Auf den Sandwichinseln (Hawaii) bestand noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Form der Familie, die genau solche Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten lieferte wie das amerikanisch-altindische Verwandtschaftssystem sie fordert. Aber merkwürdig! Das Verwandtschaftssystem, das in Hawaii in Geltung war, stimmte wieder nicht mit der dort tatsächlich bestehenden Familienform. Dort nämlich sind alle Geschwisterkinder, ohne Ausnahme, Brüder und Schwestern, und gelten für die gemeinsamen Kinder, nicht nur ihrer Mutter und deren Schwestern, oder ihres Vaters und dessen Brüder, sondern aller Geschwister ihrer Eltern ohne Unterschied. Wenn also das amerikanische Verwandtschaftssystem eine in Amerika nicht mehr bestehende, primitivere Form der Familie voraussetzt, die wir in Hawaii wirklich noch vorfinden, so verweist uns anderseits das hawaiische Verwandtschaftssystem auf eine noch ursprünglichere Familienform, die wir zwar nirgends mehr als bestehend nachweisen können, die aber bestanden haben muß, weil sonst das entsprechende Verwandtschaftssystem nicht hätte entstehn können. »Die Familie, sagt Morgan, ist das aktive Element; sie ist nie stationär, sondern schreitet vor von einer niedrigeren zu einer höheren Form, im Maß wie die Gesellschaft von niederer zu höherer Stufe sich entwickelt. Die Verwandtschaftssysteme dagegen sind passiv; nur in langen Zwischenräumen registriren sie die Fortschritte, die die Familie im Lauf der Zeit gemacht hat, und erfahren nur dann radikale Aenderung, wenn die Familie sich radikal verändert hat.« – »Und«, setzt Marx hinzu, »ebenso verhält es sich mit politischen, juristischen, religiösen, philosophischen Systemen überhaupt.« Während die Familie fortlebt, verknöchert das Verwandtschaftssystem, und während dies gewohnheitsmäßig fortbesteht, entwächst ihm die Familie. Mit derselben Sicherheit aber, mit der Cuvier aus den bei Paris gefundnen Marsupialknochen eines Thierskeletts schließen konnte, daß dies einem Beutelthier gehörte und daß dort einst ausgestorbne Beutelthiere gelebt, mit derselben Sicherheit können wir aus einem historisch überkommenen Verwandtschaftssystem schließen, daß die ihm entsprechende, ausgestorbne Familienform bestanden hat.
Die eben erwähnten Verwandtschaftssysteme und Familienformen unterscheiden sich von den jetzt herrschenden dadurch, daß jedes Kind mehrere Väter und Mütter hat. Bei dem amerikanischen Verwandtschaftssystem, dem die hawaiische Familie entspricht, können Bruder und Schwester nicht Vater und Mutter desselben Kindes sein; das hawaiische Verwandtschaftssystem aber setzt eine Familie voraus, in der dies im Gegentheil die Regel war. Wir werden hier in eine Reihe von Familienformen versetzt, die den bisher gewöhnlich als allein geltend angenommenen direkt widersprechen. Die hergebrachte Vorstellung kennt nur die Einzelehe, daneben Vielweiberei Eines Mannes, allenfalls noch Vielmännerei Einer Frau, und verschweigt dabei, wie es dem moralisirenden Philister ziemt, daß die Praxis sich über diese von der offiziellen Gesellschaft gebotenen Schranken stillschweigend aber ungenirt hinwegsetzt. Das Studium der Urgeschichte dagegen führt uns Zustände vor, wo Männer in Vielweiberei, und ihre Weiber gleichzeitig in Vielmännerei leben, und die gemeinsamen Kinder daher auch als ihnen Allen gemeinsam gelten; Zustände, die selbst wieder bis zu ihrer schließlichen Auflösung in die Einzelehe eine ganze Reihe von Veränderungen durchmachen. Diese Veränderungen sind der Art, daß der Kreis, den das gemeinsame Eheband umfaßt, und der ursprünglich sehr weit war, sich mehr und mehr verengert, bis er schließlich nur das Einzelpaar übrig läßt, das heute vorherrscht.
Indem Morgan auf diese Weise die Geschichte der Familie rückwärts konstruirt, kommt er in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl seiner Kollegen auf einen Urzustand, wo unbeschränkter Geschlechtsverkehr innerhalb eines Stammes herrschte, so daß jede Frau jedem Mann, und jeder Mann jeder Frau gleichmäßig gehörte. Von einem solchen Urzustand ist schon seit dem vorigen Jahrhundert gesprochen worden, aber nur in allgemeinen Redensarten; erst Bachofen, und es ist dies eines seiner großen Verdienste, nahm ihn ernst und suchte nach Spuren dieses Zustandes in den geschichtlichen und religiösen Ueberlieferungen. Wir wissen heute, daß diese von ihm aufgefundnen Spuren keineswegs auf einer Gesellschaftsstufe des regellosen Geschlechtsverkehrs zurückführen, sondern auf eine weit spätere Form, die Gruppenehe. Jene primitive Gesellschaftsstufe, falls sie wirklich bestanden hat, gehört einer so weit zurückliegenden Epoche an, daß wir schwerlich erwarten dürfen, in sozialen Fossilien, bei zurückgebliebenen Wilden, direkte Beweise für ihre einstige Existenz zu finden. Bachofen's Verdienst besteht eben darin, diese Frage in den Vordergrund der Untersuchung gestellt zu haben.[Fußnote: Wie wenig Bachofen verstand, was er entdeckt oder vielmehr errathen hatte, beweist er durch die Bezeichnung dieses Urzustandes als Hetärismus. Hetärismus bezeichnete den Griechen, als sie das Wort einführten, Verkehr von Männern, unverheiratheten oder in Einzelehe lebenden, mit unverheiratheten Weibern, setzt stets eine bestimmte Form der Ehe voraus, außerhalb der dieser Verkehr stattfindet, und schließt die Prostitution wenigstens schon als Möglichkeit ein. In einem andern Sinn ist das Wort auch nie gebraucht wurden, und in diesem Sinn gebrauche ich es mit Morgan. Bachofen's höchst bedeutende Entdeckungen werden überall bis in's Unglaubliche vermystifizirt durch seine Einbildung, die geschichtlich entstandnen Beziehungen von Mann und Weib hätten ihre Quelle in den jedesmaligen religiösen Vorstellungen der Menschen, nicht in ihren wirklichen Lebensverhältnissen.]
Es ist neuerdings Mode geworden, diese Anfangsstufe des menschlichen Geschlechtslebens wegzuleugnen. Man will der Menschheit diese »Schande« ersparen. Und zwar beruft man sich, außer auf den Mangel jedes direkten Beweises, besonders auf das Beispiel der übrigen Thierwelt; aus dieser hat Letourneau ( Évolution du mariage et de la famille, 1888) zahlreiche Thatsachen zusammengestellt, wonach auch hier ein durchaus ungeregelter Geschlechtsverkehr einer niedrigen Stufe angehören soll. Aus allen diesen Thatsachen kann ich aber nur den Schluß ziehn, daß sie, für den Menschen und seine urzeitlichen Lebensverhältnisse, absolut nichts beweisen. Die Paarungen für längere Zeit bei Wirbelthieren erklären sich hinreichend aus physiologischen Ursachen, z. B. bei Vögeln durch die Hülfsbedürftigkeit des Weibchens während der Brütezeit; die bei Vögeln vorkommenden Beispiele treuer Monogamie beweisen nichts für die Menschen, da diese eben nicht von Vögeln abstammen. Und wenn strenge Monogamie der Gipfel aller Tugend ist, so gebührt die Palme dem Bandwurm, der in jedem seiner 50-200 Proglottiden oder Leibesabschnitte einen vollständigen weiblichen und männlichen Geschlechtsapparat besitzt und seine ganze Lebenszeit damit zubringt, in jedem dieser Abschnitte sich mit sich selbst zu begatten. Beschränken wir uns aber auf die Säugethiere, so finden wir da alle Formen des Geschlechtslebens, Regellosigkeit, Anklänge der Gruppenehe, Vielweiberei, Einzelehe; nur die Vielmännerei fehlt, die konnten nur Menschen fertig bringen. Selbst unsre nächsten Verwandten, die Vierhänder, bieten uns alle möglichen Verschiedenheiten in der Gruppirung von Männchen und Weibchen; und wenn wir noch engere Grenzen ziehn, und nur die vier menschenähnlichen Affen betrachten, so weiß Letourneau uns nur zu sagen, daß sie bald monogam, bald polygam sind, während Saussure bei Giraud-Teulon behauptet, sie seien monogam. Auch die von Westermarck ( The History of Human Marriage, London 1891) beigebrachten neueren Behauptungen von Monogamie der menschenähnlichen Affen sind noch lange keine Beweise. Kurzum, die Nachrichten sind der Art, daß der ehrliche Letourneau zugibt: »Uebrigens besteht bei den Säugethieren durchaus kein strenges Verhältniß zwischen dem Grad der intellektuellen Entwicklung und der Form des Geschlechtsverkehrs.« Und Espinas ( Des Sociétés animales, 1877) sagt geradezu: »Die Horde ist die höchste soziale Gruppe, die wir bei den Thieren beobachten können.
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