Der Waldläufer
Karl May
Der Waldläufer
Von
Gabriel Ferry.
Für die Jugend bearbeitet von
Karl May
I
Einleitung
Da, wo der jedem Seefahrer als »Matrosenkirchhof« bekannte Meerbusen von Biskaya sich zwischen Frankreich und der pyrenäischen Halbinsel einschiebt, liegt an der Nordküste der letzteren der kleine spanische Hafen Elanchovi. Pittoresk und imposant zugleich, steigt die Küste terrassenförmig empor, vor den gefräßigen Fluthen des Meeres durch einen aus Quadersteinen errichteten Damm geschützt, von welchem aus man die stufenartig sich erhebenden Felsen ersteigt, um in die eine Straße zu gelangen, welche das Dorf Elanchovi bildet und einer ungeheuren, von der Natur für gigantische Wesen errichteten Treppe gleicht.
Auf der höchsten Spitze des Felsengürtels erhebt sich ein altes Schloß, welches mit seinen Schieferdächern und gothischen Wetterfahnen weit hinaus in die See blickt und dem ebenso alten wie reichen Geschlechte der Mediana gehört.
Schon seit langer Zeit hatten die Grafen von Mediana dieses in so wilder und einsamer Gegend liegende Schloß nicht mehr bewohnt, sondern ihren Aufenthalt vorzugsweise in Madrid gehabt, wo sie von ihren civilen oder militärischen Pflichten in der Nähe des Königs gehalten wurden. Zur Zeit, als die Heere Napoleons Spanien überschwemmten, stand die Familie Mediana auf sechs Augen. Don Juan, der ältere von zwei Brüdern, diente als höherer Offizier in der Armee. Don Antonio, der jüngere Bruder, hatte eine Charge bei der Marine eingenommen, war aber auf einer Expedition nach den spanischen Besitzungen Mittelamerikas spurlos verschwunden, und da auch von seinem Schiffe nicht das Geringste zu vernehmen war, so hatte sich das Gerücht von seinem Tode verbreitet, war jedoch durch keine gewisse und zuverlässige Kunde bestätigt worden.
Die siegreichen Legionen des französischen Imperators rückten von Provinz zu Provinz; der Guerillakrieg entwickelte sich in all seiner leidenschaftlichen Unversöhnlichkeit, und die spanische Regierung sah sich zu den größten Anstrengungen gezwungen, den kühnen Eroberern Einhalt zu thun. Auch Graf Juan von Mediana erhielt die Weisung, mit seinem Kommando am Vertheidigungskampfe theilzunehmen. Ehe er zur Armee abging, brachte er Donna Luisa, seine Frau, und den kleinen Fabian, sein einziges Kind, nach Schloß Elanchovi, wo er Beide wegen der Einsamkeit der Gegend vor jeder Fährlichkeit sicher glaubte, und vertraute sie der besonderen Obhut Don Ramon de Dies, seines Verwalters, an. Er kam nicht mehr zurück, um die beiden Geliebten abzuholen, denn eine französische Kugel streckte ihn in einem der Kämpfe, welche der Schlacht von Burgos vorangingen, zu Boden.
Von jetzt an bewohnte Donna Luisa mit ihrem Lieblinge ganz allein Schloß Elanchovi und trauerte um den Tod des Gatten, den ihr der grausame Tod entrissen hatte. Mit mütterlicher Sorgfalt wachte sie über dem Wohle Fabians, welcher, wie sie nicht anders wußte und glaubte, nun der Letzte und Einzige seines Geschlechtes war.
Die Einwohner des Dorfes sind meist Fischer und während des ganzen Tages abwesend. Daher erscheint Elanchovi auf den ersten Blick unbewohnt und verlassen. Allein zuweilen steigt von den kaminlosen Dächern der Häuser ein Rauch empor, welcher anzeigt, daß die Hausfrauen für die heimkehrenden Gatten und Söhne die Mahlzeit bereiten, und dann erscheint öfters ein Gesicht am kleinen Fenster oder eine weibliche Gestalt im grellfarbigen Rocke und mit lang herabhängenden Zöpfen vor der Thür, um auszuschauen, ob die Erwarteten ihre Kähne nach der Küste gelenkt haben. Das monotone, lautarme Leben auf der Höhe, verbunden mit dem brandenden Getöse der Wogen in der Tiefe giebt Elanchovi einen Anstrich tiefer Melancholie, der durch die Armseligkeit der mit dem Sande und den Stürmen kämpfenden Vegetation eher vermehrt als vermindert wird.
Bei seiner isolirten Lage an der Küste von Biskaya hatte der Hafen von Elanchovi, wie man sich leicht denken kann, eine zahlreiche aus Miqueletes als Küstenwächtern bestehende Besatzung. Diese Milizsoldaten befanden sich nicht in der angenehmsten Lage. Die spanische Regierung bestritt ihnen zwar keineswegs den Sold, vergaß aber beständig, ihnen denselben auszuzahlen. Die nothwendige Folge davon war, daß die Aufmerksamkeit des besseren Theiles von ihnen sich verdoppelte, um durch die Beschlagnahme von Schmuggelgütern sich von Zeit zu Zeit eine Prämie zu verdienen, die weniger skrupulöse Hälfte der Duanen aber mit den Kontrebandisto’s gemeinschaftliche Sache machte, um mit ihnen den Betrag des verbotenen Handwerkes zu theilen. Daher entwickelten Alle, vom Hauptmanne der Karabiniere, Don Lukas Despierto, an bis zum geringsten Offizianten herab, eine unermüdliche Thätigkeit, bei welcher sich ihre heimlichen Interessen feindselig gegenüberstanden und sie alle List und Schlauheit anwenden mußten, einander den Vortheil aus der Hand zu ringen.
Unter diesen Küstenwächtern gab es einen, welcher in Beziehung auf den Schleichhandel eine vollständige Gleichgiltigkeit an den Tag legte; er ging sogar so weit, ganz bestimmt zu behaupten, daß ein Schmuggel hier ganz unmöglich sei und darum auch niemals existirt habe. Man wußte, daß er auf seinem Posten beständig einschlief, und nannte ihn daher nicht anders als den »Schläfer,« ein Name, dem er so viel wie möglich Ehre zu machen suchte.
Er hieß Pepe und war ein Kerl von fünfundzwanzig Jahren, groß, mager, sehnig und überaus stark. Seine schwarzen, tief unter dichten Brauen verborgenen Augen blickten gewöhnlich apathisch in die Welt, doch konnten sie, wenn er sich unbeobachtet wußte, auch Blitze werfen, die man ihnen sonst nicht zugetraut hätte. Seine Züge hatten ein durchaus schläfriges Aussehen, und sein Gang, seine ganze Haltung war diejenige eines Mannes, der am liebsten Gottes Wasser über Gottes Land laufen läßt. Er schien bei allen Anzeichen eines rüstigen Körpers und einer feurigen Seele der gleichgiltigste, phlegmatischste Mensch der Erde zu sein. Beständig in seiner Hängematte liegend, schlief er Tag für Tag zwanzig Stunden und dachte, wenn er erwachte und sich seine Cigarette anbrannte, mit Entzücken daran, daß er bald wieder einschlafen werde.
Man hätte denken sollen, daß sein Vorgesetzter, der Hauptmann Don Lukas Despierto, über diesen Mangel an Pflichteifer höchst erzürnt sein werde; dem war aber nicht so, und das hatte wohl seine guten Gründe. Don Lukas hatte auf seinem Bestallungsdekret wohl ein beträchtliches Gehalt verzeichnet, von demselben aber, gerade wie seine Untergebenen, seit mehreren Jahren nicht die mindeste Spur in seiner Tasche bemerkt, und da sich die Finanzen des Reiches in den allermißlichsten Verhältnissen befanden, so gab es auch keine Hoffnung, jemals Etwas ausgezahlt zu erhalten. Daher philosophirte er folgendermaßen: Beißt den König sein Gewissen nicht, wenn ich trotz meines Amtes verhungere, so beißt mich auch das meinige nicht, wenn ich trotz dieses Amtes zu leben suche. Ich soll an der Küste aufpassen und darben, gut, ich werde meine Augen offen halten und dabei Geld verdienen. Meine Karabiniere dürfen freilich nicht das Mindeste davon merken, sonst könnte ich um die schöne Anstellung kommen, und ein Amt ohne Gehalt ist immerhin besser als gar nichts. Der Gescheideste von allen Miqueletes ist doch dieser brave Pepe. Er verschläft den Hunger und wird sich nie darum kümmern, ob sein Hauptmann Privatgeschäfte macht. Ich kann mich auf ihn oder vielmehr auf seine Schlafsucht vollständig verlassen und werde ihn stets dahin stellen, wo ich keine Augen brauche! – Pepe war damit vollständig einverstanden und gab sich nicht die geringste Mühe, seine dienstliche Befähigung in einem helleren Lichte erscheinen zu lassen. Auch das hatte vielleicht seine guten Gründe.
Eines Abends lehnte er an seiner Thür und lauschte den nimmer ruhenden Stimmen der Natur. Ein dichter Novembernebel lag auf der See und bot im Vereine mit der nächtlichen Dunkelheit dem Auge unüberwindliche Hindernisse dar.
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