Jedenfalls sind noch nicht alle Spuren davon verschwunden. Bei wenigstens vierzig nordamerikanischen Stämmen hat der Mann, der eine älteste Schwester heirathet, das Recht, alle ihre Schwestern ebenfalls zu Frauen zu nehmen, sobald sie das erforderliche Alter erreichen: Rest der Gemeinsamkeit der Männer für die ganze Reihe von Schwestern. Und von den Halbinsel-Kaliforniern (Oberstufe der Wildheit) erzählt Bancroft, daß sie gewisse Festlichkeiten haben, wo mehrere »Stämme« zusammenkommen zum Zweck des unterschiedslosen geschlechtlichen Verkehrs. Es sind offenbar Gentes, die in diesen Festen die dunkle Erinnerung bewahren an die Zeit, wo die Frauen Einer Gens alle Männer der andern zu ihren gemeinsamen Ehemännern hatten und umgekehrt. Dieselbe Sitte herrscht noch in Australien. Bei einigen Völkern kommt es vor, daß die älteren Männer, die Häuptlinge und Zauberer-Priester die Weibergemeinschaft für sich ausbeuten und die meisten Frauen für sich monopolisiren; aber dafür müssen sie bei gewissen Festen und großen Volksversammlungen die alte Gemeinschaft wieder in Wirklichkeit treten und ihre Frauen sich mit den jungen Männern ergötzen lassen. Eine ganze Reihe von Beispielen solcher periodischen Saturnalienfeste, wo der alte freie Geschlechtsverkehr wieder auf kurze Zeit in Kraft tritt, bringt Westermarck p. 28-29: bei den Hos, den Santals, den Pandschas und Kotars in Indien, bei einigen afrikanischen Völkern u. s. w. Merkwürdiger Weise zieht Westermarck hieraus den Schluß, dies sei Ueberbleibsel, nicht der von ihm geleugneten Gruppenehe, sondern – der dem Urmenschen mit den andern Thieren gemeinsamen Brunstzeit.

Wir kommen hier auf die vierte große Entdeckung Bachofen's, die Entdeckung der weitverbreiteten Uebergangsform von der Gruppenehe zur Paarung. Was Bachofen als eine Buße für Verletzung der alten Göttergebote darstellt: die Buße, womit die Frau das Recht auf Keuschheit erkauft, ist in der That nur mystischer Ausdruck für die Buße, womit die Frau sich aus der alten Männergemeinschaft loskauft und das Recht erwirbt, sich nur einem Mann hinzugeben. Diese Buße besteht in einer beschränkten Preisgebung: die babylonischen Frauen mußten einmal im Jahr sich im Tempel der Mylitta preisgeben; andere vorderasiatische Völker schickten ihre Mädchen Jahrelang in den Tempel der Anaitis, wo sie mit selbstgewählten Günstlingen der freien Liebe zu pflegen hatten, ehe sie heirathen durften; ähnliche religiös verkleidete Gebrauche sind fast allen asiatischen Völkern zwischen Mittelmeer und Ganges gemein. Das Sühnopfer für den Loskauf wird im Verlauf der Zeit immer leichter, wie schon Bachofen bemerkt: »Die jährlich wiederholte Darbringung weicht der einmaligen Leistung, auf den Hetärismus der Matronen folgt jener der Mädchen, auf die Ausübung während der Ehe die vor derselben, auf die wahllose Ueberlassung an alle die an gewisse Personen.« (Mutterrecht, p. XIX.) Bei andern Völkern fehlt die religiöse Verkleidung; bei einigen – Thrakern, Kelten &c. im Alterthum, bei vielen Ureinwohnern Indiens, bei malaiischen Völkern, bei Südseeinsulanern und vielen amerikanischen Indianern noch heute – genießen die Mädchen bis zu ihrer Verheiratung der größten geschlechtlichen Freiheit. Namentlich fast überall in Südamerika, wovon Jeder, der dort etwas ins Innere gekommen, Zeugniß ablegen kann. So erzählt Agassiz ( A Journey in Brazil, Boston and New York 1886, p. 266) von einer reichen Familie, von indianischer Abstammung; als er mit der Tochter bekannt gemacht wurde, frug er nach ihrem Vater, in der Meinung dies sei der Mann der Mutter, der als Offizier im Krieg gegen Paraguay stand; aber die Mutter antwortete lächelnd: naõ tem pai, he filha da fortuna, sie hat keinen Vater, sie ist ein Zufallskind. »In dieser Art sprechen indianische oder halbblütige Frauen jederzeit ohne Scham oder Tadel von ihren unehelichen Kindern; und dies ist weit entfernt davon ungewöhnlich zu sein, eher scheint das Gegentheil Ausnahme. Die Kinder ... kennen oft nur ihre Mutter, denn alle Sorge und Verantwortlichkeit fällt auf sie; von ihrem Vater wissen sie nichts; auch scheint es der Frau nie einzufallen, daß sie oder ihre Kinder irgend welchen Anspruch an ihn haben.« Was dem Civilisirten hier befremdlich vorkommt, ist einfach die Regel nach Mutterrecht und in der Gruppenehe.

Bei wieder andern Völkern nehmen die Freunde und Verwandten des Bräutigams oder die Hochzeitsgäste bei der Hochzeit selbst das altüberkommene Recht auf die Braut in Anspruch, und der Bräutigam kommt erst zuletzt an die Reihe; so auf den Balearen und bei den afrikanischen Augilern im Alterthum, bei den Bareas in Abyssinien noch jetzt. Bei wieder andern vertritt eine Amtsperson, der Stammes- oder Gentilvorstand, Kazique, Schamane, Priester, Fürst oder wie er heißen mag, die Gemeinschaft, und übt bei der Braut das Recht der ersten Nacht aus. Trotz aller neuromantischen Weißwaschungen besteht dies jus primae noctis als Rest der Gruppenehe noch heutzutage bei den meisten Einwohnern des Alaskagebiets (Bancroft, Native Races, I, 81), bei den Tahus in Nordmexiko ( ib. p. 584) und andern Völkern; und hat es wenigstens in ursprünglich keltischen Ländern, wo es direkt aus der Gruppenehe überliefert worden, im ganzen Mittelalter bestanden, z. B. in Aragonien. Während in Kastilien der Bauer nie leibeigen war, herrschte in Aragonien die schmählichste Leibeigenschaft bis zum Schiedsspruch Ferdinands des Katholischen von 1486. In diesem Aktenstück heißt es: »Wir urtheilen und erklären, daß die vorerwähnten Herren ( senyors, Barone) ... auch nicht können die erste Nacht, wo der Bauer eine Frau nimmt, bei ihr schlafen, oder zum Zeichen der Herrschaft, in der Hochzeitsnacht, nachdem die Frau sich zu Bette gelegt, über es und über die erwähnte Frau hinwegschreiten; noch können die vorerwähnten Herren sich der Tochter oder des Sohnes des Bauern bedienen, mit Bezahlung oder ohne Bezahlung, gegen deren Willen.« (Citirt im katalanischen Original bei Sugenheim, Leibeigenschaft, Petersburg 1861, p. 35).

Bachofen hat ferner unbedingt Recht, wenn er durchweg behauptet, der Uebergang von dem was er »Hetärismus« oder »Sumpfzeugung« nennt, zur Einzelehe sei zu Stande gekommen wesentlich durch die Frauen.