»Herr Sommer - Herr
Medizinalrat Doktor Stiebing, unser Kreisarzt.«
Damit führte er mich aus dem Lokal und auf das Auto zu.
Ich aber folgte ihm wie ein Schaf seinem Schlächter. Der Kreisarzt!
Das war kein Zufall mehr, das war eine mir listig gestellte Falle! Verdammte Magda! Sie wollte
mich reinlegen, sie handelte schnell, das mußte ich zugeben. Aber auch ich war klug, ich mußte
mich verstellen, listig sein, Scharfsinn mit Scharfsinn übertrumpfen.
»Nun«, lachte ich plötzlich heiter, »zwei Ärzte, die werden ja wohl mit einem armen Berauschten
fertig werden, was? Machen Sie es gnädig mit mir, meine Herren!« Damit setzte ich mich hinten in
den Wagen, während die beiden anderen Herren, ebenfalls lachend, vorn Platz nahmen. Wir wollten
schon losfahren, als Elinor aus dem Hause gelaufen kam. Sie trug in den Händen ein häßliches, in
Zeitungspapier gewickeltes Paket, sie reichte es mir in den offenen Wagen. Laut sagte sie: »Das
sind Ihre Schuhe, die Sie neulich nachts hier vergessen haben!« Höhnisch lachend sah sie mich mit
ihrem weißen, großen Gesicht und den farblosen Augen an. Ihr Mund war sehr rot.
Nach einem betretenen Schweigen fragte der Arzt: »Können wir jetzt fahren?«
Ich antwortete: »Ja«, und der Wagen fuhr los.
Ich bin völlig außerstande, meine Stimmung während dieser Fahrt zu schildern. Abgrundtiefe
Verzweiflung wechselte mit einer lähmenden Apathie, die mich selbst in diesem Zustande noch
erschreckte. Es war, als läge ich in einem schweren Schreckenstraum gefangen, jeden Augenblick
nahe dem Erwachen, und konnte doch nicht wach werden, geriet in immer tiefere, immer grausigere
Schrecknisse. Neben mir auf dem Sitz lag das Paket mit den Schuhen, das Zeitungspapier hatte sich
geöffnet, und ich sah sie da liegen, mit verwischtem Staub beschmutzt, eine Sohle sah mich an:
einfach abscheulich. Abscheulich diese Tat der hübschen Elinor, würdig einer Königin des
Schnapses.
Ja, dachte ich, so narrt und quält der Alkohol seine Jünger. Solcher Überraschungen ist
nur er fähig. Man meint, sicher zu sein, sich gut verstellt, das Schlimmste überwunden zu haben,
und plötzlich steckt er seine grinsende Teufelsfratze hervor, zerfleischt mit seinen Klauen deine
Brust, läßt dich erbeben, vernichtet deine Würde... La reine d'alcool - sehe ich dich je wieder,
bekommst du keine gute Stunde mit mir, Elinor!
Ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem Blick vergewisserte ich mich, daß die beiden Herren vor
mir in ein eifriges Gespräch vertieft waren; ich zog die Flasche aus der Tasche, entkorkte sie
vorsichtig und tat ein paar kräftige Schlucke. Aber ich hatte nicht an den Rückspiegel über dem
Führersitz gedacht.
»Nicht zuviel jetzt, und nicht zu hastig, mein lieber Herr Sommer«, sagte Doktor Mansfeld und hob
vom Steuer eine mahnende Hand.
»Wir hätten nachher gerne noch ein vernünftiges Wort mit Ihnen gesprochen!«
Dieser Schurke, dieser glatte medizinische Schurke! Jetzt, da er mich in seinem Wagen hatte, ließ
er die Maske fallen: nicht nach meinem Heim wurde ich gefahren, sondern zu einer ärztlichen
Besprechung, bei der ganz zufällig auch der Medizinalrat als Kreisarzt zur Hand war!
Von da an war ich ganz ruhig und gesammelt. Der eben getrunkene Schnaps verlieh mir neue Kraft
und Konzentration. Ich hatte ein festes Ziel vor Augen: diese Unterredung fürs erste unter allen
Umständen zu vereiteln. Später, unter für mich günstigeren Umständen gerne, aber heute, so
überlistet, auf Bestellung meiner Gnädigsten: Da muß ich schon danken, meine Liebe!
Das Auto fuhr und fuhr, schon waren wir im Außenbezirk unserer Stadt, und noch immer hatte sich
keine Möglichkeit geboten, als Teilnehmer an dieser Fahrt auszuscheiden. Dann aber kam aus dem
Fuhrhof von Hases einer seiner großen Lastzüge mit zwei Anhängern etwas überraschend hervor.
Schon, während der Doktor den Wagen auf die linke Straßenseite hinüberriß, dabei scharf bremsend,
hatte ich leise die Wagentür geöffnet, nun, da der Lastzug passiert war, und der Arzt schon
wieder Gas gab, sprang ich leicht ab, einen Augenblick taumelte ich, rannte vorwärts neben dem
Wagen, drohte zu fallen und hatte mich gefangen. Ich stand, winkte mit der Hand dem Wagen nach,
den Passanten vorgebend, dieses plötzliche Aussteigen sei mit Wissen der Insassen geschehen, und
schritt dann rasch, rechts von der Straße abbiegend, am Zaun des Fuhrhofes hoch, zu einer kleinen
verfallenen Kolonie, die man in der Stadt nur Das Scheunenviertel nannte. Ich schüttelte
mich innerlich vor Lachen, daß die beiden weisen Ärzte von ihrer Expedition nichts heimbrachten
als die Schuhe des Trinkers.
Am unangenehmsten in meiner augenblicklichen Situation war es, daß ich praktisch ohne einen
Pfennig Geld auf der Straße stand. Nach Haus an meinen Schreibtisch, wo wenigstens etwas lag,
konnte ich nicht gehen, denn ich mußte mit Bestimmtheit annehmen, daß die Ärzte, sobald sie mein
Fehlen merkten, dort zuerst nach mir sehen und Madame Magda Bericht erstatten würden. Für einen
Bankbesuch war es zu spät, die Schalter waren schon seit zwei Stunden geschlossen; eben, als ich
dies auf meiner Uhr festgestellt hatte, fiel mir ein, daß ich ja noch diese Uhr besaß, dazu einen
schweren goldenen Siegelring und schließlich einen auch ganz durablen Ehering, der nach meinem
heutigen Auftritt mit Magda auch seinen eigentlichen Sinn verloren hatte. Ich war also
keinesfalls von allen Mitteln entblößt, und getrost lenkte ich meine Schritte in die eine enge
und schmutzige Gasse, die durch das Scheunenviertel führte.
Diese Kolonie war in den Elendsjahren nach dem Weltkriege aus einem Barackenlager entstanden. Die
ehemaligen Baracken waren durch mancherlei An- und Umbauten verändert, aber nicht verschönert
worden. Dazwischen standen kleine rote Steinhäuschen, die schon wieder verfielen, ehe sie noch
recht fertig geworden waren. Zögernd ging ich die Gasse entlang, selbst sehr unsicher, was ich
hier eigentlich sollte und wollte, als mein Blick auf ein Fenster in einem solchen Steinkasten
fiel, in dem das bekannte rote Schild hing, das meist Vermietungen anzeigt. Ich trat näher und
las, daß hier tatsächlich ein behaglich möbliertes Zimmer an einen anständigen Herrn zu vermieten
sei. Eine Klingel gab es nicht an diesem Haus, ich trat durch eine offene Tür und geriet sofort
in eine Küche, die ganz vom Wrasen kochender Wäsche erfüllt war.
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