater Colombes Lokal, wo sie Lantier gesehen zu haben meinte, als eine dicke Frau mit bloßem Kopf und Schürze sie von der Mitte des Fahrdamms aus anrief:
»Hören Sie, Madame Lantier, Sie sind ja sehr früh auf!« Gervaise beugte sich vor.
»Ach, Sie sind es, Madame Boche! – Oh, ich habe einen Haufen Arbeit heute!«
»Ja, es macht sich nichts von allein, nicht wahr?«
Und es entspann sich eine Unterhaltung vom Fenster zum Bürgersteig. Frau Boche war die Concierge6 des Hauses, dessen Erdgeschoß das Wirtshaus »Veau à deux têtes« einnahm. In ihrer Loge hatte Gervaise öfter auf Lantier gewartet, um sich nicht allein mit all den Männern, die nebenan aßen, zu Tisch zu setzen.
1 comment