Das Vaterrecht hat den Sieg errungen über das Mutterrecht, die »Götter jungen Stamms«, wie sie von den[475] Erinnyen selbst bezeichnet werden, siegen über die Erinnyen, und diese lassen sich schließlich auch bereden, im Dienst der neuen Ordnung ein neues Amt zu übernehmen.
Diese neue, aber entschieden richtige Deutung der »Oresteia« ist eine der schönsten und besten Stellen im ganzen Buch, aber sie beweist gleichzeitig, daß Bachofen mindestens ebensosehr an die Erinnyen, Apollo und Athene glaubt, wie seinerzeit Äschylos; er glaubt eben, daß sie in der griechischen Heroenzeit das Wunder vollbrachten, das Mutterrecht zu stürzen durch das Vaterrecht. Daß eine solche Auffassung, wo die Religion als der entscheidende Hebel der Weltgeschichte gilt, schließlich auf reinen Mystizismus hinauslaufen muß, ist klar. Es ist daher eine saure und keineswegs immer lohnende Arbeit, sich durch den dicken Quartanten Bachofens durchzuarbeiten. Aber alles das schmälert nicht sein bahnbrechendes Verdienst; er, zuerst, hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachwels, daß die altklassische Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu verstoßen; daß diese Sitte nicht verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen in einer beschränkten Preisgebung, wodurch die Frauen das Recht auf Einzelehe erkaufen mußten; daß daher die Abstammung ursprünglich nur in weiblicher Linie, von Mutter zu Mutter gerechnet werden konnte; daß diese Alleingültigkeit der weiblichen Linie sich noch lange in die Zeit der Einzelehe mit gesicherter oder doch anerkannter Vaterschaft hinein erhalten hat; und daß diese ursprüngliche Stellung der Mütter, als der einzigen sichern Eltern ihrer Kinder, ihnen und damit den Frauen überhaupt eine höhere gesellschaftliche Stellung sicherte, als sie seitdem je wieder besessen haben. Diese Sätze hat Bachofen zwar nicht in dieser Klarheit ausgesprochen – das verhinderte seine mystische Anschauung. Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollständige Revolution.
Bachofens dicker Quartant war deutsch geschrieben, d.h. in der Sprache der Nation, die sich damals am wenigsten für die Vorgeschichte der heutigen Familie interessierte. Er blieb daher unbekannt. Sein nächster Nachfolger auf demselben Gebiet trat 1865 auf, ohne von Bachofen je gehört zu haben.
Dieser Nachfolger war J. F. McLennan, das grade Gegenteil seines Vorgängers. Statt des genialen Mystikers haben wir hier den ausgetrockneten Juristen; statt der überwuchernden dichterischen Phantasie die plausiblen Kombinationen des plädierenden Advokaten. McLennan findet bei vielen wilden, barbarischen und selbst zivilisierten Völkern alter und neuer Zeit eine Form der Eheschließung, bei der der Bräutigam, allein oder mit seinen Freunden, die Braut ihren Verwandten scheinbar gewaltsam rauben muß.[476] Diese Sitte muß das Überbleibsel sein einer früheren Sitte, worin die Männer eines Stammes sich ihre Frauen auswärts, von anderen Stämmen, wirklich mit Gewalt raubten. Wie entstand nun diese »Raubehe«? Solange die Männer hinreichend Frauen im eignen Stamm finden konnten, war durchaus kein Anlaß dazu vorhanden. Nun finden wir aber ebenso häufig, daß bei unentwickelten Völkern gewisse Gruppen existieren (die um 1865 noch häufig mit den Stämmen selbst identifiziert wurden), innerhalb deren die Heirat verboten war, so daß die Männer ihre Frauen und die Frauen ihre Männer außerhalb der Gruppe zu nehmen genötigt sind, während bei andern die Sitte besteht, daß die Männer einer gewissen Gruppe genötigt sind, ihre Frauen nur innerhalb ihrer eignen Gruppe zu nehmen. McLennan nennt die ersteren exogam, die zweiten endogam und konstruiert nun ohne weiteres einen starren Gegensatz zwischen exogamen und endogamen »Stämmen«. Und obwohl seine eigne Untersuchung der Exogamie ihn mit der Nase darauf stößt, daß dieser Gegensatz in vielen, wo nicht den meisten oder gar allen Fällen nur in seiner Vorstellung besteht, so macht er ihn doch zur Grundlage seiner gesamten Theorie. Exogame Stämme können hiernach ihre Frauen nur von andern Stämmen beziehen; und bei dem der Wildheit entsprechenden permanenten Kriegszustand zwischen Stamm und Stamm habe dies nur geschehen können durch Raub.
McLennan fragt nun weiter: Woher diese Sitte der Exogamie? Die Vorstellung der Blutsverwandtschaft und Blutschande könne nichts damit zu tun haben, das seien Dinge, die sich erst viel später entwickelt. Wohl aber die unter Wilden vielverbreitete Sitte, weibliche Kinder gleich nach der Geburt zu töten. Dadurch entstehe ein Überschuß von Männern in jedem einzelnen Stamm, dessen notwendige nächste Folge sei, daß mehrere Männer eine Frau in Gemeinschaft besäßen: Vielmännerei. Die Folge hiervon sei wieder, daß man wußte, wer die Mutter eines Kindes war, nicht aber, wer der Vater, daher: Verwandtschaft gerechnet nur in der weiblichen Linie mit Ausschluß der männlichen – Mutterrecht. Und eine zweite Folge des Mangels an Frauen innerhalb des Stammes – ein Mangel, gemildert, aber nicht beseitigt durch die Vielmännerei – war eben die systematische, gewaltsame Entführung von Frauen fremder Stämme.
»Da Exogamie und Vielmännerei aus einer und derselben Ursache entspringen – dem Mangel der Gleichzahl zwischen beiden Geschlechtern –, müssen wir alle exogamen Racen als ursprünglich der Vielmännerei ergeben ansehn... Und deshalb müssen wir es für unbestreitbar ansehn, daß unter exogamen Racen das erste Verwandtschaftssystem dasjenige war, welches Blutbande nur auf der Mutterseite kennt.« (McLennan, »Studies in Ancient History«, 1886. »Primitive Marriage«, p. 124.)
Es ist das Verdienst McLennans, auf die allgemeine Verbreitung und große Bedeutung dessen, was er Exogamie nennt, hingewiesen zu haben. Entdeckt hat er die Tatsache der exogamen Gruppen keineswegs, und[477] verstanden hat er sie erst recht nicht. Von früheren, vereinzelten Notizen bei vielen Beobachtern – eben den Quellen McLennans – abgesehn, hatte Latham (»Descriptive Ethnology«, 1859) diese Institution bei den indischen Magars genau und richtig beschrieben und gesagt, daß sie allgemein verbreitet sei und in allen Weltteilen vorkomme – eine Stelle, die McLennan selbst anführt. Und unser Morgan hatte sie ebenfalls bereits 1847 in seinen Briefen über die Irokesen (im »American Review«) und 1851 in »The League of the Iroquois« bei diesem Volksstamm nachgewiesen und richtig beschrieben, während, wie wir sehn werden, der Advokatenverstand McLennans hier eine weit größere Verwirrung angerichtet hat als Bachofens mystische Phantasie auf dem Gebiet des Mutterrechts. Es ist McLennans ferneres Verdienst, die mutterrechtliche Abstammungsordnung als die ursprüngliche erkannt zu haben, obwohl ihm, wie er später auch anerkennt, Bachofen hier zuvorgekommen war. Aber auch hier ist er nicht im klaren; er spricht stets von »Verwandtschaft nur in weiblicher Linie« (kinship through females only) und wendet diesen für eine frühere Stufe richtigen Ausdruck fortwährend auch auf spätere Entwicklungsstufen an, wo Abstammung und Vererbung zwar noch ausschließlich nach weiblicher Linie gerechnet, aber Verwandtschaft auch nach männlicher Seite anerkannt und ausgedrückt wird. Es ist die Beschränktheit des Juristen, der sich einen festen Rechtsausdruck schafft und diesen unverändert fortanwendet auf Zustände, die ihn inzwischen unanwendbar gemacht.
Bei all ihrer Plausibilität, scheint es, kam die Theorie McLennans doch ihrem eignen Verfasser nicht zu fest gegründet vor.
1 comment