Das Große und Schöne, das heldische Leben ist vorüber. So muß es auch sein, wenn ein Volk in Ehren und in Größe seinen Todesstreich empfangen hat, – was danach kommt, darf niemand mehr seinem Leben zurechnen, es ist kein Teil davon ....« Aus seinen Worten klang so viel Jugend und Tapferkeit, daß ich am liebsten seine Hand gepackt und herzhaft geschüttelt hätte.

Die tiefe Ehrlichkeit, mit der er alles erlebte, ansah und überdachte, brachte ihn oft in einen fast drolligen Zorn, wenn wir eins der gutgemeinten und in Massen ins Volk geworfenen Bücher durchliefen, in denen dieser oder jener berühmte Publizist seine Eindrücke an der deutschen Front gesammelt hatte. Die rosa Schminke verdroß ihn, wo er sie sah. »Wenn man doch die Phrase von dem allgemeinen Heldentum der Masse lassen wollte,« sagte er einmal. »Als ob es nicht ebenso gut klänge, wenn man ehrlicher, ruhiger und wahrer von dem Vorherrschen des Sinnes für Pflicht, Gehorsam und Treue im Volk spräche. Helden sind Ausnahmen, sonst brauchte man nicht von ihnen zu reden.« Der Sinn für Schlichtheit saß ihm tief im Blute, Schönfärberei und Phrase war ihm verhaßt.

Diese Scheu vor der Oberflächlichkeit konnte ihn je nach der Umgebung einsilbig machen oder beredt. Und darum schien ihm das Zwiegespräch mit Recht die schönste Unterhaltung; denn kein andres Gespräch vermag so wie dieses ohne Sprunghaftigkeit ruhig in klare Tiefen zu steigen. Manches liebe und nachdenksame Wort in stillen Nachtstunden von junger Menschenhand geschürft, ist mir seither ein Stück von der Habe des Herzens geworden. Keins aber leuchtet heller nach als jenes, mit dem er einmal an der Brustwehr seines Grabens ein nächtliches Gespräch über den Geist des Wandervogels schloß: »Rein bleiben und reif werden – das ist schönste und schwerste Lebenskunst.«

Die Wandervogeljugend und das durch ihren Geist verjüngte Deutschtum und Menschentum lag ihm vielleicht zutiefst von allen Dingen am Herzen, und um diese Liebe kreisten die wärmsten Wellen seines Blutes. Ihm, dem selber Leib und Seele frei und ebenmäßig zu natürlicher Schönheit wuchsen, schien die beste Erziehung zu sein, den jungen Baum leicht und geruhig wachsen zu lassen, sich seines Blühens zu freuen und ihm, wenn's not tat, einmal die Blätter zu waschen. Er verschloß seine Augen nicht vor häßlichen Auswüchsen der großen Jugendbewegung. »Aber«, meinte er, »die meisten Auswüchse kommen von dem sinnlosen Betasten und Beklopfen des jungen Holzes. Ein eingeschnürtes Stämmchen muß unnatürlich wuchern, auch wo es nicht will. Rührte man nicht immer und immer mit knöchernem Finger an das Feinste und Beste der werdenden Seele, an ihre Unbefangenheit, so würde ihr schönster Schmelz, die Bescheidenheit, nicht so oft zerstäuben. Wer die Kampflust der Jugend reizt, macht sie hochmütig und laut, und wer sie ungeschickt anfaßt, der macht sie häßlich. Natürliche Jugend ist immer bescheiden und gütig und dankbar für herzliches Gewähren, aber wer sich, ohne Ehrerbietung wecken zu können, ans Erziehen macht, soll sich nicht wundern, wenn er Frechheit und Grausamkeit weckt.«

Den Kampf der deutschen Jugend um das gute Recht ihres natürlichen Wachstums verfolgte er mit der gleichen inneren Leidenschaft wie das Ringen der Völker, das ihn nun seit Monaten in seinem Strudel umtrieb. Von seinem Leutnantsgehalt schickte er fleißig an die Wandervögel daheim auf Schule und Hochschule. »Denn die Kriegskassen der Jugend muß man füllen helfen,« lachte er. Und kamen dann Briefe mit ungelenken Buchstaben und schrägen, drängenden Zeilen, oder es kamen die gelben Hefte des »Wandervogels« mit ihren schwarzen Schattenbildern und bunten Fahrtenbriefen, dann trat ihm beim Lesen die Seele in die Augen. Auch seinen Geschwistern schickte er Geld »zum Wandern«, und immer wieder zog seine Seele, frohherzig lauschend, dem fernen Klang der unter einem Wirbel von Liedern wandernden Jugend nach. Er schaute lächelnd dem Kahne nach, der seine Geschwister mit ihrem gastfreundlichen Pfarrherrn durch den rosigen Abendfrieden der schimmernden Seebreite trug, und lachte sein leises, gutes Schelmenlachen, wenn die Posaune des Pfarrherrn sich vor den gläubigen, jungen Augen zur Seele des zarten Abendfriedens machte, einer gewaltigen Seele, die ihren leichten Körper dröhnen und beben machte.

Es kamen auch andere Briefe, die ihn still und einsilbig machten und ihm das Warten und Lauern hinter dem Drahtzaun zur Qual werden ließen. In Flandern und Galizien legten fremde Hände seine besten Fahrtgesellen ins Grab. »Ich habe so viele gute Freunde zu rächen –« stieß er einmal ingrimmig hervor. »Rächen –?« fragte ich. »Würden Sie selber gerächt sein wollen?« Er sah nachdenklich mit zusammengezogenen Brauen zu den russischen Gräben hinüber und antwortete langsam und vor innerer Bewegung an den Worten zerrend: »Nein. Ich nicht. Aber die Freunde ...« Ich nicht, aber die Freunde – da reckte sich Mensch neben Mensch in einem engen Herzen auf. Ich stand neben ihm und schwieg. Nach einer Weile schob er seinen Arm in meinen und sprach, indem er mir nah und fest ins Auge sah:

 

»Der Stahl, den Mutters Mund geküßt,

Liegt still und blank zur Seite.

Stromüber gleißt, waldüber grüßt,

Feldüber lockt die Weite! –

 

Das ist doch schön, nicht wahr, mein Freund!« Und so machte sein junges Herz die heiße Eisenprobe auf das, woran es als gut und schön glaubte. Und zugleich gab es Dank und Freundschaft an ein anderes Herz, das ihm brüderlich nahe war ....

Seine Freundschaft ließ er mehr spüren, als daß er sie aussprach.