Wenigstens fällt ihm selbst auf, es sei
»bemerkenswert, daß die Form des« (scheinbaren) »Frauenraubs am ausgeprägtesten und ausdruckvollsten ist grade bei den Völkern, wo männliche Verwandtschaft« (soll heißen Abstammung in männlicher Linie) »herrscht« (S. 140).
Und ebenso:
»Es ist eine sonderbare Tatsache, daß, soviel wir wissen, der Kindermord nirgendswo systematisch betrieben wird, wo die Exogamie und die älteste Verwandtschaftsform nebeneinander bestehn« (S. 146).
Beides Tatsachen, die seiner Erklärungsweise direkt ins Gesicht schlagen, und denen er nur neue, noch verwickeltere Hypothesen entgegenhalten kann.
Trotzdem fand seine Theorie in England großen Beifall und Anklang: McLennan galt hier allgemein als Begründer der Geschichte der Familie und als erste Autorität auf diesem Gebiet. Sein Gegensatz von exogamen und endogamen »Stämmen«, so sehr man auch einzelne Ausnahmen und Modifikationen konstatierte, blieb doch die anerkannte Grundlage der herrschenden Anschauungsweise und wurde die Scheuklappe, die jeden freien Überblick über das untersuchte Gebiet und damit jeden entscheidenden[478] Fortschritt unmöglich machte. Der in England und nach englischem Vorbild auch anderswo üblich gewordenen Überschätzung McLennans ist es Pflicht, die Tatsache entgegenzuhalten, daß er mit seinem rein mißverständlichen Gegensatz von exogamen und endogamen »Stämmen« mehr Schaden angerichtet, als er durch seine Forschungen genützt hat.
Indes kamen schon bald mehr und mehr Tatsachen ans Licht, die in seinen zierlichen Rahmen nicht paßten. McLennan kannte nur drei Formen der Ehe: Vielweiberei, Vielmännerei und Einzelehe. Als aber einmal die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt, fanden sich mehr und mehr Beweise, daß bei unentwickelten Völkern Eheformen bestanden, worin eine Reihe von Männern eine Reihe von Frauen gemeinsam besaßen; und Lubbock (»The origin of Civilisation«, 1870) erkannte diese Gruppenehe (Communal marriage) als geschichtliche Tatsache an.
Gleich darauf, 1871, trat Morgan mit neuem und in vieler Beziehung entscheidendem Material auf. Er hatte sich überzeugt, daß das bei den Irokesen geltende, eigentümliche Verwandtschaftssystem allen Ureinwohnern der Vereinigten Staaten gemeinsam, also über einen ganzen Kontinent verbreitet sei, obwohl es den Verwandtschaftsgraden, wie sie sich aus dem dort geltenden Ehesystem tatsächlich ergeben, direkt widerspricht. Er bewog nun die amerikanische Bundesregierung, auf Grund von ihm selbst aufgesetzter Fragebogen und Tabellen Auskunft über die Verwandtschaftssysteme der übrigen Völker einzuziehn, und fand aus den Antworten, 1. daß das amerikanisch-indianische Verwandtschaftssystem auch in Asien und in etwas modifizierter Form in Afrika und Australien bei zahlreichen Volksstämmen in Geltung sei, 2. daß es sich vollständig erkläre aus einer in Hawaii und andern australischen Inseln eben im Absterben begriffenen Form der Gruppenehe, und 3. daß aber neben dieser Eheform auf denselben Inseln ein Verwandtschaftssystem in Geltung sei, das sich nur durch eine noch urwüchsigere, jetzt ausgestorbne Form der Gruppenehe erklären lasse. Die gesammelten Nachrichten nebst seinen Schlußfolgerungen daraus veröffentlichte er in seinen »Systems of Consanguinity and Affinity«, 1871, und führte damit die Debatte auf ein unendlich umfassenderes Gebiet. Indem er, von den Verwandtschaftssystemen ausgehend, die ihnen entsprechenden Familienformen wiederkonstruierte, eröffnete er einen neuen Forschungsweg und einen weiterreichenden Rückblick in die Vorgeschichte der Menschheit. Erhielt diese Methode Geltung, so war die niedliche Konstruktion McLennans in Dunst aufgelöst.
McLennan verteidigte seine Theorie in der Neuauflage von »Primitive Marriage« (»Studies in Ancient History«, 1876). Während er selbst eine Geschichte der Familie aus lauter Hypothesen äußerst künstlich kombiniert, verlangt er von Lubbock und Morgan nicht nur Beweise für jede ihrer Behauptungen, sondern Beweise von der unanfechtbaren Bündigkeit, wie allein sie in einem schottischen Gerichtshof zugelassen werden. Und das tut[479] derselbe Mann, der aus dem engen Verhältnis zwischen Mutterbruder und Schwestersohn bei den Deutschen (Tacitus, »Germania«, c. 20), aus Cäsars Bericht, daß die Briten je zehn oder zwölf ihre Frauen gemeinsam haben, und aus allen anderen Berichten der alten Schriftsteller über Weibergemeinschaft bei Barbaren ohne Zaudern den Schluß zieht, bei allen diesen Völkern habe Vielmännerei geherrscht! Man meint einen Staatsanwalt zu hören, der sich bei Zurechtmachung seines Falls jede Freiheit erlauben kann, der aber vom Verteidiger für jedes Wort den formellsten juristisch gültigen Beweis beansprucht.
Die Gruppenehe sei eine pure Einbildung, behauptet er und fällt damit weit hinter Bachofen zurück. Die Verwandtschaftssysteme bei Morgan seien bloße Vorschriften gesellschaftlicher Höflichkeit, bewiesen durch die Tatsache, daß die Indianer auch einen Fremden, Weißen, als Bruder oder Vater anreden. Es ist, als wollte man behaupten, die Bezeichnungen Vater, Mutter, Bruder, Schwester seien bloße sinnlose Anredeformen, weil katholische Geistliche und Äbtissinnen ebenfalls mit Vater und Mutter, Mönche und Nonnen, ja selbst Freimaurer und englische Fachvereinsgenossen in solenner Sitzung als Bruder und Schwester angeredet werden. Kurz, McLennans Verteidigung war elend schwach.
Noch aber blieb ein Punkt, wo er nicht gefaßt worden war. Der Gegensatz von exogamen und endogamen »Stämmen«, auf dem sein ganzes System beruhte, war nicht nur unerschüttert, er wurde sogar allgemein als Angelpunkt der gesamten Geschichte der Familie anerkannt. Man gab zu, McLennans Versuch, diesen Gegensatz zu erklären, sei ungenügend und widerspreche den von ihm selbst aufgezählten Tatsachen. Aber der Gegensatz selbst, die Existenz zweier einander ausschließender Arten von selbständigen und unabhängigen Stämmen, wovon die eine Art ihre Weiber innerhalb des Stamms nahm, während dies der andern Art absolut verboten war – dies galt als unbestreitbares Evangelium. Man vergleiche z.B. Giraud-Teulons »Origines de la familie« (1874) und selbst noch Lubbocks »Origin of Civilisation« (4. Auflage, 1882).
An diesem Punkt setzt Morgans Hauptwerk an: »Ancient Society« (1877), das Werk, das der gegenwärtigen Arbeit zugrunde liegt. Was Morgan 1871 nur noch dunkel ahnte, das ist hier mit vollem Bewußtsein entwickelt. Endogamie und Exogamie bilden keinen Gegensatz; exogame »Stämme« sind bis jetzt nirgends nachgewiesen. Aber zur Zeit, wo die Gruppenehe noch herrschte – und sie hat aller Wahrscheinlichkeit nach überall einmal geherrscht –, gliederte sich der Stamm in eine Anzahl von auf Mutterseite blutsverwandten Gruppen, Gentes, innerhalb deren strenges Eheverbot herrschte, so daß die Männer einer Gens ihre Frauen zwar innerhalb des Stammes nehmen konnten und in der Regel nahmen, aber sie außerhalb ihrer Gens nehmen mußten.
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